Die Archäologie, als eine Disziplin, die es versteht, Idealisierungen zu konsolidieren, indem sie aus einigen Bruchstücken Marmors ganze Welten aufleben lässt, hat wesentlich dazu beigetragen, diese Referenzbeziehung zwischen der Neuzeit und der Antike zu etablieren. Zwar mag die Tatsache, dass die Griechen die Idee einer besonderen antiken Tradition nicht nur annehmen, sondern geradezu für sich beanspruchen, auf den ersten Blick nicht allzu sehr erstaunen, entspricht sie doch den international anerkannten Referenzen, aus denen Staaten ihre Legitimation zu beziehen suchen (und auf deren Basis sie auch die dazugehörigen Mythen erzeugen). Doch ist es gerade diese ungewöhnliche Aneignung einer konstruierten europäischen „Vaterfigur“, die die Quelle für das große Leid der heutigen Griechen bildet. Wenn heute die Griechen die Fragmente einer antiken Kultur für sich beanspruchen, so wird die europäische Weigerung, ihrer Abkunft aus einer Traditionsbindung, der künstlichen Adoption einer Vaterfigur noch irgendeine Signifikanz beizumessen, in ihr Gegenteil verkehrt: Das neuzeitliche Griechenland hat diese Verwandtschaftsbeziehung unbedingt bejaht und sich vollkommen mit einem „Vater“ identifiziert, dem seine Familie bereits in den höchsten Tönen huldigte, noch lange bevor er seinem angeblichen Kind vorgestellt werden sollte.
Der Übergang von der Hegemonie des Westens zu der Hegemonie des Nordens geht mit einem Trauerfall einher, mit der schmachvollen Unterdrückung alles dessen, was einst den europäischen Logos begründet hat. Jegliche Verbindung zur Tradition wird abgelehnt, nicht zuletzt deshalb, weil die Imagination des Westens an das Konzept der Obdachlosigkeit oder Unbehaustheit gekoppelt ist. Die Empfindung des Verlusts einer Heimstatt als eines Ortes oder Grundes, an oder auf den man immer wieder zurückkommen kann, und das damit verbundene Gefühl der Ohnmacht sind zur grundlegenden Erfahrung des westlichen Menschen geworden. Das Bewusstsein, ein unbedeutender Teil eines unbeständigen und launenhaften Planeten zu sein und dabei nicht viel mehr als den Logos als Gegenwehr zu haben, wird als grundlegende Orientierungslosigkeit erfahren. Erst das Rekurrieren auf einen fernen, niemals zu erreichenden Ort, der allgemein als der ursprüngliche Herkunftsort anerkannt ist, konnte hier Abhilfe schaffen: Daher Griechenland. Für Europa war der Verlust des Originals auf dem Wege einer institutionalisierten Distanzierung essenziell dafür, sich formieren und existieren zu können. Für Griechenland, das durch diese Projektion auf das Original gestoßen ist und seinen Ursprung wiedergefunden hat, bedeutete dies die Aufhebung jeglicher Distanz. Ebendies könnte der Grund dafür sein, dass es dem Land nicht gelingt, wahrhaft europäisch zu sein. Und in der Tat, es ist nicht so, dass sich Hesperien verzweifelt nach der griechischen Vergangenheit gesehnt hätte, um die Lücke in der eigenen Herkunftsgeschichte zu schließen. Eher bedurfte es des Bildes und dann der materiellen Existenz von Ruinen aus einer fernen Zeit, um im westlichen Denken die Wahrnehmung einer Lücke in der Herkunftsgeschichte erst zu etablieren.
