Miriam Cahn

Miriam Cahn, burkazorn (2010), Öl auf Leinwand, 78 × 46 cm, Foto: Etienne Frossard

Miriam Cahn, Installationsansicht, Benaki Museum—Annex Pireos-Strasse, Athen, documenta 14, Foto: Stathis Mamalakis

Miriam Cahn, KOENNTEICHSEIN, 2015–2017, Installationsansicht, documenta Halle, Kassel, documenta 14, Foto: Roman März

Irritierende Fragen

Ist Miriam Cahn, 1949 geboren in Basel, eine realistische Künstlerin? Was zeigen ihre Zeichnungen, Performances, Filme und Gemälde – und was nicht? Wo liegt der Unterschied zwischen den Erscheinungen der Welt und der Art und Weise, wie wir sie erleben und wahrnehmen? Gibt es eine klare Trennlinie zwischen dem subjektiven und objektiven Bild der uns umgebenden Realität und wenn ja, wo verläuft sie? Welchen Stellenwert hat die Wahl des Bildausschnitts, und ist Abstraktion nicht die einzige Möglichkeit, Betrachtungs- und Erinnerungsprozesse realistisch darzustellen? Was nimmt Miriam Cahn in ihren Blick, und was sieht sie?

Formate/Techniken/Mittel/Einsätze

a) Brachiale, zitternde, unstete Kohlezeichnungen: um die Realität vor unseren Augen darzustellen und kritisch zu beleuchten; Bilderkette, Gedankenflut, die Kakofonie gelebter Zeit; ein Dickicht an Wahrnehmungen, Erinnerungen, Träumen und Ängsten.

b) Schöpferisches Gestalten auf dem Boden, Arbeiten mit geschlossenen Augen, Zeichnen mit dem ganzen Körper, diktiert von biologischen Rhythmen: um das Hintanhalten von Deutungen, den Verzicht auf Kontrolle und sichere Distanz zu ermöglichen. Wahrhafte (weibliche) Präsenz.

c) Filme, die in ihren Bildern – neben dem „Objekt“ – auch das Atmen und Zittern, die Erschöpfung der Filmemacherin wiedergeben.

d) Verstörende, traumähnliche Gemälde voller sprühender Farben und Gestalten mit unscharfen Konturen, derben Gesichtszügen und absurd übersteigerten Geschlechtsorganen (dazu noch viele „uneindeutige Wesen“). Sie wirken abwesend, distanziert, hohl, wie verwaiste Schatten – trotz ihrer eindringlichen bildlichen Präsenz. Vereinzelte Details markieren Spannungs- oder Identitätspunkte: Genitalien (meist erigiert), leere Augen wie Löcher, geballte Fäuste. Cahn positioniert ihre Figuren Auge in Auge mit dem Betrachter und verwandelt so ihre Gemälde in unheilvolle Spiegel (abgesehen davon, dass wir uns selbst in diesem Grauen wiedererkennen –

ist dies nicht auch eine Möglichkeit, die Beliebigkeit der Geschichte darzustellen?).

e) Die Titel der Arbeiten enthalten keine oder ausschließlich Großbuchstaben: Verallgemeinerung durch den Verzicht auf Spezifisches. sarajevo, beirut, hände hoch!, MARE NOSTRUM, sie alle könnten irgendwo, irgendwann sein; tatsächlich sind sie überall, jederzeit (möglich).[*]

Was nimmt Miriam Cahn in ihren Blick, und was sieht sie? Welche Formen der Repräsentation ermöglicht ihr Erzählen von aktuellen Tragödien und Konflikten? Ist dieses Pendeln – zwischen Beinahe-Realismus und Abstraktion – nicht die einzige Möglichkeit, Katastrophen darzustellen, Ängste zu durchdringen, jene zu begleiten, die Schmerzen leiden? Brauchen wir nicht gerade dieses Pendeln, um die Konflikte rund um uns zu verstehen und ihren Herausforderungen zu begegnen? Wie kompliziert, strapaziert und mobilisiert Miriam Cahn die Definition und die Funktionen des (künstlerischen) Realismus?

— Marta Dziewańska

[*] a, b, c, d, e ereignen sich gleichzeitig, in nicht hierarchischer Form.

Gepostet in Öffentliche Ausstellung
Auszug aus dem documenta 14: Daybook
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