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Das Parlament der Körper

Andreas Angelidakis, Polemos, Installation, 2017, Maße variabel

Foto: Nils Klinger

Öffentliche Programme

Das Parlament der Körper

Die Öffentlichen Programme der documenta 14 – das Parlament der Körper – sind entstanden aus den Erfahrungen des sogenannten „langen Sommers der Migration“ in Europa, der nicht nur ein Versagen der repräsentativen demokratischen Institutionen der Moderne, sondern auch ein Versagen ethischer Praktiken der Gastfreundschaft offenbarte. Das Parlament lag in Trümmern. Das wahre Parlament jedoch kam auf der Straße zusammen, als Versammlung der nicht-repräsentierten Körper ohne Papiere, die sich Sparmaßnahmen und fremdenfeindlicher Politik widersetzten.

Das Parlament der Körper wendet sich gegen die Individualisierung von Körpern ebenso wie gegen ihre Verwandlung in eine Masse und genauso gegen die Verwandlung der Öffentlichkeit in ein Marketingziel. Wider wesenhafte Ursprünge, wider verdinglichte Grenzen und Identitätspolitiken eröffnet das Parlament der Körper einen Raum für kulturellen Aktivismus, er findet neue Affekte und schmiedet synthetische Bündnisse zwischen dem weltweiten Kampf für Souveränität, dem Kampf um Anerkennung und dem Kampf ums Überleben. In Anlehnung an mikropolitische Selbstorganisationen, gemeinschaftliche Praktiken und künstlerische Experimente ist das Parlament der Körper ein kritischer Apparat, der sowohl die Ruinen demokratischer Institutionen als auch die traditionellen Formate von Ausstellungen und öffentlichen Programmen queeren wird. Es bringt Künstler_innen, Aktivist_innen, Theoretiker_innen, Performer_innen, Kinder, Arbeiter_innen, Migrant_innen und viele andere Agent_ innen zusammen, um gemeinsam und als Kollektiv an den Bedingungen für einen radikalen Wandel der Öffentlichkeit und an einer Vielzahl neuer Formen von Subjektivität zu arbeiten. Das Parlament der Körper ist weder eine Bank noch eine Datensammlung, weder „Volk“ noch Konzern.… Mehr

Baubeginn des Parlaments der Körper in Athen war sieben Monate vor Ausstellungseröffnung. Es begann im September 2016 mit 34 Freiheitsübungen im Städtischen Kunstzentrum Athen im Parko Eleftherias. Seit September 2016 konstituierte sich das Parlament durch die Bildung von sechs Offene-Form-Gesellschaften: der Noosphärischen Gesellschaft (koordiniert mit Angelo Plessas), die alternative Bewusstseinstechnologien untersucht; der Apatride Gesellschaft des politischen Anderen (koordiniert mit Nelli Kambouri, Margarita Tsomou und Max Jorge Hinderer Cruz), die antikoloniale Diskurse und Praktiken, die weltweite Migration und den aktuellen Wandel des Nationalstaates in den Blick nimmt; der Gesellschaft der Freund_innen von Sotiria Bellou, die sich dem starken Anwachsen von queerer und transfeministischer Politik und dem Schreiben einer kritischen queeren Genealogie des Südens widmet (entwickelt mit dem AMOQA, Athens Museum of Queer Arts); der Gesellschaft für das Ende der Nekropolitik (koordiniert mit Georgia Sagri), die nach Wegen und Möglichkeiten sucht, die Todestechnologien kapitalistischer Kolonialgeschichte zu verstehen und ihnen entgegenzuwirken; der Gesellschaft der Freund_innen von Ulises Carrión (koordiniert mit Arnisa Zeqo), die ausgehend von den Taktiken des mexikanischen Künstlers kulturelle Strategien und Praktiken nicht-institutionalisierter Kunst untersucht; und der Kooperativistischen Gesellschaft (koordiniert mit Emanuele Braga und Enric Duran), die sich mit den Themen Kreislaufwirtschaft, „communing“ und der Bildung von Künstler_innen-kooperativen auseinandersetzt.