Philippe Lacoue-Labarthe nimmt diesbezüglich Stellung, wenn er sich auf Friedrich Hölderlin, den großen Dichter Hesperiens, bezieht. Hölderlin hat nicht nur das Bild vom antiken Griechenland infrage gestellt, er hat auch erstmals die Suche nach der Antike als Leugnung eines sich herausbildenden urbanen Raums gedeutet. Während der Westen nach der Wiedererrichtung eines verlorenen Ideals strebte und den Alltag missachtete, bezieht der Norden seine Macht aus ebendiesem Alltag, indem er ihm seine Infrastruktur aufzwingt. Indem die Organisation des Alltagslebens zum höchsten Ziel erklärt wird, wird der globale Norden zum Synonym für die Infrastruktur selbst. Zwar mögen wir denken, dass die Infrastruktur lediglich ein System zur Vereinfachung des städtischen Lebens ist, ein komplexes Netzwerk zur Regulierung der Wasser- und Stromversorgung. Wir mögen auch gemeinhin annehmen, dass die Durchführung regelmäßiger Wartungsarbeiten die einzige Voraussetzung dafür ist, dass sie intakt und funktionstüchtig bleibt. Doch gleichzeitig beobachten wir, wie dieselbe Infrastruktur durch ihre enge Beziehung zum Norden und folglich zur hegemonialen Ordnung eine Herrschaftsrolle übernimmt. Es ist nicht zu verkennen, wie immer mehr Regionen, indem sie sich den interaktiven Plattformen der Infrastruktur, den vernetzten Datenströmen und Logistiken des ruhelosen Kommerzes übereignen, vom Norden vereinnahmt werden.
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Die zwei gegensätzlichen Leitideen, die wir im Untergrund des neuzeitlichen Athens ausmachen, forderten von einer kleinen osmanischen Siedlung die Transformation in eine neuzeitliche Stadt. Der Versuch, dieser Forderung zu entsprechen, zog zwei verschiedene Formen der Deterritorialisierung nach sich. Entsprechend der Logik der ersten Leitidee, die nach einer unmöglich zu realisierenden Performanz der Vergangenheit strebte, gelangten versunkene Gegenstände und Gebäude mittels archäologischer Ausgrabungen wieder an die Oberfläche. Dieses westliche Ritual, Verschollenes zu bergen, kam einer absurden Obsession gleich, auf die wir nicht nachdrücklich genug hinweisen können: Das Bestehende und das Sichtbare wurden in solchem Maße negiert, dass selbst eine weitflächige Zerstörungsaktion kein Hindernis für das archäologische Vorhaben darstellte. Ganze Häuser-, Laden- und Straßenzeilen wurden dem Erdboden gleichgemacht, um einige leblose Fragmente wieder ans Tageslicht zu befördern. In diesem Akt der Zerstörung wurde die Unzulänglichkeit der sichtbaren Materie greifbar, ihre Unfähigkeit, den Erwartungen des fremden Blicks zu genügen. Wenn wir folglich behaupten, dass die Archäologie mit ihrer Manie der Glorifizierung des Verlorenen der Obdachlosigkeit und dem Niedergang huldigte, so ist dies durchaus auch wörtlich zu verstehen. Die Macht der verborgenen Ruine, eine vollständig fingierte Welt heraufzubeschwören, begründete die Entfremdung von dem Grund, aus dem das Sichtbare erwuchs. Dieser Prozess des heimlichen Aneinanderreihens von Fundstücken hat die abwesende Welt nicht zur Anschauung gebracht, aber er hat die „wirkliche“ Welt beseitigt. Indem sie das Bestehende ablehnte und dem Unbewohnten – den Ruinen – den Vorzug gab, hat sich die Archäologie zu einer subversiven Macht entwickelt, die es versteht, ein ganzes überkommenes Wertesystem zu zersetzen.
Auch die zweite Leitidee, die von der ständigen Erweiterung der Infrastruktur, gründet im Unterirdischen; allerdings operiert sie mit gänzlich anderen Verfahren und definiert den Boden ihrer Logik entsprechend neu, wodurch ein zweiter Prozess der Deterritorialisierung und Entfremdung initiiert wird. Schon ein relativ einfaches Systems zur Regulierung der Wasserversorgung beispielsweise hat Auswirkungen auf das Sozialleben in einer Stadt. Dadurch, dass nunmehr mehrere Haushalte als separate Einheiten gleichzeitig mit Wasser versorgt werden, verliert die Quelle, oder die Ressource im Sinne eines „Gutes“, ihren ursprünglichen Charakter als Ort der Performanz des Sozialen. Die Indienstnahme der Infrastruktur im Interesse der Gemeinschaft verkehrte sich paradoxerweise in ihr Gegenteil, indem sie das Gemeinschaftsleben zerstörte und Treffpunkte obsolet werden ließ, an denen sich das soziale Miteinander entspann und die sozialen Strukturen des Alltagslebens sich herausbilden konnten.
