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Von der logokularen Anthropotechnik zu posthumanen Dispositiven: Überlegungen zu einem Manifest des postdiskursiven Zeitalters

Wir haben die Wahl, wer wir werden möchten, wenn wir über prinzipiell unentscheidbare Fragen entschieden haben.
– Heinz von Foerster

Was ist die Zukunft des Humanen, und welche Rolle muss der Kunst dabei zukommen, diese Zukunft zu bestimmen? Nachdem das philosophische Denken das „Ende des Menschen“ festgestellt oder, wie Jacques Derrida so treffend formulierte, die Möglichkeit erkannt hat, „ein menschenloses Bewußtsein [zu] imaginieren“,1 scheinen solche Fragen im Zentrum aktueller Debatten über das Zeitalter des Posthumanen (oder des Posthumanismus) zu stehen, ebenso wie die konzeptuellen Aporien und ontologischen Sackgassen der neoliberalen Globalisierung. Doch da der Mensch „eine junge Erfindung ist“, die „sich vielleicht jetzt abschließt“,2 wie Michel Foucault nahelegt, sollte die Diskussion über die Kunst nach dem Ende des Menschen eher mit einer gewissen Auflösung beginnen. Der hegemonialen Bedeutung von Frau/Mann (wo/man), ihrer Politik und ihrer Kunst, ein Ende zu setzen, das heißt über den Anthropozentrismus hinauszugehen, erfordert es, sich die Zukunft der Menschheit vorzustellen, indem man sich „jenseits traditioneller Kritiken und regressiver, deklaratorischer oder restaurativer ‚Lösungenʻ“ bewegt, wie Robin Mackay und Armen Avanessian feststellen.3 Der vorliegende Essay zielt daher darauf ab, zu erörtern, wie sich der Prozess der Subjektivierung in den vergangenen Jahrzehnten infolge des Neoliberalismus und der Weiterentwicklung der Gesellschaft des Spektakels verändert hat, um der folgenden Frage nachzugehen: Welche künstlerischen Reaktionen wären mögliche Mittel des Widerstands gegen eine solche Politik? Die Konzepte, die ich bei der Beschäftigung mit dieser Frage untersuche, sind nicht unbekannt, und die meisten von ihnen stammen aus dem Vermächtnis der Kritischen Theorie. Trotzdem sind sie nicht umfassend vertraut, da sie häufig losgelöst von Theorien behandelt werden, die Überlegungen zur Zukunft der zeitgenössischen Kunst anstellen. Und vielleicht muss die zeitgenössische Kunst selbst – oder jene human(istisch)e Praxis, die man bisher Kunst nannte – in diesem Gespräch eine Rolle spielen.

Um zu veranschaulichen, wie dieses komplexe Zeitalter voranschreitet, und um dem Unterfangen eines kritischen Posthumanismus einige Überlegungen hinzuzufügen, greife ich auf Foucaults archäologische Analyse des menschlichen Diskurses von Wissen und Macht zurück. Bekanntlich war Foucault einer der ersten Gelehrten, die über das sogenannte Ende des Menschen nachgedachten,4 und mit seinem Begriff des dispositif verfügen wir über ein angemessenes epistemologisches Instrument, um die gegenwärtige Lage des „sogenannten Menschen“ und des europäischen humanistischen Subjekts, das auf ihm beruht, zu untersuchen. Im Denken Foucaults sind Dispositive sexuelle, politische, juristische, pädagogische, religiöse und gegenderte Verhaltensmuster und Wissensschemata, die die Welt nicht nur reflektieren oder repräsentieren, sondern sie tatsächlich konstituieren. Sie verstärken und gewährleisten die Ausübung von Macht innerhalb des Gesellschaftskörpers und beschreiben, erklären und konstruieren zugleich dessen Subjekte. Foucaults Begriff der Gouvernementalität – ein Terminus, der organisierte Praktiken bezeichnet, das heißt jene Mentalitäten, Denkweisen und Techniken, die das permanente gouvernementale Eingreifen in die Gesellschaft aufrechterhalten – unterscheidet in der Geschichte der Machtverhältnisse zunächst drei Modalitäten: das Rechtssystem, die disziplinarischen Mittel, die in modernen Disziplinargesellschaften zum Einsatz kommen, und die Sicherheitsdispositive, die für unsere heutige Zeit charakteristisch sind. Macht ist nicht bloß naturgemäß einschränkend, sie ist auch konstruktiv, da sie die stärkste Kraft hinter der Konstituierung von „bedeutenden“ Lebenserfahrungen, Glaubenssystemen und insbesondere von subjektivierenden Wünschen ist. So gesehen, sind Dispositive im Grunde genommen immer biopolitisch. Sie zielen stets auf einen Prozess der „Normalisierung“ ab, wie Foucault in einer Vorlesung vom Januar 1975 behauptete, in der er den Begriff dispositif zum ersten Mal verwendete. In diesem Zusammenhang ist Macht, verstanden als Biopolitik, ein Prozess der Internalisierung, eine Vorstellung, die bereits eine aktive Beteiligung der Psyche impliziert.5

Foucault versteht unter Dispositiven in erster Linie architektonische und visuelle Systeme: Man denke beispielsweise an das Panoptikum oder die psychiatrische Klinik. Diese räumlich-optischen Szenarien verschiedener Räume der Einschließung (oder die Diagramme der Macht, wie Foucault in Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses schreibt) sind jedoch in erster Linie abhängig von Sprache, um funktionieren zu können. Und es ist immer eine pastorale Sprache – die Rede des Priesters, Psychiaters oder Erziehers –, die diese diskursiven Praktiken und Techniken der Macht und der Subjektivierung prägt. Letztere konstituieren historisch das Zeitalter des Menschen, wobei die Psychoanalyse das ultimative Werkzeug der Subjektivierungstechniken ist, über das der Kapitalismus verfügt, wie Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem Anti-Ödipus ausführen. Foucaults juridisch-diskursives Modell der Macht prägt seine Auffassung von Dispositiven als vorwiegend sprachlichen, architektonischen und optischen – man ist versucht zu sagen, logokularen – Rahmungen.6 Man kann Platos berühmtes Höhlengleichnis im siebten Buch seiner Republik, einem sokratischen Dialog über die Definition von Gerechtigkeit und den archimedischen Punkt des juridisch-diskursiven Modells der Macht, als ein ausgezeichnetes Beispiel für einen solchen Raum der Einschließung und als die beste Beschreibung eines Foucault’schen logokularen Dispositivs betrachten. Platos Gleichnis liefert eine gute Erklärung für Foucaults Theorie der Gouvernementalität und eine treffende Darstellung von Disziplinargesellschaften, ein Begriff, dem Foucault den größten Teil seiner wegweisenden Forschungsarbeiten widmete und mit dem man auch Platos Republik beschreiben könnte.

Gesellschaften, die im gegenwärtigen Stadium des Finanzkapitalismus – das heißt in seiner postindustriellen, mediatischen Phase – operieren, funktionieren jedoch nicht einfach auf der Grundlage von interpellierenden Akteuren, normativen Äußerungen und des Glaubens an die Freiheit menschlicher Handlungsmacht, mit allen angeblich rationalen und objektiven Entscheidungsfindungen, die dies impliziert. Die Ausübung und Auswirkungen von Macht auf alle Aspekte des menschlichen Lebens sind im Wesentlichen nicht diskursiv, sondern vielmehr techno-numerisch, wie Deleuze in seinem „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“ nahelegt:

Die numerische Sprache der Kontrolle besteht aus Chiffren, die den Zugang zur Information kennzeichnen bzw. die Abweisung. Die Individuen sind „dividuell“ geworden, und die Massen Stichproben, Daten, Märkte oder „Banken“. Vielleicht kommt im Geld noch am besten der Unterschied der beiden [Disziplinar- und Kontroll-] Gesellschaften zum Ausdruck, weil die Disziplin immer im Zusammenhang mit geprägtem Geld stand, zu dem das Gold als Eichmaß gehört, während die Kontrolle auf schwankende Wechselkurse, auf Modulationen verweist, die einen Prozentsatz der verschiedenen Währungen als Eich-Chiffre einführen.7

Wenn „jeder Bruchteil mentaler Aktivität in Kapital verwandelt werden muss“,8 wie Franco „Bifo“ Berardi schreibt, dann sollte eine Einschätzung dieser Lage in einem neuartigen episteme erfolgen, das Gesellschaften, die in Sicherheit und Disziplin investieren, in Kontrollgesellschaften transformiert. Wir sind nicht von einer Sicherheitsgesellschaft zu einer Kontrollgesellschaft übergegangen und haben dabei Erstere hinter uns gelassen, sondern wir haben uns zu einem Palimpsest entwickelt, das beide umfasst. Anstatt unsere derzeitige gesellschaftliche Lage im Sinne von Biopolitik zu beschreiben, könnte man den Begriff Semiopolitik verwenden, da dieser das Management unseres kognitiven und affektiven Lebens und unserer Zeit durch semiotische Operationen jenseits der Intelligibilität von Symbolen, Konzepten und Sprache treffend beschreibt. Diese Veränderung lässt sich auf einer epistemologischen Ebene als eine Entwicklung betrachten, die über deterministische Modelle hinausgeht – also über solche Modelle, die Phänomene, die das Leben organisieren, zurückführen auf hegemoniale Diskurse, soziale Strukturen oder technologische Einflüsse, und die behaupten, auf diese Weise Kontingenz in den Griff zu bekommen.