Die Offene-Form-Gesellschaften orientieren sich am Modell der 1788 in Frankreich gegründeten Société des amis des noirs (Gesellschaft der Freunde der Schwarzen), die sich für die Abschaffung des Sklavenhandels und den Aufbau sozialer und freundschaftlicher Bande zwischen Bürger_innen und rechtlich und politisch ungleich Gestellten einsetzte. Sie verfolgte ihre Ziele mit Nachdruck, schrieb und veröffentlichte Bücher, Drucke, Plakate und Flugblätter zur Abschaffung der Sklaverei und organisierte öffentliche Vortragsreihen und Theateraufführungen in ganz Europa. Im Herzen von Kolonialreichen fungierten Gesellschaften zur Abschaffung der Sklaverei als ein gegenkulturelles öffentliches Programm, um die epistemologische, diskursive, politische und dichterisch-fantasievolle Alternative zum Kolonialregime zu entwickeln. Ähnlich haben die Offene-Form-Gesellschaften des Parlaments der Körper zum Ziel, als Herzstück des Ausstellungsapparats innerhalb einer komplexen, globalen, neoliberalen Ökonomie im Kontext wachsender neokolonialer und neofaschistischer Diskurse zu agieren. Die Behandlung, die Griechenland seit Beginn des neuen Jahrhunderts widerfährt, kündigte bereits den aktuellen Wandel globaler westlicher Politik an.

Seit Januar 2007 besteht ein wechselseitiger Austausch zwischen diesen einzelnen Gesellschaften, der Reibung und einen Dialog zwischen den verschiedenen Sprachen und Praktiken erzeugt. Drei Wochen nach der Eröffnung der Ausstellung in Athen versammelte sich das Parlament der Körper erstmals in Kassel, wo es zu einer antifaschistischen, transfeministischen und antirassistischen Koalition aufrief. Es griff W. E. B. Du Bois’ Frage „Wie fühlt es sich an, ein Problem zu sein?“ als mögliche Interpellation auf, die sich heute unter Berücksichtigung des von dem afrikanischen Philosophen Achille Mbembe als das „Schwarzwerden der Welt“ bezeichneten Prozesses an die „99 Prozent“ des Planeten wendet.

Bei dieser Veranstaltung trafen die Athener Gesellschaften des Parlaments auf die Gesellschaft der Freund_innen von Halit, die erste Gesellschaft des Kasseler Parlaments, die sich gegen institutionalisierte Formen von Rassismus wendet und nach dem 2006 in Kassel von Neonazis ermordeten Halit Yozgat benannt ist. Im Juni 2017 werden weitere neue Gesellschaften gegründet werden, darunter die Gesellschaft der Freunde von Lorenza Böttner, die nach dem mit Mund und Füßen zeichnenden Maler und Performer Lorenza benannt ist. Sie wird sich für körperliche und neurologische Vielfalt und gegen die Unterdrückung von Behinderung einsetzen.

Als Institution im Werden ohne Verfassung bewohnt das Parlament der Körper Orte umstrittener Geschichten, deren Erinnerungen uns zwingen, hegemonische und romantisch verklärte Erzählungen des demokratischen Europa zu hinterfragen. Sein Sitz in Athen ist das Städtische Kunstzentrum im Parko Eleftherias – ein Gebäude, das während der griechischen Diktatur von 1967 bis 1974 als Hauptquartier der Militärpolizei diente. In Kassel versammelt sich das Parlament der Körper in der Rotunde des Fridericianum. Das unter Friedrich II. erbaute Gebäude wurde 1779 als Bibliothek und eines der ersten öffentlichen Museen in Europa eröffnet. Im Jahr 1810 verwandelte der westfälische König und jüngste Bruder Napoleons, Jérôme Bonaparte, die Rotunde des Fridericianum für kurze Zeit in den ersten Parlamentssaal Deutschlands. In den 1930er Jahren diente das Gebäude auch als Versammlungsort der Nationalsozialistischen Partei, bevor es bei den Bombenangriffen auf Kassel 1941 und 1943 bis auf die Grundmauern niederbrannte. Seit 1955 ist es der symbolträchtigste Ort der documenta.