Das zweifache anthropogene Einwirken auf den Untergrund von Athen führte nicht zuletzt zu einer veränderten, idiosynkratischen Form des Umgangs mit Spuren, Fakten und Archiven. Es dürfte wohl kaum eine andere Disziplin geben, die in solchem Maße der Spur huldigt wie die Archäologie. Einzig die Kriminologie mit ihrem Repertoire von Zeremonien und Ritualen des Verzeichnens, Archivierens und Kombinierens, mit dem sie jede noch so kleine Spur zelebriert, könnte in dieser Hinsicht mit ihr konkurrieren. Man könnte sagen, die Kriminologie bediene sich zur Ergründung eines kriminellen Vorgangs oftmals der Methoden der Archäologie, während die Archäologie sich auf die kriminologische Ergründung des Vergangenen konzentriert. Beide Disziplinen untersuchen Hinweise und Spuren und wenden ähnliche methodologische Verfahren an.
Entsprechend findet sich auch die Geschichte der Stadt Athen dokumentiert in zwei verschiedenen Arten von Archiven, in denen aus disparaten Einträgen bestehende Datensätze gesammelt werden. Das erste Archiv beinhaltet Projektberichte, Ausgrabungstagebücher, fotografisches Material und Zeichnungen, die die archäologische Vorgehensweise veranschaulichen. Im zweiten finden sich detaillierte Daten zur Planung und Konstruktion des urbanen Netzwerks, dessen Expansion und Wartung sowie Darstellungen des technischen Gesamtwerks, das zu seinem Funktionieren notwendigerweise eines Arbeitsgedächtnisses seiner selbst bedarf. Diese zwei Archivversionen von Athen, die in demselben Boden entworfen wurden, spiegeln die schizophrene Wahrnehmung des heutigen unsichtbaren Untergrundortes wider, der zweifach erfasst und dokumentiert worden ist. Listen und Indizes, erstellt zur Strukturierung einer besonderen Vergangenheit oder der Entwicklung neuer Technologien – beides dem Boden fremd – werden aufbewahrt, damit das urbane Leben in Athen immerfort weitergeplant werden kann. Auch sie zeugen von der Obsession, mit der hier zwei Utopien vorangetrieben werden: zum einen das Wiederauflebenlassen einer ersehnten Welt, zum anderen die Zukunftsvision eines immer komplexer durchtechnisierten Alltagslebens und seiner Verteilungsstrukturen. Die Archive der Stadt reflektieren die imaginierte Konfiguration zweier Logiken und deren Spuren. Die Grundlegung des Unterschieds zwischen dem Westen und dem globalen Norden erfolgte demnach bereits Mitte des 19. Jahrhunderts – in den Tiefen der Stadt Athen.
