Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor

Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor, Palinopsia (Work in Progress), Digitalvideo, Farbe, Ton, Produktionsstills

Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor, somniloquies, 2017, digitales Video, Installationsansicht, Benaki Museum—Annex Pireos-Strasse, Athen, documenta 14, Foto: Yiannis Hadjiaslanis

Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor, Commensal, 2017, Doppelprojektion, Installationsansicht, 
Tofufabrik, Kassel, documenta 14, Foto: Mathias Völzke

Nur wenigen Filmemacher_innen ist es in den letzten Jahren gelungen, formale Innovationen ähnlich nachhaltig mit einer programmatischen Haltung zum Filmschaffen zu verknüpfen, wie Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor. Im Bestreben, die Beziehung zwischen ihren beiden Interessengebieten – Anthropologie und Kino – neu zu definieren, haben die beiden an der Harvard University ein experimentelles Labor beziehungsweise eine experimentelle Schule ins Leben gerufen: das Sensory Ethnography Lab. Die Filme, die dort entstehen, folgen einer dezentrierten, nicht anthropozentrischen Herangehensweise an die visuelle Praxis des bewegten Bildes. Dabei konzentriert sich die Kamera nicht primär auf den Menschen als bevorzugter Akteur und Darsteller der Welt, sondern auf das affektive Beziehungsgewebe zwischen natürlichen Elementen, Tieren, Technologie und unserer physischen Lebenswelt.

Die „nicht narrativen epischen Werke“ von Paravel und Castaing-Taylor verstehen sich als meditative, tranceartige Reisen in die unsichtbaren, fremdartigen Aspekte unserer Umwelt. Sie entdecken uns eine andere Ordnung der Gesetze des Wissens und der filmischen Sprache, eine Ordnung, die weder bedeutungstragend noch hierarchisch ist. So analysiert der Film Leviathan (2012), für den sie ein Fischerboot mit zahlreichen Kameras und anderen Geräten ausstatteten, in schwindelerregender Weise die Beziehung des Menschen zum Meer. Mittels Dezentrierung werden nicht nur mit dem Meer verbundene Mythen wachgerufen, sondern auch drängende zeitgenössische Fragen zur Stellung des Menschen in der Welt und in einer Ökologie der Zukunft aufgeworfen.

Zwei neue Filminstallationen von Paravel, geboren 1971 in Neuchâtel, Schweiz, und Castaing-Taylor, geboren 1966 in Liverpool, erleben bei der documenta 14 ihre Premiere. In Somniloquies (2017) fährt die Kamera über nackte, ungeschützte, schlafende Körper. Die Tonspur gibt die im Schlaf gemachten Äußerungen, nächtlichen Gedankengänge und weitschweifig erzählten Träume des homosexuellen amerikanischen Songwriters Dion McGregor wieder, dessen halluzinatorische, lüsterne und sadistische Träume in den 1960ern über sieben Jahre hinweg von seinem New Yorker Mitbewohner aufgezeichnet wurden. Die zweite Installation beschäftigt sich mit der kontroversen Person des Issei Sagawa, der 1981 traurige Berühmtheit erlangte, als er als Doktorand in Paris eine Kommilitonin ermordete und zum Teil verspeiste. Nach seiner Entlassung aus der Psychiatrie kehrte Sagawa nach Japan zurück, wo er in zahlreichen Dokumentationen und Sexploitationfilmen auftrat. Anders als frühere, journalistische Dokumentationen über Sagawa verzichtet der Film auf moralische Bewertungen und entführt die Betrachter_innen in einen Bereich, der sich einer Etikettierung als „Dokumentation“ beziehungsweise „reiner Fiktion“ entzieht. Stattdessen erforscht er den ambigen Raum zwischen Verbrechen, Fantasie und sozialer Wirklichkeit, zwischen dem Individuum und der Ökonomie seines öffentlichen Images. In Paravels und Castaing-Taylors Filmkunst finden Elemente von Natur und Kultur ihren Ausdruck …

— Hila Peleg

Gepostet in Öffentliche Ausstellung
Auszug aus dem documenta 14: Daybook
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