Moyra Davey

Moyra Davey, Hemlock Forest (2016), Digitalvideo, Farbe, Ton, 42 min

Moyra Davey, Portrait/Landscape, 2017, 70 C-Prints, Installationsansicht, EMST – Nationales Museum für Zeitgenössische Kunst, Athen, documenta 14, Foto: Mathias Völzke

Moyra Davey, Skeletal Buddha, 2017, C-Prints, Klebeband, Porto, Tinte, Installationsansicht, Neue Neue Galerie (Neue Hauptpost), Kassel, documenta 14, Foto: Mathias Völzke

Liebe MD,

Eben habe ich mir deinen neuen Film über Chantal Akerman (über deinen Sohn) auf dem Laptop angesehen, und etwas, das du im einleitenden Kommentar sagst, hat mich sofort gepackt: „Ich nenne diese Art zu filmen ‚tief hängende Frucht‘, und meist kommt nicht viel dabei heraus, weil es eigentlich um nichts geht.“ Die begleitenden Bilder des üppig grünen Parks sind unspektakulär (wie du sagst). Dein Kommentar erinnerte mich an die Zeilen von Walter Benjamin, die du in My Necropolis (2009) verwendest: diese merkwürdige, unvergessliche Stelle, in der er über die Armut seiner Pariser Behausung und die lebensnotwendige Uhr draußen vor seinem Fenster schreibt. Was hat der Blick auf eine Uhr – ein „Luxus“, auf den Benjamin, wie er kryptisch anmerkt, nicht verzichten kann – mit diesem anderen Schauen auf die schattigen Alleen von Palisades zu tun, in denen es, wie du bemerkst, eigentlich um nichts geht? Während ich dir beim Auf-und-ab-Gehen durch die Wohnung im Film folgte, zu den Bildern von wandernden Sonnenstrahlen an den Wänden, bei deinem Vortragen des Essay-Drehbuchs über ein ganzes Bündel von Themen, die du immer wieder verfremdest und auffrischst – das Schreiben, das Filmen, die Mutterschaft, Hunger, Arbeit, Kino, Familie, die Lektüre, „das Soziale“ –, nackt auf dem Bett liegend und Zucker essend (ein Echo auf Akerman), mit den Stöpseln im Ohr (denselben weißen iPhone-Ohrstöpseln, die mir deine Stimme nahe bringen), dachte ich über deinen Hunger nach Akermans Arbeit nach, über das Bedürfnis nach ihren Briefen und Erzählungen und Filmen, über die Bilder deiner Schwestern, deines Sohnes. Begierde – das Schmerzvolle daran. Ich kritzelte ein paar Fragen hin: Bist du das oder dein Sohn bei 6:27, auf diesem Schwarz-Weiß-Foto – hager, nackt, der Rücken zart wie ein Blatt über einen Schreibtisch gebeugt? Welcher der Freunde deines Sohnes ist Euripides, der wunderschöne Knabe im „HSBC“-T-Shirt? Wie fühlt es sich an, 1958 in Toronto geboren worden zu sein? Sind die Autorin und die Bilderschaffende und die Mutter alle eins? Und warum wechselst du zur dritten Person – Strategie literarischer Distanzierung – gegen Ende des Films, in den Szenen auf dem Schneefeld, beim Nachdenken über deine Liebe zu deinem Sohn und deiner Arbeit? „Sie lebt auf, sobald sie hinter der Kamera steht.“ Und ihn filmt. Du wendest dich aber direkt an deinen Sohn. „Du bist das Gegenteil einer tief hängenden Frucht.“ Was ist Luxus, was ist lebensnotwendig? Mir wird klar, dass ich nicht viel über Akerman gesagt habe (auch eine Art Uhr, unauslöschlich). Obwohl du sie in dem Film auch als dein „thou“ und dein „you“, zweierlei Du, ansprichst. Ich freue mich so sehr darauf, dich in Athen zu sehen.

Herzliche Grüße,
QL

Gepostet in Öffentliche Ausstellung
Auszug aus dem documenta 14: Daybook
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