Wir könnten diese zwei Arten von Archiven auch als zwei unabhängige Literaturen unterschiedlicher Stoßrichtung lesen, die noch einer genaueren Definition bedürfen. Während die Archäologie regelrecht darauf versessen ist, jede noch so kleine Spur aus der Vergangenheit penibel zu dokumentieren, um einer verwüsteten Fläche Monumente abzutrotzen, ist für die Infrastruktur der Boden eine indifferente Leerstelle, in der sie sich nach Belieben entspinnen kann. Zwar beinhalten die Archive der Infrastruktur gleichfalls Materialien, die einen vergangenen Zustand dokumentieren – so verzeichnen sie etwa akribisch alle Konfigurationen, Elemente und Zustände des Netzwerksystems, die einmal bestanden, irgendwann ersetzt wurden oder später hinzukamen –, doch ist sein funktionelles Moment als eine Operation des Systems selbst konstruiert. Der Pegel innerhalb eines Netzwerkknotens im System der Wasserversorgung oder auch die Strommenge, die ein bestimmtes Gebiet zu einem bestimmten Zeitpunkt über das System abfragt, sind die entscheidenden Informationen, die das System in jedem Augenblick kontrollieren – genau in dem Moment, da sie automatisch erfasst und archiviert werden. Ändern sich die Daten, ändert sich auch der Regulierungsmodus. Messung, Nachrichtenübertragung und Rückkopplung in Form vom Informationstransfer selbst ausgelöster automatisierter Reaktionen auf die jeweiligen Funktionsbedingungen: Das ist das ungreifbare Prinzip einer Infrastruktur, deren technische Gegebenheiten einen immer höheren Immaterialitätsgrad annehmen, zumal da der Boden Athens, dieser dunkle und neutrale Raum, der sie einst bereitwillig aufgenommen hat, seit einiger Zeit im Begriff ist, durch einen noch weiter entfernten Raum ersetzt zu werden: den Himmel. Heute werden die Datenflüsse vermehrt über Satelliten geleitet und geregelt, ein Vorgehen, das seinerseits den Prozess der Deterritorialisierung fortsetzt. Information zirkuliert als nicht lesbarer Text, der, kaum erstellt, schon wieder gelöscht wird. Dieser neue infrastrukturelle Text ist kodiert und materielos, und obgleich wir es mit einer neuen, immateriellen Konstruktion über dem modernisierten Athener Boden zu tun haben, bei der Hochfrequenzstrahlung und Satelliten an die Stelle der einstigen Technologien der Ventile und Siphons getreten sind, so dient doch auch sie demselben Ziel. Nach wie vor wird ein unsichtbares Hilfssystem auf unsichtbare Art und Weise ausgeführt, damit der Alltag reibungslos funktionieren kann.
Innerhalb der Infrastruktur einer Stadt fließt jede Spur, die von den Nutzern hinterlassen wird, in die Strukturen eines laufenden übergeordneten Prozesses ein, bei dem jeder Vorgang mit Lieferung der Leistung sofort wieder aus dem System gelöscht wird. In Athen jedoch hat die Archäologie bestimmte Kriterien für subterrane Arbeiten festgesetzt, die sich mit einer Kultur des Löschens, wie sie die Infrastruktur pflegt, nicht vereinbaren lassen. Die Kollision ist unvermeidlich, da das Löschen von Spuren eine systemische Notwendigkeit für die Funktionstüchtigkeit der Infrastruktur bildet. Es ist die Bürde der Infrastruktur, dass sie sich ständig selbst erneuern muss, ohne dass sich dabei ihr Wesen ändert. Die Zeit der Infrastruktur ist die der Eingabe und Verarbeitung von Daten, während im Hintergrund ihre Protokolle ununterbrochen weiterlaufen. Das Städtische und die Infrastruktur werden in dem Maße deckungsgleich, wie das heutige Stadtleben zunehmend als Vollzug des Spurenlöschens organisiert wird. Der Alltag wird zum durch die Wiederholung immer gleicher Vorgänge strukturierten Feld, frei von jeglichen erinnerbaren Merkmalen. So wird die Infrastruktur selbst wieder strukturiert durch die Löschvorgänge, die den Repetitionen der Stadt folgen. Die Art und Weise, nach der die Regulierungsparameter festgesetzt werden, damit ein Netzwerk entsprechend bestimmten Vorgaben operieren kann, erlaubt es, eine Reihe einfacher Funktionen zu definieren, die das Erinnerte jedoch nicht als Ereignis zu werten vermögen. So wird es möglich, dieselben Vorgänge auch unter veränderten Bedingungen durchzuführen und ein- und dasselbe Raster mit unendlich vielen unterschiedlichen Mikrofakten zu füllen, die unendlich überschrieben und somit vergessen werden können. Anders ausgedrückt: Wo das Entfernen von Spuren den Modus operandi zu konstituieren beginnt, da entsteht ein neues Konzept des Funktionierens.
