34 Freiheitsübungen

Wir laden Sie ein, im September 2016 Teil des Parlaments der Körper zu werden, einer öffentlichen Veranstaltung der documenta 14 im Städtischen Kunstzentrum Athen im Parko Eleftherias. Was in dieser Zeit hier stattfindet, ist weder eine Konferenz, noch eine Ausstellung.

Wir vermeiden gewohnte museologische Bezeichnungen, die Unterschiede zwischen Gespräch und Performance, Theorie und Handeln, Kritik und Kunst festlegen. Stattdessen laden wir 45 Mitwirkende ein, ihre Freiheit in einem Gebäude auszuüben, welches vor nicht allzu langer Zeit, in den Jahren der griechischen Diktatur, Hauptquartier der Militärpolizei war. Mit Foucault verstehen wir Freiheit weder als persönlichen Besitz, noch als Naturrecht, sondern als eine Form des Handelns. Wir treiben durch die Geschichte. Da ist ein Raum. Da sind ein paar Körper. Da sind einige Stimmen. Aber was heißt es, hier und jetzt beisammen zu sein? Was können wir tun? Wer und was zeigt sich? Welche Stimmen kann man hören, und welche bleiben stumm? Wie lässt sich Öffentlichkeit anders gestalten?

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Im Parlament der Körper finden Sie weder Stühle, noch eine feste Architektur. Wir wollen die Setzung des Publikums als ästhetische Besucher_innen oder neoliberale Konsument_innen vermeiden. Wir haben die Demokratiefiktion des amphitheatralen Halbkreises verworfen. Mit dem Architekten Oskar Hansen berufen wir uns auf das politische Potenzial der „offenen Form“. Die formbare Architektur von Andreas Angelidakis aus 68 Ruinenblöcken (Ruinen eines demokratischen Parlaments?) lässt sich in unendlichen Variationen zusammensetzen und immer wieder umbauen. Sie schafft vielfältige Übergangsräume für das Parlament der Körper. Tag für Tag sind Sie eingeladen, an diesem politischen Theater mitzubauen und in ihm Ort, Hierarchie, Sichtbarkeit, Maßstäbe usw. infrage zu stellen.

Diese 34 Freiheitsübungen sollen eine queere antikoloniale Symphonie Europas seit den 1960er Jahren ergeben, mit Dialogrollen und Auftritten für die dissidenten, heterogenen, ungehörten Erzählungen. Zunächst verknüpfen wir die linksradikale Tradition mit dem antikolonialen Selbstbestimmungskampf indigener Bewegungen in Europa. Die Stimme von Antonio Negri – Mitbegründer der Gruppe Potere Operaio (Arbeitermacht) im Jahr 1969 und Mitglied der italienischen Autonomia Operaia – trifft auf die von Niillas Somby, der im Norden Norwegens für die Selbstbestimmung der Sámi kämpft. Beiden wurde in den 1970er Jahren Terrorismus der einen oder anderen Art vorgeworfen.

Wir verzichten auf die gewohnte Gegenüberstellung von Diktatur und Demokratie, um so das Versagen der Demokratisierung unter dem Regime des Neoliberalismus besser zu verstehen – am Beispiel Griechenlands, aber auch Spaniens, Argentiniens oder Chiles: Wie kam es, dass der freie Markt mit der Freiheit verwechselt wurde? Zwar gelten die 1980er Jahre als eine Zeit des Niedergangs für gesellschaftliche Emanzipationsbewegungen, in der ein neuer demokratischer Konsens auf kapitalistischer Grundlage ideologische Gegensätze durch Wirtschaftswachstum ersetzte. Doch tatsächlich konnten antikoloniale, feministische, homo- und transsexuelle Initiativen sowie Aids-Aufklärungskampagnen gerade in dieser Zeit die Brüche im hegemonialen westlichen Diskurs herausarbeiten. Wäre es möglich, daran anknüpfend eleftheria (Freiheit) wider die kapitalistische Idee der Freiheit zu denken? Zunehmend greifen wir im Lauf der zehn Tage zeitgenössische Sprachen des Widerstands auf – die kurdische Revolution in Rojava, die Stimmen von queeren, transgeschlechtlichen oder anderen Sexarbeiter_innen sowie von Migrant_innen in der Türkei, in Griechenland, Mexiko oder Brasilien, die zeitgenössischen indigenen Kämpfe für Landrückgaben, die neuen politischen und künstlerischen Ansätze zur Erfindung anderer Formen von Affekt, Wissen und politischer Subjektivität, beispielsweise Ökosex, Queer-Indigenismus oder radikale Performativität. Insgesamt entsteht eine ganz andere politische und poetische Landkarte Europas als jene, die wir von der Europäischen Union kennen.

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