In einer Kontrollgesellschaft werden wir nicht mehr durch einschließende Strukturen (Schule, Fabrik, ja sogar das Fitnessstudio) eingeschränkt, sondern sind davon getrieben, ständig unsere „freie Zeit“ zu nutzen. Diese Aktivität wird nicht von einem zentralen Punkt aus überwacht (das panoptische Prinzip), sondern durch ein ausgedehntes Informationsnetzwerk, das Verhaltensweisen, Bedürfnisse, Wünsche und – was am bedeutsamsten ist – Zeitlichkeit nachvollzieht und codiert. Während es einerseits mehr Freiheit zu geben scheint, nimmt andererseits die Überwachung unserer Aktivitäten zu, die als Verhaltensmuster interpretiert werden. Eine solche Transformation spiegelt unser verändertes Verständnis von Wissen und Macht wider, die diese neuartige Lage stützen und rechtfertigen.

Jean Baudrillards These von der Zerstörung des Symbolischen durch die semiotische Ordnung (eine bedeutende Zäsur zwischen zwei historischen Epochen) und seine Idee eines Übergangs vom Zeichen zum Code beschreibt diese aktuelle Entwicklung zu Kontrollgesellschaften vielleicht am besten. Während das Symbolische die Äquivalenz zwischen dem bezeichneten Wert und dem Zeichen (wie etwa Lohn für Arbeit) aufrechterhält, beruht die semiotische Ordnung auf der Relativität und Unentscheidbarkeit zwischen ihnen.9 Sowohl die klassische Semiotik als auch die klassische Ökonomie erzeugen eine Beziehung zwischen einem Zeichen und einer Bedeutung oder zwischen dem ökonomischen Wert einer Ware oder Dienstleistung und der Summe der gesellschaftlich erforderlichen Arbeit, um diese zu produzieren. Diese Entsprechung stellt die quasitheologische arche aller gesellschaftlichen, ökonomischen und politisch-philosophischen Mainstream-Diskurse dar.10 Doch wie Baudrillard bemerkt, hat das Kapital im neuen Zeitalter „die Zeichen von dieser ‚Naivität‘ [etwas zu bezeichnen, für etwas zu stehen] befreit, um sie der reinen Zirkulation auszuliefern.“11 Ein sichtbarer Beweis für die Gültigkeit einer solchen Behauptung ist das aktuelle internationale Bankensystem, das seit den 1980er-Jahren als Grundlage des Finanzkapitalismus entwickelt wurde. Diese Entwicklung beruhte auf den virtuellen, ultraschnellen und grenzenlosen Kapitaltransaktionen in digitalen Netzwerken. Solche globalen Operationen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie selbst für die bestinformierten Experten des Finanzsektors undurchschaubar und mit Sicherheit unklar sind (was dies betrifft, ist „shadow banking“ mehr als eine Metapher).12

Christos Karakepelis, Back Focus Greek History, Filmstill aus Raw Material (2011), 78 Min.

Mithilfe des Arbeitsbegriffs Semiomacht lässt sich die Welt, die nach 2008 in die Fänge der neoliberalen Globalisierung geraten ist, genauer analysieren. Das Semiokapital geht über jede repräsentationale Ordnung hinaus, das heißt, es übersteigt jede systematische diskursive Intelligibilität, und seine Bedeutung bleibt grundsätzlich dunkel.13 In Foucaults Darstellung der Biomacht, in der marxistischen Beschreibung der Arbeitskraft und selbst in der Freud’schen Rechtfertigung der Libido – die allesamt starke Paradigmen der Signifikation darstellen – ist die Intelligibilität hingegen noch intakt.14 Tatsächlich entspricht Baudrillards Begriff der Simulation dem, was Guattari asignifikante Semiotiken nennt, wobei sich beide auf eine neuartige Situation in der Entwicklung des Kapitalismus beziehen, die um 1971 entstand – in dem Jahr, das der Anthropologe David Graeber in seiner gefeierten aktuellen Untersuchung über die Weltherrschaft der Schulden emphatisch als den „Anfang von etwas, das noch nicht bestimmt werden kann“ bezeichnet.15 Der Begriff Semiomacht legt nicht nur ein anderes Verständnis von Ökonomie nahe, das nicht mit Chrematistik gleichgesetzt werden kann, sondern – was wichtiger ist – auch eine Spaltung zwischen dem humanistischen Zeitalter, das im Rahmen der semeiosis von Sprache, ökonomischem Tausch, Akkumulation und Macht funktioniert, und der posthumanen „Ordnung der Hyperrealität“, die durch Umkehrbarkeit, Replikation und Neuartigkeit definiert ist. Diese neuartige Ordnung der semeiosis und das neue Zeitalter des Menschen folgen weder dem klassischen episteme noch irgendwelchen Prinzipien kommunikativer Rationalität und demokratischen politischen Argumentationen (auf die wir fortan vielleicht mit einer gewissen Nostalgie zurückblicken). Tatsächlich führt der Niedergang dieser Prinzipien im postdiskursiven Zeitalter zu Dilemmata, die ebenso die politische Ordnung wie Fragen von Legitimität und Kompetenz betreffen.16

Guattaris bedeutendster Beitrag zu diesem fortlaufenden Diskurs ist seine Untersuchung all jener heterogenen Elemente der Konfiguration von Körpern, Technologien und Materie, die an der Produktion von Subjektivität (und Macht) beteiligt sind.17 Dass das Zeichen zu einem Code wurde, hat Auswirkungen auf die Untersuchung, wie vorindividuelle körperliche Kräfte ein affektives Dispositiv der Sozialisierung, Subjektivierung und Wertproduktion bilden – körperliche Kräfte, die mit autonomen Reaktionen verknüpft sind, welche die Fähigkeit eines Körpers, zu agieren oder mit anderen zu interagieren (oder anders gesagt, zu beeinflussen oder beeinflusst zu werden), steigern oder mindern.18 Diese neuartige Epistemologie, die Rosi Braidotti als „materie-realistische“ Entwicklung bezeichnet, entwirft eine Theorie des Affekts „im Verhältnis zu den Technologien, die es uns ermöglichen, Affekt zu ‚sehen‘ und affektive körperliche Fähigkeiten jenseits der organisch-physiologischen Grenzen unseres Körpers zu entwickeln“, wie Patricia Ticineto Clough bemerkt.19 In der Lage zu sein, diese Technologien zu „sehen“, hält jedoch nicht unbedingt an Praktiken der Signifikation innerhalb des Paradigmas des Repräsentationalismus fest, die mit dem transzendentalen Blick des (humanistischen) Subjekts einhergehen.20 Eine solche Auffassung von Subjektivität steht, mit anderen Worten, nicht in Einklang mit der berühmten aristotelischen Vorstellung vom Menschen als zoon logikon – das Tier, das sprechen kann –, sondern entspricht eher einer anderen (und weniger beachteten) aristotelischen Sichtweise, nämlich der vom Menschen als zoon mimetikotaton, das lernfähig ist und dieses Wissen durch Nachahmung und Wetteifern weitergibt. Mit diesem Gedanken läutet Aristoteles die derzeitige affektive Wende ein und zeigt eine Grundregel der Affektivität auf, die später von Spinoza analysiert und unter anderem von Deleuze und Guattari theoretisch ausgearbeitet werden sollte.21

Guattari zufolge umfasst die Ausübung von Macht und die Produktion von Subjektivität in einem Universum affektiver Dispositive sowohl signifikante semiotische Komponenten als auch „asignifikante semiologische Dimensionen“, „parallel oder unabhängig von“ jeglicher Signifikationsfunktion, die diese Komponenten haben können.22 Denker wie Maurizio Lazzarato behaupten, dass „asignifikante Semiotiken und Maschinen [in meiner Terminologie: nichtlogokulare Dispositive] in der präverbalen Welt menschlicher Subjektivität genauso funktionieren wie nonverbale Semiotiken, Affekte, Zeitlichkeiten, Intensitäten, Bewegungen, Geschwindigkeiten und nichtpersonale Beziehungen, die sich nicht einem Selbst, einem individuierten Subjekt zuordnen und daher wiederum sprachlich nur schwer begreifen lassen.“23 In dieser Hinsicht fördert das postdiskursive Zeitalter der asignifikanten Maschinen in Kontrollgesellschaften eine bestimmte Art von Gouvernementalität, die auf tatsächlich zunehmend maschinenhafte und affektive Weise Subjektivitäten produziert.24 Dementsprechend ersetzt das aristotelische Konzept des zoon mimetikotaton, das sich ebenso auf Maschinen wie auf die asignifikanten Aspekte menschlichen Verhaltens beziehen lässt, immer mehr jene Vorstellungen von Politik, die allein auf Diskursivität und sprachlichen Imperativen beruhen. Dieser Verschmelzung des nichtsprachlichen Anteils der Erfahrung mit jenem Anteil der Erfahrung, der in Worte gefasst wird, sollte jede politische Theorie Rechnung tragen. (Lenins Diktum, dass „eine Lüge, die oft genug erzählt wird, irgendwann zur Wahrheit wird“, bekommt eine neuartige Bedeutung, wenn man das Repetitive als eine nachahmende Handlung betrachtet, die ihre eigene Wirklichkeit erzeugt.)