Der globale Norden zeichnet sich heute durch die unendliche, jedoch systematische Expansion seiner Infrastruktur aus, ein regelrechtes Imperium, das die menschliche Zeit vereinheitlicht, um sie den eigenen Kriterien entsprechend neu einzuteilen. Je weniger es einem Laien möglich ist, die einzelnen Funktionen der Systeme nachzuvollziehen oder zu kontrollieren, desto mehr wächst die Macht des Nordens. Zugleich weichen auch die Grenzen zwischen den einzelnen Lebensbereichen immer mehr auf, sobald diese Bereiche auch nur ansatzweise in die Systeme der Infrastruktur integriert werden. Viele dieser Bereiche, insbesondere die Inseln, die sich dem Internet als Antworten auf interaktive Protokolle einschreiben, bilden bereits heute permanente Domänen innerhalb der Infrastruktur. In dem Maße, in dem sich die Grenzen zwischen dem Innen und dem Außen einer Domäne auflösen, insbesondere durch das ständige Aktualisieren der gemeinschaftlich genutzten Plattformen und Dienstleistungen, wird auch das städtische Leben immer mehr zu einer Wiederholungsschleife der Infrastruktur selbst. Die Kapitulation des Urbanen vor der Infrastruktur verdeutlicht, wie machtvoll der Auftritt des Nordens ist, der ohne weiteres auch der Name einer „abwesenden“ Autorität oder auch der Geist seiner eigenen Automatismen sein könnte.
In der internetregierten Stadt von heute verändert der Rang, der einem Individuum innerhalb der infrastrukturellen Systeme zukommt, die gängige Definition vom Bewohner. Denn der Bewohner der Infrastruktur ist nunmehr der transparente Nutzer, dessen Lebensäußerungen lediglich darin bestehen, auf die Protokolle der Systeme zu reagieren. Gefangen in einer Welt sich überschneidender Protokolle, zeichnet sich der Bewohner dieser Infrastruktur durch ein besonderes Verhältnis zur Erinnerung aus, einer gänzlich anderen Art der Erinnerung als diejenige, die als Motor für die Ausgrabungen in Athen gedient hat. Der Nutzer dieser neuen Domäne wird selbst zum bleibenden Fragment eines sich zersetzenden Systems. Er folgt unterschiedlichen narrativen Strängen, ändert unablässig seine Position oder Perspektive und verweigert sich so jeder Möglichkeit seiner stabilen Verortung. Die sich selbst regulierenden Mechanismen des Datenflusses, die immer weniger Spuren hinterlassen, bringen das neue Paradigma einer Nullerinnerung hervor. Jegliche Erinnerung verliert hier ihre Bedeutung und kann gelöscht werden, genauso wie sämtliche Plattformen, die neben dem Internet existieren, abgeschafft werden. Die Ohnmacht gegenüber der Infrastruktur, deren Mechanismen nicht kontrolliert werden können, und die Transformation der Bürger in Nutzer haben sich heute als die prägenden Merkmale des urbanen Lebens herauskristallisiert.
Wenn es der Norden ist, der die Bedingungen der Teilnahme an der Infrastruktur diktiert, so könnten wir annehmen, dass der Süden denjenigen Teil bildet, der aus der Infrastruktur ausgeschlossen bleibt. Das jedoch trifft im Fall von Athen nicht zu. Der Norden und der Süden operieren hier wie die zwei Facetten ein- und desselben Mechanismus, mittels dessen die programmierten weltweiten Datenflüsse geregelt werden. Indem die neue Infrastruktur im Dunkeln operiert wie vormals in der Vergangenheit Athens und sich dabei einer unverständlichen technischen Sprache bedient, lotet sie neue Möglichkeiten und Spielräume aus, als Diskriminierungsmaschinerie zu agieren. Selbst wenn die ihr zugrunde liegende Idee die der gemeinschaftlichen Nutzung ist, so hat sie sich doch immer mehr zu einem geordneten System von Sackgassen und codegeschützten Zugängen entwickelt. Sie agiert im Dunkeln, um gänzlich unsichtbar die Kontinuität der Geschichte des Städtischen fortzuschreiben. Identität, Arbeit und die Beziehung des Individuums zur Stadt werden vermittelt durch das Verhältnis des Nutzers zu den Systemen als programmierte Informationen in die Datenflüsse zentralisierter Netzwerke eingespeist. Die Verweildauer in den jeweiligen Plattformen der Infrastruktur wird wesentlich die neue Mietkultur der Zukunft bestimmen. Süden ist der Name einer Region innerhalb der Infrastruktur. In diesem Imperium wird mit einer neuen Form der Kolonisierung experimentiert.
