Romuald Karmakar

Romuald Karmakar, Die Nacht singt ihre Lieder (2003), 35-mm-Film, Farbe, Ton, 95 min, Produktionsstill vom Studio Babelsberg, Potsdam, Deutschland, 2002, Foto: Pantera Film GmbH

Romuald Karmakar, Byzantion, 2017, Digitalvideo, Installationsansicht, Westpavillon (Orangerie), Kassel, documenta 14, Foto: Liz Eve

Der Filmemacher Romuald Karmakar ist geprägt von der Tradition jener Filmkünstler, die den Neuen Deutschen Film der 1960er und 1970er Jahre begründeten. Seine Arbeiten bewegen sich in unterschiedlichen Subgenres – von experimentellen Dokumentarfilmen bis hin zu experimentellen Spielfilmen – und berühren auch andere Disziplinen, wie die darstellenden und bildenden Künste. In seiner künstlerischen Praxis beschäftigt sich Karmakar, 1965 in Wiesbaden geboren, nahezu ausschließlich mit der politischen Geschichte und zeitgenössischen Kultur Deutschlands. Seine unmittelbaren, nicht selten radikal minimalistischen Auseinandersetzungen konfrontieren die Betrachter_innen mit intimen, beunruhigenden Porträts sozialer Milieus voller Wut, Angst und Gewalt.

Karmakars Spielfilme kreisen um Marginalität und Erniedrigung, auch die Frage des Genozids, tief im deutschen Bewusstsein verankert, wird immer wieder aufgegriffen. Seine Dokumentarfilme wiederum befassen sich vornehmlich mit Akten verbaler Gewalt und sparen physische Brutalität aus. Besonders bemerkenswert sind die historiografischen Arbeiten des Künstlers, die den Täter anstelle des Opfers in den Mittelpunkt stellen: Während Warheads (1992) soldatische Kultur am Beispiel von Söldnern und Legionären zeigt, beruht Der Totmacher (1995) auf den Verhörprotokollen des Massenmörders Fritz Haarmann, auch der „Werwolf von Hannover“ genannt. Das Himmler-Projekt (2000) wiederum rekonstruiert eine dreistündige Rede, die der Reichsführer SS 1943 vor Generälen der SS in Posen hielt und die berüchtigt ist für Himmlers unverhohlene Bestätigung und Heroisierung der Vernichtung europäischer Juden. Die detailgenaue Wiedergabe der Rede basiert auf einer Schallplattenaufnahme, während die filmische Inszenierung auf das verbrecherische politische System und seine Legitimationsstrategien zurückgreift. Sprache spielt auch in Karmakars aktuellen Arbeiten eine wichtige Rolle. So stellt Hamburger Lektionen (2006) zwei Ansprachen des Salafistenpredigers Mohammed Fazazi nach, die im Jahr 2000 aufgezeichnet wurden. Die Predigten des Imams wurden regelmäßig von den in Hamburg lebenden 9/11-Attentätern besucht. Fazazis Anprangerung des westlichen Kolonialismus und Imperialismus sowie seine totalitäre, kriegerische Auslegung von Koran und Islam gelten mit als Ursachen für die Radikalisierung der Hamburger Gruppe in Deutschland.

Einzelne Serienmörder oder kollektive Extremisten, Maschinerie des NS-Völkermords und SS-Terror, Biografien deutscher Söldner in Afrika, auf dem Balkan und anderswo in den 1990er Jahren – Romuald Karmakars intime Filmporträts zeichnen die strukturellen und systemischen Verästelungen der soziopolitischen Verhältnisse und historischen Gegebenheiten nach, die solche Milieus begünstigen. Durch den reduzierten Einsatz von Sprache richtet sich die Geschichte an den Betrachter selbst und erzeugt eine direkte Konfrontation mit der inneren Logik radikalen Gedankenguts.

— Hila Peleg

Gepostet in Öffentliche Ausstellung
Auszug aus dem documenta 14: Daybook
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