Während der gesamten Laufzeit der documenta 14 wird das Parlament der Körper mit seinen Gesellschaften als dissonante und zugleich synchrone Praxis der Vielstimmigkeit und Verschiedenartigkeit sowohl in Athen als auch in Kassel aktiv sein. Nomadisch und performativ arbeitet das Parlament der Körper als staatenlose Heterotopie mittels Vervielfachung und Verlagerung und agiert nicht nur innerhalb der Ausstellungsräume, sondern auch innerhalb der städtischen Räume (Theater, Vereine, Ateliers, Plätze ...), die mit neuen Formen von Souveränität jenseits der Norm experimentieren.

Die Offene-Form-Gesellschaften

1787 gründeten elf Freunde die Society for Effecting the Abolition of the Slave Trade (Gesellschaft zur Abschaffung der Sklaverei) in England. Ihr Ziel war es, die Öffentlichkeit darüber zu informieren, wie versklavte Afrikaner_innen in England, in den Kolonien und auf den Plantagen behandelt wurden. Sie plädierten für eine neue Gesetzgebung, die den Sklavenhandel abschaffen und dies auch in Übersee durchsetzen sollte. Darüber hinaus beabsichtigte man, Gebiete in Westafrika auszuweisen, in denen Afrikaner_innen leben konnten, ohne Gefahr zu laufen, gefangen genommen und in die Sklaverei verkauft zu werden. Diese Vorstöße wurden energisch vertreten und vorangetrieben, indem Bücher gegen die Sklaverei geschrieben und veröffentlicht, Drucke, Plakate und Pamphlete in Umlauf gebracht, öffentlich zugängliche Vortragsveranstaltungen ausgerichtet und Schauspiele in englischen Dörfern und Städten zur Aufführung gebracht wurden. Ein Jahr später gründete sich dann in Frankreich die Société des Amis des Noirs (Gesellschaft der Freunde der Schwarzen), die wie ihr englischer Vorläufer verfuhr. Beide Gruppierungen waren als „Gesellschaft von Freunden“ organisiert und beförderten die sozialen und freundschaftlichen Bande zwischen jenen, die rechtlich und politisch als Ungleiche betrachtet wurden. Zwei Jahre später, 1791, entwickelte sich der Sklav_innenaufstand in der Kolonie Saint-Domingue auf der Karibikinsel Hispaniola zur ersten großen Revolution der Antisklaverei. Indem sie als Kulisse für die Sklav_innenrevolten in den Kolonialreichen dienten, fungierten die Gesellschaften als gegenkulturelle öffentliche Programme, die dazu beitrugen, eine epistemologische, diskursive, politische und poetische Vorstellungswelt zu schaffen, die sich von derjenigen der kolonialen Regime unterschied.… Mehr

Revolution hebt mit Lesen und Schreiben an. Revolution beginnt mit Theater und öffentlichen Reden. Revolution entsteht bei Debatten und im Austausch. Am Anfang der Revolution steht die Freundschaft.

Innerhalb des Kontextes vom „integrierten Weltkapitalismus“ des 21. Jahrhunderts unterstützen die Öffentlichen Programme der documenta 14 in Zusammenarbeit mit der Hochschule der Bildenden Künste in Athen die Bildung einer Reihe von Gesellschaften, die sich die Transformation der politischen Vorstellungskraft zum Ziel setzen.

Inspiriert von einer Methode der „Offenen Form“, wie sie der Künstler und Architekt Oskar Hansen entworfen hat, und zugleich angeregt von potenziellen spontanen Treffen, die sowohl gesellschaftlichen als auch politischen Wandel in Gang bringen, funktionieren die Offene-Form-Gesellschaften wie selbstlernende, selbstorganisierende Mikroöffentlichkeiten, die ihre eigenen Aktivitäten entwickeln.

Das Städtische Kunstzentrum im Parko Eleftherias wird die Mehrzahl der Gesellschaften in Athen beherbergen, wenngleich sie in der Stadt frei agieren und auch andere Orte kontaminieren können, angefangen bei der Prevelakis Hall im Polytechnion bis hin zu Archiven, Cafés und Kinos oder anderen unerforschten Stadtgebieten. Die Gesellschaften entwickeln ihre Aktivitäten von Oktober 2016 bis zur Eröffnung der Ausstellung in Athen im April 2017. Im Zuge dessen werden sie sich kontinuierlich zur Infrastruktur dieser Ausstellung herausbilden.