Es ist diese besondere Situation, die Athen derzeit zu einem unbequemen Ort macht. Die Konstruktion von Schulden ist eine Form, mit der die Infrastruktur derzeit in die Regierungsgewalt Griechenlands eingreift und seine heutige wirtschaftliche Situation bestimmt. Der Krieg mit wirtschaftlichen Mitteln, den das Land gerade erlebt, gestaltet sich zum Dauerzustand innerhalb einer Infrastruktur, die nicht zufällig den Rahmen bildet für die Unmöglichkeit einer Pleite innerhalb einer gemeinsamen Währung. Die Globalisierung der Wirtschaft erzeugt ein System, in dem eine Bankrotterklärung nicht länger genügt, um einen unaufhaltsamen Fall zu beenden. Heute müssen Schulden homogen, immerwährend und ununterbrochen im Umlauf sein. Griechenland erfährt nicht nur, was es heißt, von der eigenen Infrastruktur angegriffen zu werden; es kann den Sog seines finanziellen Desasters auch nicht mehr bremsen, und wenn es in militärischer Manier seine Niederlage eingestehen würde. Und das, obwohl die Zahlen eindeutig belegen, dass die finanzielle Katastrophe Griechenlands einem militärischen Desaster gleichkommt. Der Krieg, in dem sich Griechenland heute wiederfindet, wurde nicht begonnen, um beendet zu werden. Schulden bilden nicht länger (falls sie es überhaupt jemals taten) das einfache Narrativ, in dem die Rollen von Gläubiger und Schuldner nach bestimmten Regeln festgelegt sind. Wir warten nicht darauf, dass diese Schuld jemals abbezahlt wird; stattdessen werden wir zu Zuschauern und zugleich zu Teilnehmern in einem neuartigen und gänzlich unsichtbaren Krieg, der von der Infrastruktur als eine endlose Schuldenattacke initiiert wurde. Das ist der Grund, weshalb sich Athen heute dermaßen pessimistisch zeigt. Die Infrastruktur verfügt über Mittel und Wege, die Formationen abzustrafen, die sich in immer größerer Abhängigkeit von ihr finden (wie etwa Länder oder Banken). Hierfür bedarf es nicht einmal eines aggressiven Auftretens; für eine Attacke genügen bereits einige codierte Interventionen, die sich unmittelbar nach ihrer Programmierung ihren Weg innerhalb der abstrakten Strukturen der Datenflüsse bahnen. In Athen wird derzeit ein neues System der Diskriminierung erprobt, das als spezifische Funktionsweise der eigenen Infrastruktur umgesetzt wird. Als der flüssige und fließende Teil des sich innerhalb der Infrastruktur bewegenden Kapitals repräsentiert der Norden heute nicht länger eine konkrete geografische Ordnung noch eine spezifische Form. Innerhalb dieses institutionalisierten Schuldenflusses haben beide, der Norden und der modernisierte Süden, schon jetzt ihre festen und untrennbaren Plätze.