Für viele Wissenschaftler ist das Sinnbild unserer derzeitigen Kontrollgesellschaft, die affektive Dispositive einsetzt, das Netzwerk als solches, wie Martijn Konings schrieb:25

In einer hochgradig vernetzten Gesellschaft funktioniert Kontrolle auf einer immanenten Ebene, dank grundlegender Verbindungen und der Logik emotionaler Beteiligung. Macht unterdrückt, vereinheitlicht oder diszipliniert nicht, sondern sie moduliert, und funktioniert durch die Art und Weise, wie sich Identitäten durch Verbindungen entwickeln. […] Es handelt sich um eine mit Feedback-Mechanismen ausgestattete Disziplin, die ein vollautomatisches Funktionieren von Autorität ermöglicht. Das Netzwerk wird zu einem „glatten“, nahtlosen sozialen Raum, der seine Kontrollmechanismen durch die Reaktion auf veränderte Umstände mühelos erweitert und uns unsere eigene Unterdrückung freiwillig aufführen lässt.26

Macht und Wissen sind Körpern durch technologische Rahmenbedingungen wie Massenkommunikation und Informatik-Schnittstellen eingeschrieben, die eine greifbare techno-numerische Materialität besitzen, welche in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens wirksam ist und zugleich in die biologische Materialität von Körpern eingreift. Wir müssen kein menschliches Prothesengeschöpf und keine biologisch verbesserten Cyborgs heraufbeschwören, um diese Behauptung zu veranschaulichen. Inmitten eines globalen Kriegs gegen den Terror, der Verdinglichung des menschlichen Erbguts und anderer Genome, der Trennung der sozialen Interaktion vom physikalischen Körper durch virtuelle „soziale“ Medien und der Verlagerung von der Produktion zur Aufmerksamkeitsökonomie kann Biopolitik nur im Rahmen einer weiter gefassten Vorstellung des Foucault’schen Dispositivs verstanden werden. Daher versuchen Autoren wie Lazzarato und Bernard Stiegler zu untersuchen, wie Biomacht in einer Herangehensweise funktioniert, die den „noopolitischen“ (Lazzarato), „psychopolitischen“ (Stiegler) oder gar „zoopolitischen“ (Braidotti) Charakter des postdiskursiven Zeitalters erklärt.27 Semiopolitik funktioniert innerhalb des Doppelcharakters der spätmodernen sozialen Dispositive: Diese sind Zeichen und Maschine zugleich; das heißt, sie sind sowohl semiotisches Instrument als auch Techno-Zeichen, welche die Affektivität und damit die lebendige Materie oder das, was Braidotti als „Zoé“ bezeichnet, manipulieren.28

So gesehen, wird die politische Ökonomie selbstverständlich in erster Linie zu einer Medientheorie, da Theorien, die sich auf die konventionelle Handlungsmacht politischer Subjekte konzentrieren, einfach zu kurz greifen, um derart komplexe Lebensweisen zu verstehen.29 Im Rückgriff auf die Terminologie Ludwig Wittgensteins stellen diese Lebensweisen „Sprachspiele“ dar. Allerdings sind semiopolitische Dispositive oder Vektoren der Subjektivierung eher präkognitiv und präverbal oder außersprachlich.30 Doch sie sind auch biotechnologisch und kybernetisch.31 Solche Dispositive verlangen nach einem kritischen Dispositiv, das ihre Funktion erklären und ihre Bedeutung zu entschlüsseln vermag. Tatsächlich ist der neuartige Zustand von Dispositiven durch das Netzwerk charakterisiert, das sich herausbildet, aus unzuverlässigen Elementen besteht, instabil ist und eher dem System einer Kybernetik zweiter Ordnung in einem Feedback-Prozess gleicht. Berardi beurteilt die Situation folgendermaßen:

Seit dem Verschwinden der fordistischen Disziplin befinden sich die Individuen in einer Situation scheinbarer Freiheit. Niemand zwingt sie, Unterwerfung und Abhängigkeit zu ertragen. Der Zwang ist nun vielmehr in die technischen Details der gesellschaftlichen Verhältnisse eingebettet, und die Kontrolle wird durch die freiwillige, aber unvermeidliche Unterwerfung unter eine Verkettung von Automatismen ausgeübt. […] Microsoft handelt nur scheinbar mit Produkten und Dienstleistungen. In Wirklichkeit handelt es mit einer Form von kybernetischer Organisation, die – wenn sie erst einmal installiert ist – die digitalen Informationsströme durch das Nervensystem aller entscheidenden Institutionen des heutigen Lebens lenkt.32

Für Lazzarato hingegen ist es „das Ziel kapitalistischer Maschinen […], Individuen mit Mustern ‚bewussterʻ oder ‚unbewussterʻ Verhaltensweisen zu versorgen, die sie dazu zwingen, sich den ‚Übergangsritualen‘ und ‚Initiationen‘ des Geschäftslebens, des Wohlfahrtsstaats, der Konsum- und Mediengesellschaft et cetera zu unterwerfen.“33 Die asignifikante Semiotik und die Kette der Automatismen, die diese Verhaltensweisen nach sich ziehen, erklären die Existenz dessen, was man als „Technisch-Unbewusstes“ bezeichnen könnte. Letzteres hängt mit Gottfried Wilhelm Leibniz’ wegweisender Idee zusammen, dass es Wahrnehmungen gibt, die vom Geist des Subjekts vollkommen unbemerkt bleiben können, weil sie zu schwach oder zu verworren sind oder weil sie in den Massen anderer, zusätzlicher Wahrnehmungen zu sehr untergehen, um ins Bewusstsein zu treten. Dieses technische Unbewusste ist automatisiert, akognitiv, nicht reaktionsfähig und entspricht den gesellschaftlich akzeptierten menschlichen Verhaltensweisen. Seine Auswirkungen gehen über die Auswirkungen des marxistisch-althusserianischen gesellschaftlichen Unbewussten hinaus. Dispositive stellen Kräfte dar, die sich ähnlich wie Informationsviren, wie submnemonische Knotenpunkte verhalten und die körperliche Erfahrung betonen.

Was ist der am weitesten verbreitete Typus einer solchen aktualisierten Subjektivität, die das technische Unbewusste hervorbringt? Nun, ganz sicher nicht der aufgeklärte Homo universalis, den die philosophische Tradition des Humanismus hochhielt. Können wir stattdessen die Heraufkunft des einzigartigen „unternehmerischen Selbst“ feiern, die Ende der 1990er-Jahre verkündet wurde? Vielleicht finden wir den perfekten Kandidaten für diese Position in der fiktiven, cartoonhaften Superhelden-Figur des Tony Stark alias Ironman – ein erfolgreicher CEO, Millionär, genialer Erfinder und Programmierer, und ein Womanizer mit künstlerischen Anwandlungen. Das abstrakte Ideal des Mannes (und „seines anderen Geschlechts, der Frau“,34 wie Braidotti schreibt) als Symbol der antiken Menschheit wird nun von einigen Halbgöttern und übernatürlichen Helden verkörpert, die von Marvel Comics und Marvel Studios – beide im Besitz von Walt Disney – zum Leben erweckt werden. Diese „Helden“ – englischsprachig, ansehnlich, diensttüchtig, ohne offenkundige Anzeichen einer bestimmten Klassen- oder Gender-Zugehörigkeit, oft entsexualisiert, frei von Geldsorgen oder Stress mit dem Finanzamt – leben in einem Zustand endloser Euphorie: makellose Ikonen der kulturellen Logik des fortgeschrittenen Neoliberalismus.35 Im unternehmerischen Selbst fallen „Arbeit“ und „Arbeit am Selbst“ in eins. Dieses unternehmerische Selbst ist einer der Avatare des modernen Individuums, das Peter Sloterdijk in seiner Studie zur Anthropotechnik als praktizierendes, übendes Wesen dargestellt hat – ein Wesen, das sich durch Exerzitien selbst erzeugt und dadurch über sich hinwächst. Bauern, Arbeiter, Krieger, Yogis, Rhetoren, Musiker, Models, Manager, Informationsarbeiter und Schreiber aller Art (zu denen wir alle potenziell gehören) verkörpern diese Existenzweise am offenkundigsten.36

Doch warum führte dann der Übergang vom industriellen zum postindustriellen Zeitalter (oder, anders gesagt, von Sicherheitsgesellschaften zu Kontrollgesellschaften) nicht zu einem glücklichen Leben des unternehmerischen Selbst, sondern stattdessen zu den „Armeen von kreativen Technikern, von liberalistischen Programmieren und Künstlern“, die bald zu „den Proletariern der Intelligenz wurden, zu Menschen, die nichts als ihre kognitiven Fähigkeiten besaßen“?37 Warum wurden wir keine zufriedenen Informationsarbeiter, sondern erlebten das Aufkommen des unwichtigen, entpersönlichten und traurigen „verschuldeten Menschen“?38 Der Ökonom Tomáš Sedláček formuliert es in aller Deutlichkeit aus einer ökonomischen Perspektive: Im Postkapitalismus wurde das Kapital für die Mehrheit der Menschen in Schulden transformiert, während es für eine sehr kleine Minderheit in eine beschleunigte Anhäufung von Vermögen umgewandelt wurde. Wenn die Wirtschaft heute auf der Grundlage einer „künstlichen Wachstumsstimulation durch Schulden“ funktioniert,39 dann ist Governance heute in erster Linie Governance durch Schulden, und zwar vor allem durch Schulden gegen Zinsen – ihre einzige juristisch akzeptable Form.