Die Gesellschaften treffen mindestens einmal im Monat im Rahmen diverser Aktivitäten zusammen: Seminare, Filmvorführungen, Workshops, Rundgänge, Lesungen sowie Interventionen von Künstlerinnen und Künstlern. Alle Aktivitäten der Gesellschaften sind für die Öffentlichkeit frei und unentgeltlich zugänglich. Jeder kann in den jeweiligen Gesellschaften Mitglied werden. Die Mitglieder teilen Wissen und Praktiken (Bibliografien, Referenzen und Archive) und entscheiden über die zukünftigen Veranstaltungen der jeweiligen Gesellschaft. Es ist jedoch nicht notwendig, Mitglied einer Gesellschaft zu sein, um an ihren Veranstaltungen teilnehmen zu können.

Jede Gesellschaft bestimmt ihre zeitliche Vorgehensweise selbst, ebenso die Formen, die ihre Aktionen annehmen. Für eine Gesellschaft gibt es keine fest gefügte Ontologie. Eine Gesellschaft ist Ergebnis ihrer eigenen performativen Praxis. Demnach ist es einer Gesellschaft auch gestattet, sich zu wandeln – gemäß ihren Mitgliedern, ihren Aktionen oder ihren Bündnissen mit anderen Kollektiven oder Gesellschaften. Im Laufe der Zeit können zusätzliche Gesellschaften entstehen, oder Gesellschaften können sich zusammenschließen und eine andere Hybridinstitution bilden.

Mutierend und performativ konstituieren die Gesellschaften gemeinsam die Affektseele des im Werden begriffenen Parlaments der Körper.


Sechs Gesellschaften wird das Städtische Kunstzentrum im Parko Eleftherias beherbergen:

Ab Oktober 2016:
die Apatride-Gesellschaft des politischen Anderen (koordiniert von Max Jorge Hinderer Cruz, Nelli Kambouri und Margarita Tsomou);
die Gesellschaft für das Ende der Nekropolitik (koordiniert von Paul B. Preciado);
die Noosphärische Gesellschaft (koordiniert von Angelo Plessas)

Ab Dezember 2016:
die Gesellschaft der Freund_innen von Sotiria Bellou (koordiniert von Paul B. Preciado in Zusammenarbeit mit AMOQA – Athens Museum of Queer Arts);
die Gesellschaft der Freund_innen von Ulises Carrión (koordiniert von Arnisa Zeqo in Zusammenarbeit mit Pierre Bal-Blanc und Hendrik Folkerts)

Ab Januar 2017:
die Gesellschaft für kollektive Halluzination (koordiniert von Hila Peleg und Ben Russell)

Die Gesellschaft für das Ende der Nekropolitik

Zu Beginn dieses Jahrhunderts entwickelte der afrikanische Denker Achille Mbembe eine dringliche dekolonialistische Kritik an Michel Foucaults Konzept der „Gouvernementalität“, dem Prozess also, durch…

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Öffentliche Programme

Die Apatride-Gesellschaft des politischen Anderen

Die Apatride-Gesellschaft des politischen Anderen:
Integrierter Weltkapitalismus und der Ithageneia-Zustand

Koordiniert von Max Jorge Hinderer Cruz, Nelli Kambouri und Margarita Tsomou

Auf Griechisch benutzt…

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Öffentliche Programme

Die Noosphärische Gesellschaft

Die Noosphärische Gesellschaft:
Rituale und Versuche, das Bewusstsein zu verändern

Koordiniert von Angelo Plessas

„Da wir Wissen und Weisheit aus der Cybersphäre ziehen, werden wir uns irgendwann in…

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Öffentliche Programme

Die Gesellschaft der Freund_innen von Ulises Carrión

Koordiniert von Arnisa Zeqo

Je m’appelle Ulises
et toi comment t’appelles-tu?