Das zeitgenössische Athen fordert nun das Erbe Hesperiens für den Süden ein. Es ist ein Erbe, das der Norden nicht nur ablehnt, sondern auch kategorisch aus den Funktionen seiner Infrastruktur verbannt hat. Diese Haltung findet ihre Parallelen in der Unübersetzbarkeit und Entfremdung, die während der Grabungsarbeiten im Zuge der Installation der Athener Infrastruktur in dessen ruinengesättigtem Boden nicht zu verkennen waren. Die damalige Nord-Süd-Situation schuf ein Feld der „Politik der Datenflüsse“, die sich heute als Politik der Schulden realisiert. Die Verwerfungen in den etablierten Verfahren, die gelegentlich als technische Optimierungen der Infrastruktur umschrieben werden, haben sich letztendlich als Attacken auf die Stadt entpuppt; grundlegende Abweichungen von den automatisierten Routinen der Infrastruktur oder „unsichtbare infrastrukturelle Ereignisse“ – eine contradictio in terminis – unterlaufen die bereits problematischen Verwaltungsstrukturen der Infrastruktur, was ihnen das aggressive Agieren ermöglicht. Die technische Matrix des Systems – jenes unabhängige Automationselement, das nur von wenigen Experten zu warten ist – ist doch so unabhängig nicht, denn sie lässt sich durchaus auch von außen steuern. Das ursprüngliche infrastrukturelle Projekt, Dienstleistungen bereitzustellen, die das gemeinschaftliche Leben vereinfachen, hat in seinem weiteren Verlauf eine Wandlung erfahren. Zwar weist die neue Infrastruktur einige Gemeinsamkeiten mit ihrer Vorgängerin auf: Sie ist wie sie unsichtbar, und nach wie vor besteht ihre Aufgabe darin, die Normalität des Alltagslebens zu organisieren. Doch auf Makroebene ist sie nun imstande, als vereinheitlichtes Verfahren der unsichtbaren Fernsteuerung zu operieren, während sie auf Mikroebene ein sich selbst dienendes System bleibt. Im Angesicht der Infrastruktur findet sich jeder Nutzer allein und die Gemeinschaften, denen er angehört, als schematische Anhängsel rigider Protokolle.
Wenn Athen heute auf einmal nach Klärung verlangt, dann deshalb, weil die Stadt zu einem Versuchslabor geworden ist. Die unerklärliche Aggression in Form einer Attacke unsichtbarer Schulden, der sich die Stadt in ihren realen, empirischen Lebensäußerungen heute ausgesetzt sieht, wie auch die beispiellose mediale Kampagne, die vermittels der städtischen Infrastruktur um sich gegriffen hat, dringen bereits in den physischen Raum der Oberfläche der Stadt ein. Das Regieren in Griechenland ist zum Schuldenmanagement geworden und veranschaulicht, welches Potenzial der kollektiven Bestrafung der Infrastruktur heute zukommt. Selbst wenn die Infrastruktur als ein vergleichsweise unabhängiges und sich selbst regulierendes System erscheinen mag, so ist sie doch durch einen Modus operandi definiert, der sie von Entscheidungen abhängig macht, die ihrer technischen Funktionalität nicht mehr entsprechen. Die Frage nach der Diskrepanz zwischen der technischen Funktionsweise der Infrastruktur und der destabilisierenden Absicht, die sich hinter ihr verbirgt, das ist es, was wir diesem kurzen Exkurs in den Athener Untergrund ablesen.
Während Athen einen Moment von globaler Bedeutung erlebt, beharren wir auf dem konkretesten Element der Lokalität dieser Stadt: auf dem Grund, auf dem sie errichtet worden ist. Die Infrastruktur der Stadt bildet einen unsichtbaren Machtapparat, der in einer Stadt wie Athen, deren imaginären Gefilden im Untergrund stets größere Bedeutung beigemessen worden ist als dem eigentlichen Geschehen an seiner Oberfläche, eine eigene Art der Idealisierung erfahren hat. Dieser nie gesehene Raum, den wir jetzt lesen, war der eigentliche Grund dafür, dass die Stadt im 19. Jahrhundert überhaupt (wieder)errichtet worden ist. In der imaginierten Erweiterung dieses selben unsichtbaren Bereichs lokalisieren wir nun den Endpunkt dieses Kreislaufs und eine neue Frage bezüglich der Materialität der Oberfläche. Die Abruptheit, mit der der Geldfluss in Athen wie auch im übrigen Griechenland reduziert worden ist, hat die Brutalität der gesichtslosen Infrastruktur des globalen Nordens offengelegt. Im selben Zuge wurde offengelegt, dass die Infrastruktur der Stadt bei weitem nicht so neutral und unabhängig ist wie allgemein behauptet. Die Tatsache, dass es einigen Außenstehenden gelungen ist, ihre Weltsicht in die Infrastruktur zu transferieren, hat verdeutlicht, dass diese scheinbar neutrale Einheit vollständig von außen kontrollierbar ist.
