Abel Rodríguez

Abel Rodríguez, Ciclo anual en las altas terrazas de la selva tropical (Jahreszyklus in den Hochterrassen des Regenwaldes, 2007), Tusche auf Papier, 50 × 70 cm, courtesy Abel Rodríguez und Tropenbos International Colombia

Abel Rodríguez, ausgewählte Zeichnungen aus der Serie „Jahreszyklus des überfluteten Regenwalds“, 2009, Tinte, Grafit und Aquarell auf Papier
, Installationsansicht, Naturkundemuseum im Ottoneum, Kassel, documenta 14, Foto: Roman März

Die Zeichnungen von Abel Rodríguez entstehen aus einer Zusammenführung mehrerer Geschichten. Die erste handelt von Mogaje Guihu, geboren als Nonuya ungefähr im Jahr 1944 am Oberlauf des Cahuinarí im kolumbianischen Teil des Amazonasbeckens. Guihu wuchs bei den Muinane auf. Sein Onkel war ein sabedor (Mann des Wissens) und lehrte ihn alles über die Pflanzen. Guihu wurde bekannt als derjenige, der den Pflanzen ihre Namen gab. Die zweite Geschichte ist die von Carlos Rodríguez, einem Biologen. Er leitet den kolumbianischen Ableger der niederländischen NGO Tropenbos, die sich für die Untersuchung und den Schutz des tropischen Regenwalds einsetzt. Irgendwann waren die Erforscher_innen der amazonischen Botanik auf ortskundige Führer_innen angewiesen, um die gefundenen Pflanzen zu bestimmen. Guihu wurde einer von ihnen. Er erwies sich als sicher in seinem Urteil und zuverlässig, mithin als wahrer Gelehrter.

Einige Zeit danach, in den 1990er Jahren, floh Guihu – inzwischen unter dem westlichen Namen Abel Rodríguez – vor der Gewalt im Dschungel nach Bogotá und ließ sich in einem verarmten Randbezirk der kolumbianischen Hauptstadt nieder. Hier lief Carlos Rodríguez ihm zufällig über den Weg, und er lud ihn ein, erneut als Pflanzenexperte für Tropenbos zu arbeiten. Er gab ihm die Mittel zur Anfertigung botanischer Zeichnungen an die Hand. Abels genaue botanische Illustrationen entstanden aus dem Gedächtnis und auf Basis des mündlich tradierten Wissens. Sie sind die Visionen eines Menschen, der den Nutzwert der Pflanzen als Nahrung, Bau- und Bekleidungsmaterial, aber auch als Bestandteile heiliger Riten vor Augen hat. Seine „botanischen Tafeln“ sind mit schriftlichen Angaben zu Farbe und Geschmack der Rinde, Blühzeit, Ort und Jahreszeit des Vorkommens in seiner Muttersprache Muinane und auf Spanisch versehen. Sein Werk Ciclo anual del bosque de la vega über den „jahreszeitlichen Wandel im Schwemmwald“ (2009/10) ist ein Kalender, der das wandelbare Aussehen und Leben der überfluteten Wälder im Jahresverlauf beschreibt. In Árbol de la vida y de la abundancia (Baum des Lebens und der Fülle, 2012) erzählt er von der Schöpfung des Dschungels als dem Ursprung der Welt.

Das war die dritte Geschichte, doch es gibt noch eine vierte. Sie handelt von Abels Erkundung eines ganz neuen Gebiets. Nachdem seine Zeichnungen 2008 in die Schau Historia Natural y Política am Museo Botero in Bogotá aufgenommen wurden, waren sie in zahlreichen weiteren Ausstellungen in Nord- und Südamerika und Europa zu sehen. Abel betrachtet sich aber nicht als zeitgenössischer Künstler im westlichen Sinn. „Bei uns gibt es diese Vorstellung so nicht. Am nächsten kommt ihr noch etwas, das auf Muinane iimitya (Wort der Macht) heißt und meint, dass alle Wege zum selben Wissen, dem Ursprung aller Wege, führen.“

— José Roca

Gepostet in Öffentliche Ausstellung
Auszug aus dem documenta 14: Daybook