Die Gesellschaft der Freund_innen von Ulises Carrión macht das Werk und die Taktiken des mexikanischen Künstlers Ulises…

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Öffentliche Programme

Die Kooperativistische Gesellschaft

Die Welt braucht Kooperation. Die Krise der letzten zehn Jahre war eine Vertrauenskrise: Schulden, Kredite, Finanzderivate – Mittel, mit denen das Kapital im Neoliberalismus politische Kontrolle herstellt…

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Öffentliche Programme

Die Gesellschaft der Freund_innen von Halit

Koordiniert von Ayse Gülec, Initiative 6. April und Kassel postkolonial

Am 6. April 2006 wurde der 21-jährige Halit Yozgat im familienbetriebenen Internetcafé in der Holländischen Straße der Kasseler…

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Öffentliche Programme

34 Freiheitsübungen

Wir laden Sie ein, im September 2016 Teil des Parlaments der Körper zu werden, einer öffentlichen Veranstaltung der documenta 14 im Städtischen Kunstzentrum Athen im Parko Eleftherias. Was in dieser Zeit hier stattfindet, ist weder eine Konferenz, noch eine Ausstellung.

Wir vermeiden gewohnte museologische Bezeichnungen, die Unterschiede zwischen Gespräch und Performance, Theorie und Handeln, Kritik und Kunst festlegen. Stattdessen laden wir 45 Mitwirkende ein, ihre Freiheit in einem Gebäude auszuüben, welches vor nicht allzu langer Zeit, in den Jahren der griechischen Diktatur, Hauptquartier der Militärpolizei war. Mit Foucault verstehen wir Freiheit weder als persönlichen Besitz, noch als Naturrecht, sondern als eine Form des Handelns. Wir treiben durch die Geschichte. Da ist ein Raum. Da sind ein paar Körper. Da sind einige Stimmen. Aber was heißt es, hier und jetzt beisammen zu sein? Was können wir tun? Wer und was zeigt sich? Welche Stimmen kann man hören, und welche bleiben stumm? Wie lässt sich Öffentlichkeit anders gestalten?… Mehr

Im Parlament der Körper finden Sie weder Stühle, noch eine feste Architektur. Wir wollen die Setzung des Publikums als ästhetische Besucher_innen oder neoliberale Konsument_innen vermeiden. Wir haben die Demokratiefiktion des amphitheatralen Halbkreises verworfen. Mit dem Architekten Oskar Hansen berufen wir uns auf das politische Potenzial der „offenen Form“. Die formbare Architektur von Andreas Angelidakis aus 68 Ruinenblöcken (Ruinen eines demokratischen Parlaments?) lässt sich in unendlichen Variationen zusammensetzen und immer wieder umbauen. Sie schafft vielfältige Übergangsräume für das Parlament der Körper. Tag für Tag sind Sie eingeladen, an diesem politischen Theater mitzubauen und in ihm Ort, Hierarchie, Sichtbarkeit, Maßstäbe usw. infrage zu stellen.

Diese 34 Freiheitsübungen sollen eine queere antikoloniale Symphonie Europas seit den 1960er Jahren ergeben, mit Dialogrollen und Auftritten für die dissidenten, heterogenen, ungehörten Erzählungen. Zunächst verknüpfen wir die linksradikale Tradition mit dem antikolonialen Selbstbestimmungskampf indigener Bewegungen in Europa. Die Stimme von Antonio Negri – Mitbegründer der Gruppe Potere Operaio (Arbeitermacht) im Jahr 1969 und Mitglied der italienischen Autonomia Operaia – trifft auf die von Niillas Somby, der im Norden Norwegens für die Selbstbestimmung der Sámi kämpft. Beiden wurde in den 1970er Jahren Terrorismus der einen oder anderen Art vorgeworfen.