Wir schulden den Ruinen Athens wie auch seiner Infrastruktur, diesen keimena, verschiedene Lesarten. Ihre tatsächliche Existenz liegt verborgen, tief unterhalb einer Stadt, die in rasantem Tempo gewachsen ist. Für die Stadt mögen sowohl die Funde aus vergangenen Zeiten als auch ihre Infrastruktur Teil ihrer neuen Geschichte sein. Doch wie die Überreste vergangener Epochen nicht mehr zu uns sprechen – sie stellen sich uns dar als eine Anhäufung unentzifferbarer Buchstaben –, so erfahren die neuen Athener durch die Deterritorialisierung der multiplen Datenreservoirs, durch die multiple Regelung der Automatismen ihrer Stadt neue Abhängigkeiten von einem Betriebssystem aus codierten Hieroglyphen und unlesbaren Scripts, auf dem ihre Leben ausgeführt werden. Wir erleben, wie der Mangel an Repräsentation eine weitere Welle an Idealisierungen dieser neuen urbanen Gefilde aufschlagen lässt. Ein Text in diesem Sinne kann kein keimenon mehr sein, im Sinne des Niederschlags eines schematisierten Stoffes, der sich der Interpretation anböte; er wird ein immerfort im Wandel begriffenes Geflecht bleiben, eine immer wieder aufs Neue transformierbare Textur. Der problematischste Aspekt dieser neuen Theologie der Infrastruktur ist die unausgesprochene Priorität, die ihr zukommt, indem die Zukunft einer jeden Stadt auf sie baut. Ist es unmöglich, ein so unfassbares System zu lesen? Kann ein solches System überhaupt als Investigationsfeld dienen? Ist die Infrastruktur, und mit ihr die Verteilung der Güter, die Logistik von morgen, das Bankensystem, all die Plattformen und Protokolle, die sie installiert, dazu befähigt, Fragen zu Politiken und zu gemeinschaftlichen Entscheidungen einer anders gearteten Demokratie zu formulieren? Das sind die eigentlichen Problematiken, mit denen uns Athen heute konfrontiert. Um den gegenwärtigen Moment zu interpretieren, wenden wir die Technik des Pausierens an, frieren den Fluss des auf ewig unvollendeten Textes zu einer Momentaufnahme ein. Wir halten kurz inne und reflektieren über dieses Bild, während sich die Infrastruktur als unleserliches Element organisiert, als etwas, was stets in Bewegung bleibt und deshalb niemals ein keimenon sein wird, sondern immer nur ein unbeständiger und wandelbarer Text.
In diesem Sinne produziert die Infrastruktur des zeitgenössischen Athens ein neues unlesbares Feld, eine neue imaginierte – diesmal technische – Gottheit, einen neuen Analphabetismus. Wir sollen an sie glauben, doch wir können sie nicht lesen, sie nicht interpretieren oder kritisieren. Athen aber deckt die öffentliche Seite dieser bereits politisch gewordenen technologischen Macht auf. Der subalterne Teil dieser Struktur, der stets provisorische und nicht immer lokal zu definierende Süden, formiert sich in Athen zu neuem, nun doch wieder lesbarem Material. Insoweit die normativen Funktionen der Stadt als die Konstrukteure der neuen Ruinen der Infrastruktur verstanden werden, finden wir Athen noch nicht aufgegangen in den unsichtbaren Codes und den unzugänglichen Korridoren dieser stetig wachsenden Entität. Die verschiedenen keimena, die das Gebäude des heutigen Athens bilden, bilden auch die offenen Fragen und Leerstellen in diesem homogenen Feld. Die sichtbare Oberfläche der Stadt modelliert sich heute zu neuartigen Gefilden jenseits des idealisierten oder dämonisierten Athener Grundes, aus dem sie entstand, erfindet sich neu als eine bewusste bürgerschaftliche Perspektive. So wird sie heute zu dem enigmatischen Stoff, der einmal künden mag von gelebter Resilienz und der Verwirklichung eines aussichtsreichen Systems transformativer Akte, sei es nun im Einklang mit der Logik des Nordens oder auch gelegentlich einmal in Dissonanz zu ihr.
Aus dem Griechischen von Evi Chantzi