Banu Cennetoğlu

Banu Cennetoğlu, practice (2016), digitale Farbfotografie

Banu Cennetoğlu, Gurbet’s Diary (27.07.1995–08.10.1997), 2016–2017, verschiedene Materialien, Gennadius-Bibliothek, Athen, documenta 14, Foto: Freddie F.

Banu Cennetoğlu, BEINGSAFEISSCARY, 2017, verschiedene Materialien, Friedrichsplatz, Kassel, documenta 14, Foto: Roman März

Eine Fotografie – unscharf, wie alte Aufnahmen zuweilen sind – zeigt eine junge Frau in traditioneller kurdischer Tracht mit einem klobigen Kopfschmuck aus Metall. Ohne Lächeln. In einer anderen Aufnahme – die Schulterpolster sind unübersehbar – legt sie gerade ein schwarzes Stirnband an. Dauerwelle, gerunzelte Stirn, ein Kind der 1980er Jahre. Die meisten Bilder jedoch zeigen sie mit kurz geschnittenem Haar, in der für die Umstände typischen khakifarbenen Jacke mit übergroßem Gürtel und ausgebeulten weiten Hosen. An der Seite, demonstrativ, eine Kalaschnikow. Sie zieht dich schnell in ihren Bann. Du erfährst, dass sie Chemikerin ist und als Redakteurin arbeitet, als einzige Frau in dieser Position in einer legendären prokurdischen Zeitung. Vor 1990 ist sie bereits verhaftet und gefoltert worden. 1995 lässt sie alles hinter sich und schließt sich der Guerilla an. Die Bewegung verlangt Opfer, alle Dinge, die vom Kampf ablenken könnten, sind zu vermeiden. Alkohol etwa, oder Sex oder schnöde materielle Dinge. Die Kämpfer_innen werden ermutigt, Tagebuch zu führen – ein Akt des Widerstands, eine trotzige Spur der Geschichtsschreibung, wenn deine eigene Geschichte fortwährend neu geschrieben, ausgelöscht wird. (Virginia Woolf sprach von life writing, von autobiografischem Schreiben.) Von 1995 bis 1997 führt sie ein solches Tagebuch, mit etwas mehr als 107 Einträgen. Ausführliche Beschreibungen meidet sie – es fehlt die Zeit –, doch es finden sich echte Kostbarkeiten. Neben den üblichen Zahlen und Fakten stehen auch rätselhafte, unlogische Notizen: „Offenbar nahm Kleopatra ein Bad in Weinreben aus dem Zagros, die sie über eine zwischen dem Zagros und Alexandria installierte Pipeline erhielt.“ Sie schreibt über die Musik, die sie liebt, über die libanesische Sängerin Fairuz, den großen Aram Tigran, sogar über den schnulzigen Argentinier Rodrigo. Sie schreibt über die zu schwere, kratzige Uniform und ihre übergroßen Schuhe (sie hat Größe 38, muss sich aber, leider, leider, mit Größe 43 herumschlagen). Manchmal schreibt sie Gedichte. Meist aber grübelt sie über den Unterschied zwischen dem Leben als Intellektuelle und als Freiheitskämpferin nach. Sie sehnt sich nach Letzterem. Sicherheit macht Angst. Wo habe ich das gehört/gesehen? Ein Jahr nach ihrem Tod – 1997 reißt ihr ein Panzer aus Deutschland beide Beine weg – werden ihre Tagebücher in Deutschland publiziert. 2014 gelingt auch einem kleinen Verlag in der Türkei die Veröffentlichung. Kurz darauf, inmitten politischer Unruhen, werden die Tagebücher verboten. Du stößt auf ein Exemplar. Du liest von ihr. Du träumst von ihr. Du gehst sogar zum Therapeuten – zum allerersten Mal –, um die Faszination zu verstehen, die sie auf dich ausübt. Du, geboren 1970 in Ankara, denkst an sie, geboren 1965 in Ziver. Du stellst dir ihre Schuhe vor, Größe 43, und ihre Füße, Größe 38, die darin herumrutschen.

— Negar Azimi

Gepostet in Öffentliche Ausstellung
Auszug aus dem documenta 14: Daybook