Wir verzichten auf die gewohnte Gegenüberstellung von Diktatur und Demokratie, um so das Versagen der Demokratisierung unter dem Regime des Neoliberalismus besser zu verstehen – am Beispiel Griechenlands, aber auch Spaniens, Argentiniens oder Chiles: Wie kam es, dass der freie Markt mit der Freiheit verwechselt wurde? Zwar gelten die 1980er Jahre als eine Zeit des Niedergangs für gesellschaftliche Emanzipationsbewegungen, in der ein neuer demokratischer Konsens auf kapitalistischer Grundlage ideologische Gegensätze durch Wirtschaftswachstum ersetzte. Doch tatsächlich konnten antikoloniale, feministische, homo- und transsexuelle Initiativen sowie Aids-Aufklärungskampagnen gerade in dieser Zeit die Brüche im hegemonialen westlichen Diskurs herausarbeiten. Wäre es möglich, daran anknüpfend eleftheria (Freiheit) wider die kapitalistische Idee der Freiheit zu denken? Zunehmend greifen wir im Lauf der zehn Tage zeitgenössische Sprachen des Widerstands auf – die kurdische Revolution in Rojava, die Stimmen von queeren, transgeschlechtlichen oder anderen Sexarbeiter_innen sowie von Migrant_innen in der Türkei, in Griechenland, Mexiko oder Brasilien, die zeitgenössischen indigenen Kämpfe für Landrückgaben, die neuen politischen und künstlerischen Ansätze zur Erfindung anderer Formen von Affekt, Wissen und politischer Subjektivität, beispielsweise Ökosex, Queer-Indigenismus oder radikale Performativität. Insgesamt entsteht eine ganz andere politische und poetische Landkarte Europas als jene, die wir von der Europäischen Union kennen.

#0 Einführung

von Adam Szymczyk, Paul B. Preciado und Andreas Angelidakis
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#1

von Linnea Dick

Linnea Dick ist die Tochter von Pamela Bevan und Beau Dick. Sie führt den Kwakwaka'wakw-Namen Malidi mit der Bedeutung „immer einen Sinn und Weg im Leben finden“. Ihre Vorfahren sind Kwakwaka'wakw…

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#2

von Antonio Negri

Antonio Negri ist Professor für Staatstheorie an der Universität Padua. Er wirkte aktiv an den Debatten und Kämpfen linksradikaler italienischer Arbeiter_innen in den 1960er und 1970er Jahren mit und…

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#3

von Niillas Somby

Niillas Somby ist ein Streiter für die Selbstbestimmung der Sámi, Journalist, Videograf und Fotograf. Er war einer von sieben Hungerstreikenden im Zuge der Alta-Kontroverse (1982) und verlor bei einer…

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#4 Educación cívica / Civic Education (Staatsbürgerkunde)

von Sergio Zevallos

Educación cívica (Staatsbürgerkunde) versucht, in Anlehnung an Bodybuilding-Übungen soziale Koexistenz von Körpern zu „trainieren“. Wir sind alle Zivilist_innen: Sogar Soldat_innen besitzen eine…

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#5 Freedom as Market Value. Freedom as Practice of Resistance

von Judith Revel

Was bedeutet frei sein heute, da sämtliche Anforderungen des Marktes offenbar auf die Notwendigkeit hinauslaufen, freie, kreative, autonome, aufwärtsstrebende Individuen hervorzubringen? Worin besteht…

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#6 Memory under Construction: Towards a Public Memory of Torture in Greece

von Kostis Kornetis

Nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch von 2001 entwickelte sich in Argentinien ein körperpolitisch geprägter Diskurs, der vehement zur Auseinandersetzung mit der schmerzvollen diktatorischen Geschichte…

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#7 Your Neighbor’s Son: The Making of a Torturer

Your Neighbor’s Son: The Making of a Torturer (Deines Nachbarn Sohn: Erziehung eines Folterers), Jørgen Flindt Pedersen und Erik Stephensen, Dänemark 1981, 52 Min.
Filmvorführung

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#8 This is not the Place. Four Visits to Villa Grimaldi: A Chilean Center for Torture and Detention

von Diana Taylor

In den vergangenen zehn Jahren hat Diana Taylor die berüchtigte Villa Grimaldi in Chile gemeinsam mit Überlebenden der Folter, aber auch alleine mit einer Audio-Führung besucht. Was bedeutet es, sich…

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#9 Between Terror and Revelry. Collective Strategies of Resistance during Dictatorships in Argentina and Brazil

von Ana Longoni

Die Diktaturen Brasiliens (1964–1985) und Argentiniens (1976–1983) waren Teil der Operación Condor – einer rechtswidrigen, zwischen mehreren lateinamerikanischen Regimes abgestimmten Unterdrückung…

