Gauri Gill

Gauri Gill, Jogiyon ka Dera, aus der Serie „Notes from the Desert“ (1999–), Silbergelatineabzug

Gauri Gill, Installationsansicht, Epigraphisches Museum, Athen, documenta 14, Foto: Freddie F.

Gauri Gill, Acts of Appearance, 2015–, Installationsansicht, Hessisches Landesmuseum, Kassel, documenta 14, Foto: Michael Nast

Gewagt balanciert Hooran auf einem zerklüfteten Felsen in Barmer, Rajasthan. Ihre nach oben gedrehten Hände wirken wie Klauen, ihr Blick furchterregend. Mir Hasan klammert sich an den Körper seines bettlägerigen Großvaters Haji Saraj ud Din, seine Augen blicken in Richtung Kamera. Diese berührenden Aufnahmen stammen aus der Serie „Notes from the Desert“ (1999–) und sind Teil von Gauri Gills Projekt, Leben und Erfahrungen ländlicher und migrantischer Gemeinschaften in der kargen Landschaft Rajasthans im westindischen Grenzgebiet zu dokumentieren.

Das Archiv der Künstlerin besteht aus Silbergelatineabzügen und entstand während wiederholter Aufenthalte in der Region. Die Fotografien erzählen von privaten Feiern ebenso wie von Verlust, familiären Konflikten, jahreszeitlich bedingter Not, Nomadentum und ländlicher Bildung. Das Erschaffen der Wüste in einer Fotografie gleicht einem Akt der Sedimentation, aufbauend auf winzigen Teilchen, die ihrerseits aus Vertrauen, Geschichtenerzählen und Zeugenschaft geformt sind. Gill formuliert einen Modus des Miteinanders, indem sie Loyalität und Kameradschaft der ethnografischen Perspektive vorzieht. Die einzigen Farbaufnahmen in ihrem Archiv, betitelt als „Ruined Rainbow Pictures“, stammen von Kindern, die fotografieren lernten und die Bilder als misslungene Experimente verwarfen. Die Künstlerin hat die falsch beleuchteten Negative gerettet und präsentiert die Abzüge als Ensemble zufälliger, spielerischer Begegnungen.

Gills Linse betrachtet Klassenzimmer, deren Wände mit Diagrammen, Karten, Schaubildern, anatomischen Zeichnungen und politischen Symbolen geschmückt sind – eine visuelle Grammatik des kollektiven Lernens, die das Erbe eines Regierungsprogramms namens Leher Kaksha sichtbar macht. Ziel des mittlerweile ausgelaufenen Projekts war es, visuelle Lernmaterialien für Kinder zu schaffen. Die Künstlerin, 1970 in Chandigarh geboren, arbeitete als Fotojournalistin, ehe sie sich einem größeren, kollaborativen Prozess zuwandte und ihren prüfenden journalistischen Blick zugunsten einer Poetik des Überlebens aufgab, in der bereits kleine Akte der Freiheit Anlass zur Freude bieten. Denken wir nur an das Buch Balika Mela (2011) mit Porträts junger Frauen aus ländlichen Regionen, aufgenommen in einem Zelt-Atelier. Oder an Arbeiten, die das Leben von Frauen wie Izmat und Jannat in Bild- und Textsequenzen beleuchten, die die Wüste in einen Ort der Erinnerung und biografischen Reise verwandeln.

„Fields of Sight“ (2013–2016) entstand gemeinsam mit Rajesh Vangad, einem Warli-Künstler der dritten Generation, der in einem Adivasi-Dorf im westindischen Dahanu lebt. Die Schwarz-Weiß-Bilder zeigen Landschaften und dörfliche Strukturen und folgen Gills künstlerischem Partner auf dem Weg durch seine Heimat. Vangad ergänzt die Aufnahmen durch ein weiteres Narrativ – Tuschezeichnungen, deren Warli-Ikonografie von Wäldern umgegebene Flüsse, animistische Rituale, seltene Pflanzenarten, einen Himmel voller Vögel und Rauchschwaden aus dem Kamin einer lokalen Fabrik durchzieht.

— Natasha Ginwala

Gepostet in Öffentliche Ausstellung
Auszug aus dem documenta 14: Daybook
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South Issue #8 [documenta 14 #3]