Artur Żmijewski

Artur Żmijewski, Erasing (2016), sechs Grabsteine von verschwundenen/zerstörten deutschen Friedhöfen in Wrocław, sechs Videos, Farbe, Ton, 2:17–3:41 Min., courtesy Foksal Gallery Foundation, Galerie Peter Kilchmann

Artur Żmijewski, Glimpse, 2016–17, digitales Video übertragen von 16-mm-Film, Installationsansicht, Hochschule der Bildenden Künste Athen (ASFA) – Pireos-Straße („Nikos-Kessanlis“-Ausstellungshalle), documenta 14, Foto: Yiannis Hadjiaslanis

Artur Żmijewski, Realism, 2017, Sechskanal-Digitalvideo, Installationsansicht, Neue Neue Galerie (Neue Hauptpost), Kassel, documenta 14, Foto: Mathias Völzke

Welchen Platz nimmt die Kunst in der Welt ein? Können wir etwas von ihr erwarten und wenn ja, was? Hat Kunst reale Ziele, hat sie Auswirkungen auf die Realität? Artur Żmijewski, 1966 in Warschau geboren, beantwortet diese Fragen, indem er Plätze definiert und sich aneignet, indem er seine Erwartungen formuliert und Ziele festlegt. Bertolt Brecht glaubte an die Macht der Montage – an Gegenüberstellungen, die Gewissheiten ins Wanken bringen, Autorität verspotten und das Unmögliche bewirken. Żmijewski glaubt an die Macht solcher Konfrontationen.

Anfangs setzte sich der Künstler mit kulturell tabuisierten, vergessenen oder verdrängten Themen auseinander. Er tat dies ohne jede Beschönigung, etwa mit den sonderbaren mehrbeinigen und mehrköpfigen Mischwesen in Auge um Auge (1998) – einer Fotoserie, in der die Körper von Amputierten durch „gesunde“ Körper vervollständigt wurden. Auch Gesangsstunde 2 (2003) – die Aufnahme einer der großartigen Kantaten von Bach, gesungen von einem Gehörlosenchor – verzichtete auf euphemistische Verbrämungen. In 80064 (2004) wiederum überzeugte der Künstler einen ehemaligen Insassen des KZ Auschwitz-Birkenau, die verblasste Tätowierung seiner Lagernummer zu erneuern.

In seinem Manifest „Applied Social Arts“ (Angewandte Gesellschaftskunst, 2007) kritisiert Żmijewski die Überhöhung, Selbstzufriedenheit und Entfremdung der Kunst ebenso wie ihre Amnesie und ihr vergeudetes Potenzial. Er beharrt darauf, dass Kunst ein Partner für Politik und Wissenschaft sein müsse, da sie soziale Auswirkungen habe, Erkenntnisse schaffe und Veränderungen bewirken könne. Er schlägt vor, die „Virus“-Theorie der Kunst – Kunst schafft Ereignisse, die verschiedene Teile des Gesellschaftssystems „infizieren“, ähnlich wie Viren einen Organismus – durch einen konstruktiven Ansatz zu ersetzen, der Kunst als Algorithmus versteht, der das „System von einem bestimmten Anfangszustand zum gewünschten Endzustand“ führt.1

In Żmijewskis künstlerischer Praxis bedeutet dies, dass der Künstler eine Situation schafft, die sich durch die Dynamik der Teilnehmenden entwickelt. Repetition (2005) wiederholt Philip Zimbardos Experiment aus dem Jahr 1971, in dem Freiwillige in Wärter und Gefangene eingeteilt und in ein fiktives Gefängnis versetzt wurden. In Them (2007) konfrontiert der Künstler die Vertreter_innen von vier unterschiedlichen Weltanschauungen und stößt damit eine visuelle und verbale Debatte zu grundlegenden sozialen Problemen an.

„Soziale Experimente“ oder „inszenierte Dokumentationen“ – Ziel dieser konfrontativen Projekte ist es, die Teilnehmer_innen aus ihren gewohnten Reaktions- und Identifikationsmustern zu reißen. Gleichzeitig soll – im Sinne eines Algorithmus – eine bestimmte (künstlerische) Wirkung erzielt werden. Żmijewskis kontroverse, beunruhigende Arbeiten sind zweifellos Erkenntniswerkzeuge, die zu Diskussionen anregen. Zuweilen sind sie wie Seismografen, die winzige Erschütterungen und Verschiebungen wahrnehmen und aufzeichnen und so das bevorstehende Beben ankündigen.

— Marta Dziewańska

1 Artur Żmijewski, „Applied Social Arts“, in: Krytyka Polityczna, 11–12, 2007.

Gepostet in Öffentliche Ausstellung
Auszug aus dem documenta 14: Daybook
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