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#10 DJ set

von Lies van Born
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#11 Torture and Freedom Tour of Athens

von Vangelis Karamanolakis, Tasos Sakellaropoulos, Kostis Karpozilos und Katerina Labrinou

(Athenrundgang zu Folter und Freiheit)

Ein gemeinsamer Rundgang durch die Athener Innenstadt in Zusammenarbeit mit dem Archiv für Zeitgenössische und Soziale Geschichte (ASKI) sucht nach den historischen…

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#12 The Chronicle of the Dictatorship (1967–74)

von Pantelis Voulgaris

The Chronicle of the Dictatorship (1967–74) (Chronik der Diktatur, 1967–1974), Pantelis Voulgaris, Griechenland, 37 min.
Filmvorführung

Εpitaph for Democracy (Grabinschrift für die Demokratie)
(21:30–23:00…

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#13 Epitafios II

von Angela Brouskou – Theatro Domatiou und MiniMaximum ImproVision

Epitafios II ist ein Gemeinschaftsprojekt von Berufsschauspieler_innen, Musiker_innen, Studierenden, Performer_innen und dem Publikum. Ein Teppich aus Objekten und menschlichen Körpern bedeckt den Boden…

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#14 Ojo de gusano: Don’t Look Down

von Regina José Galindo

Cayeron en Guatemala
Cayeron en Honduras
Cayeron en Nicaragua
Cayeron en El Salvador
Cayeron en Panamá
Cayeron en Venezuela
Cayeron en Perú
Cayeron en Colombia
Cayeron en Uruguay
Cayeron en Paraguay
Cayeron en…

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#15 Chronotopes / Dystopic Geometries / Terrifying Geographies

von Νeni Panourgia

Michail Bachtin zufolge bindet der Chronotopos die zeitlichen und räumlichen Bezüge einer Erzählung an den ideologischen und politischen Kontext, aus dem sie hervorgegangen sind. Dadurch erst erhält…

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#16 Lingua Tertii Imperii

von Daniel García Andújar

Demokratie ist zu einer Frage der Ästhetik geworden, die Bühne der Öffentlichkeit nunmehr eine Art inszeniertes Videospiel oder eine Operette mit einigen wenigen einstudierten Rollen. Diese Operette…

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#17 Red Star, Crescent Moon / after Sohail Daulatzai

von Naeem Mohaiemen

In Black Star, Crescent Moon (Schwarzer Stern, Halbmond, 2012) schildert der Forscher Sohail Daulatzai schwarzen Internationalismus seit den 1950er Jahren als eine Geschichte von Überschneidungen mit…

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#18 Soundscapes of Detention: Music and Torture under the Junta (1967–74)

von Anna Papaeti

Obwohl die Folter in der Zeit der griechischen Militärherrschaft (1967–1974) eingehend untersucht wurde, obwohl sie auch in wichtigen Gerichtsverhandlungen in Straßburg (1968–1969) und in Griechenland…

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#19 Attempt. Come.

von Georgia Sagri

(Versuch es. Komm.)

Versuch es.
Komm.
Unbestimmt.
Sei der Nichtbezugspunkt.
Stetig,
und als Zustand der Entstehung.
Spiel.
Spiel weiter mit dem Takt.
Vibrier mit mir, lass das Chaos ein.
Es ist eine Einladung.
Komm.
Als…

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#20 Transgressive Listening

von Stathis Gourgouris

Stathis Gourgouris ist Professor am Institute for Comparative Literature and Society der Columbia University, New York. Er ist Autor von Synaesthetics of the Polity (erscheint 2018), The Perils of the…

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#21 Outlawed Social Life

von Candice Hopkins

U'mista bedeutet in der Sprache Kwak'wala die Wiederkehr von etwas oder jemandem, der, die oder das als verloren oder geraubt galt. In Alert Bay und Cape Mudge haben First Nations-Gemeinden entlang der…

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#22 I Owe You Everything

von Clémentine Deliss und Chief Robert Joseph

Das Projekt I Owe You Everything lädt zeitgenössische Denker_innen, Dichter_innen und Aktivist_innen dazu ein, einen öffentlichen „Akt des Schenkens“ als kritisch-poetisches Ritual zu gestalten…