Dies ist eines der machtvollsten noopolitischen oder psychopolitische Dispositive: Das Regieren durch Schulden ist zur zeitgenössischen Form der biopolitischen Automatisierung geworden, die wirkungsvollste Form einer frei flottierenden Kontrolle, die an die Stelle der alten disziplinären Operationen getreten ist. Börsenschwankungen, „Finanzströme, die durch Online-Trading, den Werbezyklus, Risikokapital und Pensionsfonds erzeugt werden“,40 wurden zu den affektiven Kräften, die Verhaltensweisen bestimmen – einschließlich der Art und Weise, wie wir von der Zukunft träumen. Damit kommen wir zum Thema der Subjektivierung im Kontext des neoliberalen Kapitalismus, in dem der Hauptweg zur Konstruktion von Subjekten (mentale Entwürfe und affektive Wahrnehmungen der Welt) im semiotischen Regime der Schulden gegen Zinsen besteht.41 Wie bei den Griechen des heiligen Paulus erweitert sich die ursprünglich pragmatische Bedeutung des Wortes khréos (im Sinne von „Notwendigkeit“, katà tò kreòn),42 um nun neben einer finanziellen Verpflichtung auch eine Verpflichtung gegenüber Gott zu implizieren; der verschuldete Mensch steht daher ebenso für ökonomisches Handeln wie für eine moralische Haltung.43 Die verschuldete Frau, der verschuldete Mann sind das zeitgenössische Dispositiv der Subjektivierung, da „die Produktion von Subjektivität auf Schulden beruht“, während „sich der Klassenkampf in den Schutz von Kreditgebern und Inhabern von ‚Sicherheitenʻ verwandelt hat.“44

Diese Entwicklung von Governance durch Schulden hat jedoch tieferliegende Wurzeln, die bis zu den Anfängen des Okzidents zurückreichen. Giorgio Agamben hat eine bedeutende Archäologie dieses neuartigen, maschinenhaften Modus der Semiotisierung hervorgebracht, indem er den Foucault’schen Dispositiv-Begriff analytisch und philologisch zurückverfolgte: In Herrschaft und Herrlichkeit deckt er den theologisch-ökonomischen Charakter heutiger Gesellschaften auf, indem er untersucht, wie die gesellschaftliche Kontrolle durch Finanzspekulationen funktioniert. Das oberste Ziel seiner Recherche besteht darin aufzuzeigen, dass Ökonomie nicht rational funktioniert, sondern ein notdürftig ideologisch konnotiertes und historisch entstandenes Verhältnis ist, das die Beziehungen zwischen Menschen und ihrer Umgebung definiert und manipuliert, indem es sie in eine systemische und hochgradig ideologisierte Weltordnung einschreibt. Er definiert Gouvernementalität als die politische Aneignung von Theologie – eine säkularisierte Version religiöser Eschatologie und sozialer Kontrolle mithilfe der Chrematistik oder der Kunst, reich zu werden.45 Aufgrund des eschatologischen Entwurfs der oikonomia oder Ökonomie46 werden Schulden zu einer Reserve potenzieller und zukünftiger Bedeutung, zu einer Verbindlichkeit, die konstatiert werden muss, und zu einem Wert, den es zu erlangen gilt.

Christos Karakepelis, Back Focus Greek History, Filmstill aus Raw Material (2011), 78 Min.

Das Prinzip der Schulden gegen Zinsen verweist in grundlegender Weise auf den ontologischen Kern des modernen Ökonomie-Begriffs, das heißt auf die Ökonomie als Mangelverwaltung angesichts eines antizipierten „Endes der Welt“. Auch wenn es unorthodox klingen mag, ist Zeit – und in diesem Zusammenhang die kommende Zeit – das gefährdetste und knappste Gut; daher ist Ökonomie das monetäre Management der Gegenwart (wie im Fall von Lohnarbeit) und die Kapitalisierung der Zukunft (Investment Banking). Der dystopische Science-Fiction-Film In Time (2011) von Andrew Niccol zeigt eine Gesellschaft, in der die Menschen mit Fünfundzwanzig aufhören zu altern. An ihren Armen befinden sich Uhren, mit denen man Zeit tauschen kann und die als ultimative Währung dienen. Man lebt, solange man genug Zeit akkumuliert. Der Film veranschaulicht etwas, was Berardi als einen zentralen Aspekt des Kapitalismus betrachtet: „Das Kapital [das heißt das Semiokapital] rekrutiert keine Personen mehr, sondern kauft Zeitpakete, die von ihren zufälligen und austauschbaren TrägerInnen getrennt sind. Die entpersonalisierte Zeit wird zum wahren Agenten des Wertschöpfungsprozesses, und diese Zeit hat weder Rechte, noch kann sie Forderungen stellen.“47 Biopolitische Kontrolle wird chronopolitisch.

Diese unerklärliche Doktrin der übernatürlichen Fähigkeit, über die Zeit zu herrschen, bildet die mythisch-konzeptuelle Grundlage des Okzidents und den autopoietischen Brennpunkt der Ökonomie und damit des Kapitalismus.48 Die Knappheit der Ressourcen, die Kontrolle über menschliches und anderweitiges Erbgut, die Aberkennung von Landrechten und der Landraub, ja sogar Hunger und Entbehrungen können als Begleiterscheinungen einer künstlichen Situation betrachtet werden, in der Zeitknappheit aufgezwungen wird. Die modernen Wirtschaftswissenschaften stellen diesbezüglich nicht nur das Dispositiv zur Normalisierung menschlichen Verhaltens gegenüber Währungssystemen und ihren Ideologien dar; sie sind auch das Mittel, um Zeit zu managen und zu kontrollieren. Indem die Ökonomie nicht wahrscheinliche oder wünschenswerte Versionen der Zukunft behauptet (Futurologie), sondern indem sie bloß eine einzige mögliche Zukunft antizipiert und auf diese hinarbeitet, ist sie eine rein theologisierte Form des Futurismus. Durch die Ritualisierung der Ewigkeit verwandelt der Kapitalismus den historischen Prozess in einen eschatologischen Plan, der sich gemäß der exakten Planung der bio-chronopolitischen Kontrolle entwickelt.49

Die Lenkung des Zeitstroms, die im Zentrum der semiokapitalistischen Spekulation steht, wird erzeugt durch die aktuelle Verschmelzung von Ökonomie und Technologie (der endgültige Ausdruck des Heidegger’schen Gestells). Damit kommen wir zu einem weiteren bedeutenden Dispositiv der Subjektivierung und zum zweiten Beispiel für Anthropotechnik, das in einem direkten Zusammenhang mit den signifikanten Technologien von Zeit und ihren ikonischen Bedeutungen steht: der (postkinematische) Avatar.50 Das Kino und unsere maschinell vermittelte Wahrnehmung fungieren als eines der maßgeblichen Dispositive, die Subjekte mit Identitäten und Vorbildern für ihre Verhaltensweisen ausstatten. Die Logik der Subjektivierung ist unmittelbar verknüpft mit dem Begriff des Icon, jenen Netzwerken und Knotenpunkten, die Bedeutungen erzeugen und durch die profanen Praktiken des Alltags wirksam werden. So gehören die Sozialen Medien zu jenen Maschinen einer sich selbst erzeugenden Ikonizität, die ein Repertoire von Verbindungs- und imaginären Beziehungsmustern steuert, die allesamt libidinösen Charakter haben, aber auch im Alltag anwendbar sind.51 Ein Icon, bemerkte Martijn Konings,

genießt allgemeine und unmittelbare Anerkennung, doch seine Bedeutung erzeugt ein zutiefst persönliches Echo und ist in der Lage, die Besonderheiten und chaotischen Mediationen unseres eigenen Lebens anzusprechen. Es ist vollkommen öffentlich und objektiv und spielt dennoch mühelos auf der Klaviatur unserer subjektiven Erfahrung, indem es die komplexen Netzwerke der Verbindungslinien organisiert, die unser Leben mit der hegemonialen Ordnung verknüpfen. Es ist der Dreh- und Angelpunkt jener ökonomischen Logik, die das Selbst und die Ordnung im Inneren zusammenhält.52

