Studio 14

Giulia Piscitelli, Ritratto dell’evangelista san Matteo (Porträt des Evangelisten San Matthäus, 2016), Goldblatt auf Papier, 139 × 96,5 cm

Studio 14 ist ein Recherche- und Arbeitsraum, der von einer Vielfalt verschiedener Akteur_innen bespielt wird. Diese Akteur_innen arbeiten an der Herstellung einer bestimmten Konfiguration, ein Prozess, der in den Feldern von Kunst, Erziehung und Politik arbeitet und Formen von Wissen in Anspruch nimmt, die dort produziert werden und zirkulieren. Das Projekt nutzt die Institutionen zeitgenössischer Kunst zur Vermessung origineller Öffnungen sowie konfliktreicher Abweichungen. Die Motive der Untersuchung lassen ein weitreichendes Spiel gegenseitigen Austauschs entstehen, das neue Themen und Methoden produziert: es entsteht ein Überschuss verschiedener Wissensformen – jenseits jeglicher unausweichlich stattfindenden Geschichte –, die eine andere, verstörende, lebende Geschichte möglich machen. Zwischen Spuren, Fragmenten und Prognosen gelegentlich unvereinbarer Zeiten sind sie, wenngleich unvereinbar, doch unausweichlich, wollen wir nicht in den Grenzen des gegebenen europäischen Modells eingeschlossen bleiben.

Die Tätigkeiten des Studierens, Hervorbringens und Produzierens generieren Raum für ein erweitertes Verständnis von Autorenschaft, wo, zwischen Nähe und Distanz, Spezialisierungen fortlaufend in die Zonen der Expertisen anderer einbrechen. So entsteht eine Praxis, die Hierarchien zurechtrückt und niederreißt. Hieraus erhebt sich, alles andere als naiv, eine chaotische Anordnung aus formellen und informellen zirkulären Interaktionen zwischen gleichrangingen Kolleg_innen: sie brechen die selbst-referentiellen Verhaltensweisen auf, die von Autorität verleihenden Titeln oder dem vermeintlich professionellen Wert einer Karriere bestimmt werden.

Die Recherche von Motiven entspricht, in der dauerhaften Spannung zwischen formalisierten und offenen Arbeitsweisen, der Recherche von Typen von Aktivitäten, die Studio 14 vorschlägt. Workshops, Debatten, gemeinsame Lektüre, offene Studios und Labore bilden nicht nur die Form ab, die sie reflektieren, vorschlagen und repräsentieren: die Dramaturgie der Recherche entfaltet sich als Möglichkeit, in soziale Erwartungen, Konventionen und Standards einzugreifen. An Genres und Formaten zu arbeiten, diese durch kontinuierliche kollektive Aktion zu multiplizieren und erscheinen zu lassen, sind Werkzeuge, mit denen in die Wirklichkeit eingegriffen wird und somit neue Institutionen der Öffentlichkeit verfügbar gemacht werden.

Studio 14 legt den Fokus auf die Beziehung zwischen Kunst und Publikum, d.h. die Beziehung zwischen Gesellschaft und Kunst, fernab der Obsession einer mehrheitlichen, gelegentlichen, allgemeinen und allgemeingebildeten Öffentlichkeit, die so häufig den Verlust der Vorstellungskraft, Legitimität und Begehren moderner kultureller Institutionen zu verantworten hatte. Die Arbeitsweise des Studios erzeugt einen Raum von Teilnehmenden, die Teil nehmen, Teil sein können: Es kultiviert feindselige, expansive Vorurteile, die die Praktiken anderer zu verändern suchen, weil sie wohldefiniert parteilich sind. Studio 14 bricht den Jargon der Anerkennung auf, erzeugt Widersprüche und Experimente, die auf ihren eigenen begrenzten Prinzipien basieren. Es zersetzt, was zunächst linear erscheint, erzeugt einen nicht-metrischen, politischen Raum, um die Paradoxe und Vieldeutigkeiten der Gegenwart zu bewohnen.

Studio 14 wurde von Yanni Almpanis, Daphni Antoniou, Dimitris Athridis, Paolo Do, Egija Inzule, Loukia Kotronaki, Salvatore Lacagnina, Feodora Pallas, und Adam Przywara initiiert.


Tief im Meer gibt es einen Kugelfisch… Fabeln, Traditionen und andere Hochstapler

Das antike Griechenland, seine Kunst und Philosophie, dionysisch und apollinisch, bildet das Meer, zu welchem westliche Kultur – vom Mittelalter bis zur Gegenwart – zyklisch zurückkehrt, mit wechselnder Absicht und Heftigkeit, um wie ein Tiefseetaucher mysteriöse Kreaturen und Objekte zu bergen. Beinah eine Reise in die entgegengesetzte Richtung führt vom „Zentrum“ immer zur selben „Peripherie“ – einem geliebten und verachteten Ursprung, kontinuierlich der Wiederaneignung und Wiederherstellung ausgesetzt. Es ist das Griechenland Byrons und Coleridges, Ingres', Goethes und Leopardis. Es ist das Griechenland der Ausgrabungen jener Propheten der Moderne, auf der Suche nach ihren eigenen Traditionen: Kunst als historisches Dokument bietet sich zur Fälschung an. Es ist das falsche Labyrinth von Knossos gebaut aus Stahlbeton; es sind die Pläne zur Unterbringung Geflüchteter in Athen, die aus der Türkei vertrieben wurden (Προσφυγικά); es ist die „Mediterrane“ rationalistische Architektur italienischer Kolonialist_innen, die manche Leute noch immer hartnäckig „brava gente“ nennen.

