Bouchra Khalili

Bouchra Khalili, geboren 1975 in Casablanca, nutzt in ihren Filmen elementare Techniken des Kinos, um historische Rahmensetzungen aufzubrechen und den Zuschauer mit verdrängten Wahrheiten unserer globalisierten staatsbürgerlichen Existenz zu konfrontieren. So hat sie im letzten Jahrzehnt zwei Figuren durch den Niedergang und Verfall von Nationalstaaten begleitet, die eng miteinander verknüpft sind: 1) den Migranten, dessen Geschichten, Stimmen und beredte Gesten Khalilis Montagen zum Leben erwecken, und 2) den kämpferischen Dritte-Welt-Intellektuellen, dessen Klugheit und Widerständigkeit die Bedeutung ihrer Filme als Kartografien unbeachteter Auflehnungsprozesse akzentuieren.

In Khalilis frühen Werken zu diesem Thema sind diese Szenen auf eine einzelne Figur konzentriert. So zeigt die bekannte Installation The Mapping Journey Project (2008–2011) acht Videokanäle, in denen Migrant_innen auf einer Karte ihre Reiseroute aus dem Maghreb oder von Bangladesch nach Europa nachzeichnen. In Mother Tongue (2012) aus der Serie „The Speeches“ (2012/13) rezitieren Pariser Migrant_innen die Texte antikolonialer Dichter und Kritiker in Sprachen, die keine eigene Schrift besitzen: Marokkanisch-Arabisch, Kabylisch, Maninka und Wolof.

Neuere Arbeiten wie Garden Conversation (2014) und Foreign Office (2015) zeigen bereits inszenierte Dialoge zwischen zwei Protagonist_innen, aber auch sie sind von Sprache durchdrungen und rufen Dritte-Welt-Szenarien aus den 1950er bis 70er Jahren wach. Wie in allen Werken der Künstlerin lässt der Einsatz nichtprofessioneller Darsteller_innen Geschichte lebendig werden und ermöglicht durch die Technik der Montage eine, wie Khalili es nennt, „alternative Historiografie“.

The Tempest Society (2017) kann als Höhepunkt dieses synkretistischen Prozesses gesehen werden, in dem Khalili fortwährend zwischen der singulären Stimme des politischen Subjekts und dem kollektiven Chor der Polis hin- und herwechselt. Der historische Anknüpfungspunkt des in Athen spielenden Werks ist al-Assifa (Der Sturm), ein Theaterensemble und Sozialprojekt, das im Paris der 1970er Jahre von einem Arbeitsmigranten aus Nordafrika und zwei französischen Studenten gegründet wurde. Auch wenn dieser Film als erster eine größere Besetzung aufweist, so verstärkt er doch den Fokus, den die Regisseurin auf die transversale Solidarität des „poeta civile“ oder politischen Dichters im Sinne Pier Paolo Pasolinis legt – die tief greifende, aufrührerische Möglichkeit, durch ein einzelnes Subjekt kollektive Wahrheiten anzusprechen und so einer mobilisierenden und widerständigen gesellschaftlichen Stimme Gehör zu verschaffen.

— Vivian Ziherl

Gepostet in Öffentliche Ausstellung
Auszug aus dem documenta 14: Daybook