Der Einfluss der Dispositive medialer Bilder (wie Kino und Fernsehen, aber auch Software und Geräte der vernetzten Information und Kommunikation) auf die Genese von Subjektivität ist weithin belegt. Das Emblem unserer neuen Kultur ist das Selfie, und so ist es kein Zufall, dass die Zeitschrift Time das „Du“ zur Person des Jahres 2006 erklärte. Dieses „Du“ bezieht sich jedoch nicht auf eine reale Person, sondern vielmehr auf den ikonischen Wert eines körperlosen, generischen, idealen Selbst. Das erinnert mich an den fiktiven Charakter Jake Sully, den querschnittsgelähmten ehemaligen US-Marine in James Camerons Science-Fiction-Blockbuster Avatar (2009), der ein biomechanisches Mischwesen nutzte, um die paradiesische außerirdische Fantasiewelt zu betreten. Die Fähigkeit, seine Form zu verändern (Metamorphose), die in der Mythologie, in der Folklore und im zeitgenössischen Mainstream-Fantasy-Film höchst geläufig ist, stellt eine Form der Wandlung dar, die eine Transformation des Subjekts erlaubt, bei der seine intrinsischen und unerlässlichen (menschlichen) Eigenarten erhalten bleiben. Für uns Moderne besteht die Gestaltung des Selbst in einer endlosen Reihe von Neuinszenierungen, Remixes und Recyclings bereits existierender Szenarien, die oft mithilfe unserer Technologien zum Einsatz gebracht werden.53 Die Anthropotechniken der Transformation nehmen eine beinahe mythische Bedeutung an, da sie stets das Versprechen der Moderne – und in diesem Zusammenhang auch das der Aufklärung – implizieren, dass ein linearer und teleologischer Prozess zu einem Ziel in der Zukunft führt. Wenn einem die kapitalistische, technowissenschaftliche Marktmentalität eingeschrieben ist, die eine Pseudo-Auswahl identischer Dienstleistungen in verschiedenen Verpackungen bietet, fällt es schwer, sich alternative Existenzweisen vorzustellen. Zeigt sich in dem anhaltenden Wunsch nach Umformung unsere ureigene Angst vor dem Vergehen der Zeit? Oder ist dieser Konsum von Icons in Wirklichkeit eine arbeitsintensive Aktivität, bei der unsere aufmerksame Präsenz für die Errichtung von Scheinwelten, die den Stempel von Konzernen tragen, unverzichtbar ist?

Angesichts solcher Fragen gilt weiterhin Guy Debords epistemologisches Paradigma, das eine seiner berühmten Thesen auf den Punkt bringt: „Das Spektakel ist das Kapital in einem solchen Grad der Akkumulation, daß es zum Bild wird.“54 Jonathan Beller bewahrt die politische Kraft von Debords Gedanken und behauptet, dass „das Kino und seine darauffolgenden (wenn auch noch simultanen) Formationen, insbesondere das Fernsehen, Videos, Computer und das Internet, entgrenzte Fabriken sind, in denen Zuschauer arbeiten, das heißt, in denen wir wertschöpfende Arbeit leisten. […] [W]ir arbeiten mühsam im Bild. Das Bild, das alle Erscheinungen durchdringt, ist die Inszenierung der neuen Arbeit.“55 Vor diesem Hintergrund erweitert sich Foucaults Panoptismus mithilfe wertschöpfender Bilder, die aus unserer Aufmerksamkeit Kapital schlagen, zu einem medialen Panlaborismus.56 Diese Bilder zielen in erster Linie zweifellos auf unser Gefühlsleben ab, wobei die Sexualität im Vordergrund steht und zum wichtigsten Gegenstand politischer und ökonomischer Aktivitäten und Kontrolle wird. Der animierte postkinematische Avatar steht exemplarisch für den Konvergenzpunkt des fortgeschrittenen Technokapitalismus und globaler Mnemo- and Pharmakotechnologien und gipfelt im Streben nach „mehr und reiner“ Lust.57 Wie Foucault feststellte, ist die Unterwerfung durch Lust die avancierteste Form kapitalistischer Arbeit, und die Arbeit, die man zum Vergnügen macht, ist ihr Sinnbild. Diese kulturelle Entwicklung, die von den Medien und ihrer endlosen, Informationen produzierenden Stimulation der Aufmerksamkeit verkörpert wird, wurde in einem ziemlich apokalyptischen Tonfall bezeugt. Sie wurde als ein politischer Kampf verstanden, der sich auf unsere Psychologie, unsere Sensibilität und unsere Sprache auswirkt.58 Die mühsame Arbeit am Vergnügen ist eine Frage der technisch optimierten Valorisierung der eigenen Identität.

In seiner Auseinandersetzung mit MUVEs (Multi-User Virtual Environments) und MMORPGs (Massively Multiplayer Online Role-Playing Games) wie Second Life und World of Warcraft bemerkt Ken Hillis, dass Online-Avatare den einzelnen Spieler mittlerweile nicht nur repräsentieren, sondern ersetzen, und spricht von der Entstehung eines „Zeichen/Körpers, der den vernetzten virtuellen Raum einnimmt“.59 Für Hillis sind „Avatare […] Körper-Double, die sich als eine Art individuierter Öffentlichkeit betrachten lassen, während sie sich durch Ersatz-Räume bewegen, die sie anscheinend nach Belieben bevölkern. Diese Avatare vollziehen eine auf Bildern beruhende Körperpolitik, wodurch ihnen ein intensiver Affekt zukommt.“60 Die Körper-Double erzeugen nicht nur die Illusion von Präsenz; noch wichtiger ist, dass sie die psychologische Unterscheidung zwischen repräsentierter und physikalischer Realität auslöschen und dabei eine sinnliche Erfahrung suggerieren, die größere Mobilität, eine intensivere und vertiefte Kommunikation, eine höhere Kontrolle über das soziale Miteinander, ein besseres Selbstwertgefühl und letztlich mehr Chancen auf Selbstverwirklichung verspricht. Zu diesem Zweck wird das Online-Double dank der phantasmatischen Steigerung seines Potenzials – das heißt aufgrund seiner noch nicht faktischen (sondern virtuellen) Eigenschaften – realer als das faktische. In einer verbundenen und affektiven Welt schlägt der postkinematische Avatar Kapital aus dem Virtuellen, dem Möglichen. Der Einsatz des postkinematischen Dispositivs, also das Erleben synthetischer, digitaler Bilder und die mimetische Übernahme dieser Bilder im Innersten der Subjektivität, ist nicht nur ein Merkmal von Online-Avataren, sondern ein Zustand posthumaner Zeitlichkeit im Allgemeinen. Darauf zielte Stiegler mit seiner Erklärung der „kinematischen Konstitution des Bewusstseins“ ebenso ab wie mit seiner These, dass die Kultur im Wesentlichen ein mnemotechnischer Zustand des Zeitstroms ist.

In einer seiner fabelartigen Geschichten schreibt Jorge Luis Borges über zwei Welten, die Welt der Spiegel und die Welt der Menschen, und darüber, wie die Spiegelleute zu Gefangenen wurden. Durch einen Zauberspruch wurde den Spiegeln auferlegt, „wie in einer Art Traum alle Taten der Menschen zu wiederholen.“61 Borges’ Geschichte deutet an, wie wir zu Gefangenen unserer eigenen Bilder und zu bloßen sklavischen Reflexionen geworden sind. Doch in der Tiefe der Borges’schen Spiegel kann man flüchtig auch eine andere virtuelle Welt erblicken: den Tag, an dem der Bann gebrochen werden und eine postsignifikante Welt entstehen könnte, in der die Spiegelgeschöpfe und die Menschen harmonisch zusammenleben werden.

Wenn es mithilfe des Kinos möglich wird, die Merkmale einer präsignifikanten Semiotik wiederzuentdecken, dann sollte es auch möglich werden, die asignifikanten Aspekte verschiedener medialer Dispositive (Foucaults logokulare Dispositive, Debords Bild-als-Kapital oder Stieglers mnemotechnische Settings) jenseits ihrer beabsichtigen Zwecke zu nutzen, um solchen eindimensionalen und ikonischen Subjektivierungen entgegenzuwirken. Selbst wenn das Ableisten wertschöpfender immaterieller Arbeit mithilfe des Bildes zeitgenössische Avatare produziert, muss sich eine solche Produktion nicht zwangsläufig Stereotypen und Icons anpassen. In einer Diskussion aktueller Filme und Musikvideos kommt Steven Shaviro zu dem Schluss:

Diese Werke sind insofern symptomatisch, als sie Indizes komplexer soziale Prozesse bilden, die sie umwandeln, verdichten und in einer Form neu artikulieren, die man mit Deleuze und Guattari als „Empfindungsblöcke“ bezeichnen könnte. Doch sie sind auch in dem Sinne produktiv, als sie soziale Prozesse nicht repräsentieren, sondern vielmehr aktiv an diesen beteiligt sind und zu ihrer Entstehung beitragen. Filme und andere Musikvideos sind, ebenso wie andere Medienarbeiten, Maschinen, die dazu dienen, Affekte zu erzeugen und aus diesen Affekten Kapital zu schlagen oder Gewinn zu ziehen.62

Ich würde hingegen argumentieren, dass Affekt nicht in eine existierende techno-mediale Maxtrix eingeschrieben und in dieser verwertet werden muss. Wenn mediale Dispositive sowohl Subjektivität erzeugen als auch zum Semiokapital beitragen können, können sie womöglich auch über die Trugschlüsse, Widersprüche und Absurditäten des Semiokapitalismus hinausgehen und eine andere Möglichkeit bieten, das Selbst zu entwerfen. Damit dies passiert, werden wir wohl unsere Einstellung zur Lust an unserem Selbst verändern müssen, das diese allgegenwärtigen ikonischen Bilder hervorbringen: Narziss, der ständig seinem eigenen Spiegelbild Bedeutung zuschreibt, wird eine Zeitlang wegsehen müssen.63 In der transhumanistischen Tendenz, die sich in der technowissenschaftlichen Forschung ebenso wie in Kapitalanlagen abzeichnet, ist jedoch eine Begeisterung für die narzisstische Anthropotechnik deutlich erkennbar, wobei Biomedizin- und Gentechnik, die Verbesserung der menschlichen Leistungsfähigkeit durch Prothesentechnologien und die Entwicklung künstlicher Intelligenz im Vordergrund stehen.64 Denker_innen wie Braidotti haben eine umfassende Darstellung dieser Entwicklung hin zur Techno-Transzendenz geliefert; man könnte Letztere tatsächlich als eine moderne Weiterentwicklung des antiken Gnostizismus bezeichnen, aus dessen Sicht der demiurgische „Schöpfer“ der materiellen Welt die Menschen in einer von Grund auf mangelhaften Welt gefangen hält, deren rettende Veränderung durch das eigenständige Handeln des Menschen bewirkt werden kann.