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#23 Interior Effects as an Outcome of War

von Bonita Ely

Wir laden Sie ein, in diesem Workshop mit der Künstlerin Bonita Ely über die anhaltenden, von einer Generation zur nächsten weitergegebenen Folgen nicht erkannter, unbehandelter posttraumatischer Belastungsstörungen…

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#24 They Glow in the Dark

von Panayotis Evangelidis

They Glow in the Dark, Panayotis Evangelidis, Griechenland, 2013, 69 Min.
Filmvorführung und Diskussion mit Regisseur Panayotis Evangelidis…

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#25 An Evening with Annie Sprinkle and Beth Stephens and Wet Dreams Water Ritual

Eine Einladung, die Freuden und Gefahren des Wassers mitzuerleben. In Zusammenarbeit mit Künstler_innen, Aktivist_innen, Musiker_innen, Sexarbeiter_innen, Flüchtlingen sowie anderen Menschen und Nicht-Menschen.

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#26 The Waltz of the Dirty Streets

von Adespotes Skyles

Diese Performance ist durch all jene beeinflusst, die zu einem Zeitpunkt, an einem Ort, auf irgendeine Art und Weise auf das, was sie herabgesetzt hat, mit tausdenden von Fragen reagiert haben. Durch all…

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#27 Decolonizing Memory: Vita Futurities in the Americas

von Macarena Gómez-Barris

In diesem Vortrag stellt Gómez-Barris die Frage, wie wir unsere Erinnerung entkolonisieren und alternative, antikapitalistische Lebensentwürfe zur Geltung bringen können. Insbesondere geht es ihr um…

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#28 Rojava is a Women’s Revolution: Jineology as Women’s Science

von Hawzhin Azeez

Die Revolution in Rojava im westlichen Kurdistan ist unter linken Gruppen und Organisationen international beliebt. Trotz des immensen sozialpolitischen Nutzens und der kolossalen, grundlegenden Veränderungen…

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#29 Trans*: Bodies and Power in the Age of Transgenderism

von Jack Halberstam

Halberstams neuste Forschung beschäftigt sich mit der exponentiellen Ausweitung der öffentlichen Diskussion um Transgeschlechtlichkeit im vergangenen Jahrzehnt in den USA und Europa. In seinem Buch Trans*…

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#30 #Direnayol (#Resistayol)

von Rüzgâr Buşki

#Direnayol (#Resistayol), Dokumentarfilm von Rüzgâr Buşki, Türkei, 2016, 60 Min.
Filmpremiere

In Istanbul trifft sich eine Gruppe von Freunden, um einen Film über die türkische Trans- und Sexarbeiter-Aktivistin…

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#31 Voices of Trans and Queer Politics in the Mediterranean

mit Rüzgâr Buşki, Gizem Oruç, Şevval Kılıç, Margarita Tsomou, Maria Mitsopoulou aka Maria F. Dolores, Anna Apostolelli und Tina Voreadi

Stimmen der Transgender- und Queer-Politik im Mittelmeerraum, mit:

Rüzgâr Buşki, Multimedia-Künstler und Produzent, Mitglied von Kanka Productions
Gizem Oruç, Musikerin, Produzentin und Multimedia-Künstlerin…

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#32 Queer Indie Gig, HTH Green to Blue Shock Treatment

von Prasini Lesvia

Prasini Lesvia ist ein queeres Musikprojekt, das von Alkis Papastathopoulos ins Leben gerufen wurde. Dieser nicht-radikale Einfall kam Ende 2012 als ein Zwang zur Mitteilung von Herzschmerz auf, außerdem…

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#33 DJ set

von Gizem Oruç

Gizem Oruç (aka 6zm) ist Musikerin, Produzentin und Multimedia-Künstlerin. Sie hat einen Master-Abschluss in Chemie an der Boğaziçi-Universität erworben und begann danach, an der Technischen Universität…

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#34 The Epic of Eleftheria

von Irena Haiduk und Eirini Vakalopoulou

Im Osten und Fernen Osten, im Süden und im tiefen Süden, jenseits des Nordens und im fernen, tiefen Westen ist Geschichte hauptsächlich eine mündliche Kulturtechnik. Die Dichterin ist Zeugin. Sie hält…

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