Die Geschichte der heute Griechenland genannten Halbinseln und Inseln, mit ihren in der westlichen Kultur mythologisierten Namen, ist eine Geschichte, die „West“ und „Ost“ überspannt, zwischen der Geburt „Europas“ und der Transformation des Osmanischen Reichs. Eine Geschichte von Besatzungen, von der verschwommenen, vielfältigen, irreduziblen Identität Europas bis zur buchstäblich erfundenen Tradition des modernen Europas. „Das Parthenon war in meinen Augen, auf erhabene Weise, ein Mythos, den ich verachtete: die intellektuelle Klarheit, der geometrische Hochmut, die Unkenntnis vom Magma, von der Unordnung, den Träumen, Dämonen, Alpträumen; ich war konfrontiert mit dem zwanghaften Mythos davon, was Europa werden sollte.“ So warnte Magnanelli, ein abseits Schreibender, der 1971 von seiner ungewöhnlichen Reise durch das magmatische „Schwarzafrika“ nach Athen zurückkehrte.

Eine Identität, die wieder zur Diskussion gebracht wird: von den tausenden Männern und Frauen, die nun erneut jene Küsten erreichen, von verschiedenen Kulturen her, mit verschiedenen Sprachen und widerstrebenden Begehren, die dasselbe Meer überqueren, „phantasievoll konstruiert“ aus der Wechselwirkung der vielen Kulturen, die daran angrenzen. Männer und Frauen, die Goethes Sprache und den von den Fabeln der Gebrüder Grimm überlieferten Volksgeist lernen wollen? Das Meer der Piratenschiffe, der Handelsschiffe, bis hin zu den gigantischen Containerschiffen zeitgenössischer Logistik. Von vielsprachigen Besatzungen geführte Schiffe großer Forschungsexpeditionen, Kolonisationen, und des globalen Marktes, der sich seit dem 17. Jahrhundert immer gleich, immer anders wiederholt, entlang alter und neuer Routen.

Sicherlich haben Meer und Besatzungen noch immer mythische Erinnerungen an das antike Griechenland. Vom Schiff des Theseus, dem Helden, der mit Ariadnes Hilfe durch das Labyrinth fand und den Minotaur tötete, bis zu dem des Odysseus, welchem Dante die Rückkehr in den sicheren Hafen Ithakas verwehrt, dessen „compagnia picciola“ der See trotzte zugunsten einer Liebe für das Wissen, mit Rudern „ali al folle volo“ (Flügel, für eine „letzte irre Fahrt“), dem Tod entgegentretend ohne auch nur versucht zu haben, den Berg des „Fegefeuers“ zu erreichen.

Studio 14 bricht auf, die Uneindeutigkeit dieser Orte, das Reale und das Imaginierte des Raums zu beziehen, und dort Perspektiven der Entfremdung zu inszenieren durch eine gemeinsame Recherche von Künstler_innen, Schriftsteller_innen, politischen Aktivist_innen, Akademiker_innen, Studierenden, und all jenen, die eintauchen wollen „in die Unterwasserwelt der Moderne, nicht mit speziellen Harpunen bewaffnet, nicht ausgerüstet mit doktrinären Brillen, gar ohne eine Sauerstoffflasche, die die Begeisterung für alles Spontane und Ursprüngliche ist, das wir heute atmen“ wie Italo Calvino in seiner Einführung zu Italienische Märchen 1956 schrieb. Wir könnten hinzufügen: ohne Begeisterung zu verbreiten für alternative und abgelegene Lebensformen, die sich nicht mit der Gesellschaft als Fabrik arrangieren. Auch sind wir nicht gewillt, irgendeine Art von Idealisierung zuzulassen, da wir keinerlei Mittel gegen das Bedürfnis nach Übersetzung haben, von Sprache zu Sprache, von konkreten Figuren zu abstrakten Worten, von abstrakten Repräsentationen zu konkreten Erfahrungen. Es ist unmöglich, nicht zu interpretieren, genau wie es unmöglich ist, nicht zu denken. Dies sind einige der Fäden, welche Studio 14 in Präsentationen, Lektüren, Konferenzen, Diskussionen, Filmvorführungen, Feldforschungen und Ortsbegehungen verweben will, um in Denken und Handeln die Gegenwart anzugehen: beginnend im heutigen Griechenland, während Europa – erneut – seine eigene Erfindung Griechenlands in Rechnung stellt.

Mit der Teilnahme von, unter anderen, Yannis Almpanis, Sven Beckert, Iain Chambers, Cathy Gere, Eleni Kyramargiou, Tasos Kostopoulos, Loukia Kotronaki, Giulia Piscitelli, Jon Solomon, selbstorganisierte Fabrik Vio.Me., und verschiedenen Künstler_innen der documenta14.


Weitere Begegnungen, Entwicklungen, Workshops und offene Studios werden in nächster Zeit angekündigt. Bitte schauen Sie hier nach laufend aktualisierten Informationen und konsultieren Sie den documenta 14 Kalender für kommende Veranstaltungen.

Gepostet in Notizen am 04.04.2017
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