Es ist nicht zu übersehen, dass dieses Handeln bisher für zahlreiche Katastrophen verantwortlich ist und zur historischen Epoche des Anthropozäns führte, in der der Mensch zu einer geologischen Kraft wurde, die imstande ist, alles Leben sowie die Erde, das Wasser und die Luft dieses Planeten zu beeinflussen, während die thanatopolitische Dimension der Biopolitik die lebendige Materie verändert. Auch hier sind wieder die aktuellen Marvel-Superhelden-Filme hilfreich, um diese Entwicklung zu veranschaulichen. In X-Men: Apocalypse (2016) erwirbt der Superheld Magneto außergewöhnliche Fähigkeiten im Bergbau und bei der Umformung von Planeten zu erdähnlichen Himmelskörpern, während Professor X sich zu einem Experten für vernetzte Kommunikation und Strategien einer extremen Beeinflussung, darunter auch die Manipulation von Gedanken, entwickelt. Diese aktuelle Tendenz der Hollywood-Filmindustrie zu Science-Fiction-, Cyberpunk- und Weltuntergangs-Blockbustern – zu der die X-Men- Filme gehören –, verwandelt das, was bereits gegenwärtig ist, in Schundliteratur: eine entmenschlichte Subjektivität und eine unterjochte Natur.

Christos Karakepelis, Within the City: Behind the Steel Factory, Filmstill aus Raw Material (2011), 78 min.

Die missliche Lage, in einem postdiskursiven Zeitalter zu leben, erfordert es, dass wir die transhumanistischen Fantasien des filmischen Avatars oder den unmenschlichen Zustand der verschuldeten Person hintanstellen. Diese beiden Figuren dienen als Beschreibungen der aktuellen Zeitschleifen des Kapitalismus; sie fungieren entweder als Wiedereinsetzung einer stereotypischen Identität, die dem Körper/dem Gesicht/der Rede immer vorausgeht (der kinematische Avatar), oder als kontinuierliche Exemplifizierung der Gegenwart in der eschatologischen Zukunft (der verschuldete Mensch). Doch wenn man über die Gegenwart nachdenkt, sollte man Foucaults Theorie der Subjektivierung durch eine an Deleuze und Guattari orientierte Komponente einer asignifikanten Affektivität ergänzen, um über die Anthropotechniken hinauszugehen, von denen unsere Gegenwart noch immer geprägt ist. Für Guattari geht es beim Maschinismus nicht darum, „Mensch und Maschine zu konfrontieren“; der Maschinismus erliegt weder einer technophoben Raserei noch einer transhumanistischen Euphorie.65 Man sollte Deleuzes Begriff „Dividuum“ oder das, was Guattari als „modulare Subjektivität“ oder „partielle Subjektivierung“ bezeichnet – das heißt, eine Subjektivität ohne ein universalistisches Konzept des (humanistischen) Subjekts – als eine Aktualisierung der Sprache betrachten, mit der man das Konzept des Anthropos beschreibt, das heißt, um den Humanismus in seinem Zustand nach dem Anthropozän neu zu denken.66 Selbst wenn Intelligenz, Affekte, Empfindungen, Kognition, Gedächtnis und Körperkraft nicht länger in einem „Ich“ vereint sind, und selbst wenn sie „nicht länger ein individuiertes Subjekt als Referenten haben“, muss eine solche Assemblage nicht von Konzernen, Medien, öffentlichen Dienstleistungen und diversen anderen logokularen Anthropotechniken appropriiert werden.67 Wenn wir darauf beharren, weiterhin unser eigenes Bild (Lacans Spiegelstadium) und seine symbolische Ordnung zu betrachten, werden wir vielleicht nie verstehen, wie wir aus Affekten – im Sinne von nichtsprachlichen, körperlichen „Intensitäten“ – aufgebaut sind. Eine Psychoanalyse der Haut und nicht des Auges muss erst noch entwickelt werden. Was also sind die künftigen posthumanen Dispositive, die dem narzisstischen Leben am Rande des Zusammenbruchs entgegenwirken werden?

An dieser Stelle sollten semiotische Produzent_innen wie bildende Künstler_innen, Choreograf_innen, Filmemacher_innen, Komponist_innen, Schriftsteller_innen, „Language-Makers“, Designer_innen, Hacker_innen, Social Entrepreneurs und andere Erzeuger_innen medienbasierter Dispositive von Zeitlichkeit eine entscheidende Rolle spielen können. Diese ästhetischen Dispositive von Zeitlichkeit, die man früher gelegentlich als „Kunstwerke“ bezeichnete, sollten den linearen Zeitverlauf unterbrechen. Anders gesagt, sollten die künftigen posthumanen Dispositive in der Lage sein, die kinematische Codierung von Raum und Zeit zu verändern und die auf dieser Kodierung beruhenden noo-/psycho-/semiopolitischen Strategien zu dekonstruieren. Im postdiskursiven Zeitalter erfordert die technonumerische Sprache der Kontrolle und der ikonischen Bedeutung neuartige Formen semiotischer Produktion, eine neuartige Sprache, die existierende Technologien nicht bloß benutzt, sondern erfindet. Diese Produktion sollte den Code der Zeitlichkeit verführen und der homogenisierenden zeitlichen Matrix des Semiokapitals entgegenwirken. Solche antizipierten Zeitschleifen, die die lineare Erzählung und die ikonische Bedeutung der Sprache stören, finden sich beispielsweise in Italo Calvinos Konzept des Hyperromans, für den die „Vorstellung von unendlich vielen gleichzeitigen Universen, in denen sämtliche Möglichkeiten in allen möglichen Kombinationen verwirklicht werden“, ein Grundprinzip ist.68 Man muss wohl nicht besonders betonen, dass Schleifen und Konzepte der offenen Form ein wesentliches Element und ein Strukturprinzip der zeitgenössischen Neuen Musik und experimenteller Kompositionen sind, zu deren wichtigsten Pionieren John Cage, Earle Brown und La Monte Young gehören. Im Rückgriff auf Gilles Lipovetskys Behauptung, dass die „angeblichen ‚Widersprüche‘ des Kapitals im Grunde genommen eine Frage zeitlicher Konfigurationen sind“,69 sollte man auf die Tatsache verweisen, dass solche „Widersprüche“ als Störer des info-temporalen und affektiven Stroms zu betrachten sind, den die semiokapitalistische Produktion der Ikonizität erzeugt.

Kinematische Tropen der Aufmerksamkeitsökonomie sind inhärent libidinös, da sie Raum für eine Neuorganisation des Begehrens bieten.70 Man sollte daher Jean-François Lyotards Konzept der Dissimulation aufgreifen, welches nahelegt, dass alle Strukturen, alle Szenarien, alle Dispositive libidinöse Energie enthalten; darin liegt eine zu wenig genutzte Potenzialität, die auf Entladung wartet, um in neue Strukturen einfließen zu können. So ist für Lyotard beispielsweise offenkundig, dass die Kanalisierung von Intensitäten in ein stabiles System und die Störung eines Systems, indem man es durch eine intensive libidinöse Investition destabilisiert, zwei Seiten einer Medaille sind. Affekte zu akzeptieren heißt, eine nichtlineare, autopoietische Komplexität zu fördern, die lebendige (und nichtlebendige) Materie sowie deren Zeitfalten einschließt. Posthumane Dispositive sollten Blöcke aus gemischter affektiver Zeit bilden und etwas zum Einsatz bringen, das Lazzarato als „gemischte Semiotik“ bezeichnet, „die gleichzeitig signifikant, symbolisch und asignifikant“ ist.71 Es geht nicht darum, die Trennung zwischen dem Affektsystem auf der einen Seite und der Intention oder Bedeutung oder Erkenntnis auf der anderen Seite aufrechtzuerhalten, sondern vielmehr darum, beide zu integrieren. Man könnte diesbezüglich sagen, dass Dispositive von Zeitlichkeit in der Lage sein sollten, Zeit zu erzeugen – etwas, das der Zeit gleicht, die durch Meditieren entsteht, oder der rekursiven Zeit der Psychoanalyse oder, noch besser, der unmöglichen Zeit des Verliebtseins.

Die Komplexität des Zeitstroms, der uns determiniert und uns derzeit von großen Kapitalgesellschaften und Medienkonzernen aufgezwungen wird (die als gierige Verbraucher unserer Zeit und Plünderer menschlicher Aufmerksamkeit zu verstehen sind), lässt sich nur ermessen, wenn man ein neuartiges kollektives Ethos in Erwägung zieht. Vergessen wir nicht, dass es Nietzsche ist, der die zyklische Dimension der Zeit nicht als einen metaphysischen Lehrsatz, sondern als einen moralischen Imperativ unterstreicht, und der damit gegen den Gründungsmythos der Moderne vom unendlichen Fortschritt opponiert – ein Mythos, der in Wirklichkeit die Notwendigkeit der Moderne verschleiert, die Zukunft zu verbrauchen.72 Eine Schleife zu erzeugen bedeutet, dasselbe mindestens zwei Mal und zu verschiedenen Zeitpunkten zu tun. Wenn wir jedoch unser Alltagsverständnis von Zeit aufgeben, demzufolge Zeit eine lineare Abfolge von Momenten ist, sondern Heraklit und seinem berühmten Diktum folgen, dass man nicht zwei Mal in denselben Fluss steigen kann, weil es nicht mehr derselbe Fluss ist und man nicht mehr derselbe oder dieselbe ist, dann erhält eine Schleife eine ganz andere Qualität.73 Sie impliziert eine Art von Veränderung, die sich vom Modus der Transformation unterscheidet, da gerade aufgrund ihrer Selbstreferenzialität eine größere Komplexität entstehen kann.74

Daher sollte die Zeit als das kommende ethisch-politische Paradigma der Subjektivierung und des Weltenmachens betrachtet werden. Dieses neue Ethos sollte Folgendes bewirken können:

Es sollte a) (gemäß Deleuzes Begriff der creatio continua) Prozesse des ästhetischen Ausdrucks von dem tödlichen Streben nach Repräsentation befreien; b) wieder die Vielstimmigkeit und Multireferenzialität einer symbolischen Semiotik in ästhetischen Prozessen annehmen, das heißt einen lustvollen und sinnlichen Ausdruck, der eine Störung des Äquivalents fester Werte einschließt, an das jedes Kunstwerk geknüpft ist; und schließlich c) Kunstwerke in potenzielle Träger einer asignifikanten Semiotisierung transformieren. Dies setzt selbstverständlich keine universelle Ästhetik voraus, die sich auf transzendentale Werte beruft, sondern vielmehr Mikro-Ästhetiken, die „nach immanenten Kriterien zu gewichten wären“.75 Zu den posthumanen Aspekten dieses neuartigen affektiven und ethisch-politischen Paradigmas bemerkt Guattari:

Die Etablierung eines nichtsignifikanten semiotischen Maschinismus, die mit verschiedenen technologischen, wissenschaftlichen, künstlerischen, revolutionären etc. Prozessen der Deterritorialisierung einhergeht, führt auch zur Zerstörung von Repräsentationsmodi, die humanistisch, personologisch, familialistisch, patriotisch und so weiter sind. Sie impliziert eine kontinuierliche Ausweitung unserer Wunschproduktion, hin zur Totalität asignifikanter Semiotiken und ihrer maschinistischen Mehrwerte. Doch dies bedeutet keine Rückkehr zum Mythos einer „natürlichen“ Semiotik. Im Gegenteil, es bedeutet, über die Semiotik hinauszugehen, die sich an menschlichen Wesen orientiert, und sich unumkehrbar einer Semiotik zu nähern, die technologische und theoretische Systeme einbezieht, welche immer differenzierter, immer künstlicher und weiter von ursprünglichen Werten entfernt sind.76

Christos Karakepelis, To Whom Did Prometheus Give the Fire?, aus Raw Material (2011), 78 Min., Produktionsstill von Yiannis Lascaris und Semira Manolaki

Die Vervielfachung solcher Dispositive führt weder dazu, irgendein Wesen des Menschen zu verteidigen, noch die „universelle“ Wahrheit des Kapitals zu beweisen. (Was dies betrifft, sollten wir Marx weder als einen „Propheten des Untergangs des Kapitals“ noch als eine Kassandra interpretieren, die den Niedergang des Menschen vorhersagt.)77 Diese neuartigen abstrakten Arten des Werdens – die man mit Berardi78 auch als „politische Komplexitätsreduzierer, semiotische Empfindungsübersetzer, konzeptuelle Transformatoren“ verstehen kann – sollten in der Lage sein, zur Entstehung von etwas beizutragen, das Guattari als „Chaosmos“, als „ein komponiertes Chaos“ beschreibt.79 Diese Dispositive ermöglichen es, das Projekt Mensch zu verändern, gerade weil sie eine kartografische Dimension besitzen; sie sind mit dem Zeichnen einer Karte, dem Vermessen unbekannter Landschaften vergleichbar, oder wie Deleuze schreibt, mit „Produktionen von Subjektivität, die den Mächten und den Wissensarten eines Dispositivs entgehen, um sich in denen eines anderen, in anderen Formen, die noch zur Welt zu bringen sind, neu anzusetzen.“80 Wenn wir Berardis Behauptung zustimmen, dass „die Ästhetik die Disziplin ist, durch die sich der Organismus und seine Umgebung aufeinander einstimmen“,81 dann sollte die Kunst ihre parrhesiastische Dimension nicht nur behalten, sondern sogar erweitern, um materie-realistische, asignifikante, postdiskursive und zutiefst affektive Weltanschauungen einzubeziehen.82 Wir sind von Sprache so sehr durchdrungen, dass es beispielsweise kaum vorstellbar ist, wie Justiz und Gesetzgebung ohne Hilfe der (philosophischen, rhetorischen, juristischen oder wissenschaftlichen) Sprache vorgehen könnten. Dennoch gibt es solche Fälle; man denke etwa an den berühmten, von Pseudo-Plutarch überlieferten Fall der Gerichtsverhandlung gegen Phryne, in der die außerordentlich schöne Kurtisane durch einen einzigen deiktischen Akt gegen die Anklage verteidigt wurde: durch den Beweis, der in der Enthüllung ihrer Schönheit bestand.83 Dies ist offenkundig eine andere Art von nonverbaler, affektiver Parrhesie, und zwar nicht, weil Schönheit für Wahrheit gehalten wird, sondern aufgrund der öffentlichen Entblößung eines sprachlosen Körpers.84

Die Gesellschaft besteht nicht nur aus rationalen Diskursen und ihren Praktiken der Enunziation (Foucaults Epistemen), sondern auch aus libidinösen Intensitäten und Grammatiken des Körpers.85 Affekte bauen sich in Systemen aus libidinösen Dispositionen oder Szenarien auf; diese bilden nichtsignifikante, „irreduzibel körperliche und autonome“86 Prozesse, die unterhalb der Schwelle bewusster Wahrnehmungen und Bedeutungen ablaufen. Eine solche Deixis ermöglicht es prä- und asignifikanten Ausdrucksweisen, die Wirklichkeit zu erfassen, zum Beispiel in Körpern, die öffentlich agieren, ein Agieren, das nicht unbedingt sprachlich sein muss. Demnach ist Phryne ein posthumanistisches monstrum, ein Vorzeichen, ein Omen, das – obwohl es scheinbar der pornografischen Ausbeutung des Sinnlichen im Fernsehen gleicht – etwas anderes ist, weil es eine Wirklichkeit ist, die ihre Bedeutung allein aus sich selbst erhält.87 Die Deixis ist also eine weitere Form von Feedback-Schleife. Sie unterscheidet sich gerade deshalb von der in Wirklichkeit sterilen Ikonizität, die die Gesellschaft des Spektakels bietet, weil sie einen Akt darstellt, der emergierende Ichs (emerging selves) hervorbringt (die sich beispielsweise in den oftmals provokativen, aber auch verführerischen mutierenden Subjektivierungen und Proto-Enunziationen von Dada sowie in den autopoietischen Kristallisationspunkten der Situationistischen Internationale finden).

Christos Karakepelis, Melting Point of Substances, aus Raw Material (2011), 78 Min., Produktionsstill von Yiannis Lascaris and Semira Manolaki

Die Arbeit von Künstler_innen besteht heutzutage hierin: Dispositive parrhesiastischer Affektivität herzustellen, die in der Lage sind, der Ikonizität und den festen Werten zu widerstehen, das heißt den semiotischen Dispositiven, die an der Macht sind und den kinematischen Avatar und das verschuldete Subjekt produzieren. Die Bestimmung der Kunst sollte es sein, die Art und Weise zu verändern, wie wir die Ökonomie angehen, damit diese unserer Ästhetik entspricht, und nicht, Subjekte so zu verändern, dass sie den Imperativen des Semiokapitalismus entsprechen (die sogenannte Kunst, die gemäß eines logozentrischen Konsenses und den etablierten Regeln von Verhaltensweisen, gesellschaftlichen Konventionen und des Welthandels gemacht und in Umlauf gebracht wird).88 Dieses neuartige künftige Ethos entsteht aus einer besonderen Art der Semiose, einem erfinderischen semiotischen Putsch gegen das theologische/politische/mythologische Konzept des Semiokapitalismus, das mit dem Neologismus eikonomia oder Ikonomie beschrieben wurde.89 Künstler_innen, die Samplings, Skizzen, schleifenförmige Erzählungen, détournements und Dadaismen produzieren – man denke an das Schizo-Werden oder das devenir mineur bei Deleuze und Guattari –, könnten in der Lage sein, uns die Grundprinzipien einer klandestinen Ethik der Kunst jenseits des Semiokapitalismus und des Teufelskreises der spektakulären Zurschaustellung zu liefern. Man kann für die Hinwendung zu einer immanenten Ästhetik der sinnlichen Wahrnehmung gegen auratische Überhöhungen, für eine „pragmatische Praxis der Ontoästhetik“ argumentieren, wie Stephen Zepke schreibt.90 Dies sollte verstanden werden als das Eingreifen von neuen Arten, das sinnlich Wahrnehmbare wie auch das Denkbare zu produzieren – und zwar wohlgemerkt nicht als romantische Religion des Erhabenen in der Kunst, sondern als antiessenzialistische und ganz materie-realistische oder gar maschinistische Ikonomie. Diese Herangehensweise sollte imstande sein, der instrumentellen und nüchternen Vorstellung der semiokapitalistischen Ikonophilie entgegenzuwirken, ohne jedoch die Autonomie der Kunst opfern zu müssen – ein Akt, der unter anderem zu einer militanten Politisierung der Kunst geführt hätte. Wenn wir den standardisierten und homogenisierenden, einvernehmlichen und hedonistischen Totalitarismus der Mnemotechnik bekämpfen, der die semiokapitalistische Ökonomie ebenso beherrscht wie den Mainstream-Kunstdiskurs, werden wir vielleicht unser „symbolisches Elend“ lindern und der Kunst ihre zeitgenössische Bestimmung zurückgeben können, gegen die Eschatologie einer Verwaltung jeglicher Zeit. Das bedeutet, dass wir im gesamten Bereich des Sichtbaren und des Hörbaren die Entstehung autopoietischer Komplexitäten zulassen müssen, ohne irgendwelche letzten, grundlegenden Ursprünge als legitimierende Fiktionen geltend zu machen. Das semiotische System der Kunst – das heißt, das System einer ästhetisierten Ökonomie – zugunsten des parrhesiastischen Paradigmas einer neuartigen affektiven Ikonomie/Autonomie aufzugeben, bedeutet tatsächlich, posthumane Dispositive der Subjektivierung zu etablieren, deren Potenzial noch formlos und unstrukturiert ist. Es ist am Ende noch einmal Lyotard, der uns an die Bestimmung der Kunst erinnert: „Apollinaire schrieb 1913 unbefangen: ‚Vor allem sind die Künstler Menschen, die inhuman werden wollen.ʻ Und 1969 wiederum Adorno, vorsichtiger: ‚Treue hält sie [die Kunst, A.d.Ü.] den Menschen allein durch Inhumanität gegen sie.ʻ“91 Die Frage ist, wie man die Kraft findet, sich dieser Aussage – wahrscheinlich durch einen Glaubensakt – anzuschließen. Das Dilemma besteht nicht nur darin, wie man Theorie produziert, sondern auch darin, wie man sie kommuniziert und anwendet, damit man durch die borgesianischen Spiegel ein- und ausgehen kann.

 

Aus dem Englischen von Barbara Hess

Christos Karakepelis, Away from Here, Filmstill aus Raw Material (2011), 78 Min.

1 Jacques Derrida, „Fines Hominis“, in: ders., Randgänge der Philosophie, hg. v. Peter Engelmann, Wien: Passagen Verlag, 2., überarb. Aufl. 1999, S. 133–157, hier S. 141.

2 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S. 462. Siehe Rosi Braidotti, Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen, übers. v. Thomas Laugstien, Frankfurt am Main/New York: Campus 2014. Für eine kritische Diskussion des Begriffs Posthumanismus, siehe Francesca Ferrando, „Posthumanism, Transhumanism, Antihumanism, Metahumanism, and New Materialities: Differences and Relations“, in: Existenz 8, 2, Herbst 2013, S. 26–32.

3 Robin Mackay und Armen Avanessian, „Introduction“, in: #Accelerate: The Accelerationist Reader, hg. v. Robin MacKay und Armen Avanessian, London/Berlin: Urbanomic/Merve Verlag 2014, S. 6.

4 Der Posthumanismus bezieht sich auf Nietzsches Imperativ der „Umwertung aller Werte“, eine Vorstellung, zu der auch Foucaults Theorien beigetragen haben. Siehe Thanassis Lagios, Stirner, Nietzsche, Foucault. O Thanatos tou Theou kai to Telos tou Anthropou, Athen: Futura 2012. Das Ende des Menschen (das beinahe gleichbedeutend mit dem Tod Gottes ist) hat ganz praktische Auswirkungen, die zeitgenössische Theoretiker wie Maurizio Lazzarato wiederholt beschrieben haben: „Die Antwort des Kapitalismus auf die Frage [was es nach dem Tod Gottes bedeutet, ‚die Wahrheit zu sagen‘] ist die Einrichtung eines ‚Markts des Lebens‘, auf dem Menschen die Existenz kaufen können, die ihnen passt.“ Maurizio Lazzarato, Signs and Machines: Capitalism and the Production of Subjectivity, Los Angeles: Semiotext[e] 2014, S. 228.

5 Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978–1979, hg. v. Michel Sennelart, übers. v. Jürgen Schröder, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.

6 Der Linguist Siegfried Jäger definiert den von Michel Foucault verwendeten Begriff dispositif als „das Zusammenspiel diskursiver Praxen (= Sprechen und Denken auf der Grundlage von Wissen), nichtdiskursiver Praxen (= Handeln auf der Grundlage von Wissen) und ‚Sichtbarkeiten‘ bzw. ‚Vergegenständlichungen‘ (von Wissen durch Handeln/Tätigkeit) […]. Dispositive kann man sich insofern auch als eine Art ‚Gesamtkunstwerke‘ vorstellen, die – vielfältig miteinander verzahnt und verwoben – ein gesamtgesellschaftliches Dispositiv ausmachen.“ Siegfried Jäger, „Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse.“ Online: www.dissduisburg.de/Internetbibliothek/Artikel/Aspekte_einer_Kritischen_Diskursanalyse.htm.

7 Gilles Deleuze, „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, in: ders., Unterhandlungen 1972–1990, übers. v. Gustav Roßler, Frankfurt am Main: Suhrkamp1993, S. 254–262, hier S. 258.

8 Franco „Bifo“ Berardi, The Soul at Work: From Alienation to Autonomy, South Pasadena, CA: Semiotext[e] 2009, S. 24.

9 Baudrillards Hauptwerk L’échange symbolique et la mort (1976), das kurz nach der Aufhebung der Goldbindung des Dollars erschien, beginnt mit dem Satz: „Auf dem Niveau der modernen Gesellschaften gibt es keinen symbolischen Tausch mehr, wenigstens nicht als ihre Organisationsform.“ Die Grundlage aller Wirtschaftstheorien, ob marxistisch oder neoliberal, ist der Glaube an die Existenz des „Referenzwerts“, den Baudrillard als das „Wertgesetz der Ware“ bezeichnet. Doch Baudrillards Kritik zufolge gilt dieses Gesetz der Äquivalenz nicht mehr. In unserer Epoche herrscht das „strukturale Wertgesetz“, das von Indetermination und Umkehrbarkeit gekennzeichnet ist. Baudrillard beschrieb den Moment, in dem „das Reale […] unter dem Eindruck dieser phantastischen Verselbständigung des Werts gestorben [ist]“, und den Tod des Realen durch die Unabhängigkeit von gesellschaftlicher, das heißt menschlicher Arbeit. Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, übers. v. Gerd Bergfleth, Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin: Matthes & Seitz 1982, S. 7, 9, 17 f.

10 Die Tatsache, dass Antonio Negri ebenfalls im Jahr 1971 auf die Abkoppelung der postfordistischen Arbeit vom allgemeinen Wertgesetz hinwies, zeigt die Geburtsstunde der Semiomacht als der postindustriellen Bedingung der Ökonomie an. Antonio Negri, „The Crisis of the Planner State“, in: ders., Books for Burning. Between Civil War and Democracy in 1970’ Italy, übers. v. Arianna Bove u.a., London: Verso 2005, S. 23.

11 Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, S. 18.

12 Tomáš Sedláček zufolge generieren mathematische Gleichungen, Computerprogramme und Diagramme ihrer eigenen Untersuchungsobjekte und machen die Wirtschaftswissenschaften dadurch eher zu einer Wissenschaft der Wirtschaftswissenschaften als zu einer Wissenschaft der Ökonomie. Durch die Verwendung der Mathematik als einer Sprache zur Beschreibung der Welt (man sollte nicht vergessen, dass die Wirtschaftswissenschaften eine Sozialwissenschaft, keine Naturwissenschaft sind), beginnt die Ökonomie, und insbesondere ihr gegenwärtig am meisten geschätztes Teilgebiet, die Ökonometrie, die Welt zu manipulieren und sie durch den Einsatz computergestützter Modelle der Makroökonomik zu verändern. Es ist wie bei einem Meteorologen, der mithilfe computergenerierter Modelle der Wettersimulation das Klima verändern will. Sedláček definiert die Grenzen, Klischees und falschen Ideologien, von denen die heutigen Wirtschaftswissenschaften bestimmt werden, indem er die Wurzeln dieser Denkweise in der Kulturgeschichte der Menschheit aufdeckt. Er beschreibt, wie Wirtschaftswissenschaftler Themen wie Ethik und Moral aufgaben und selbst zu einer Art „Propheten der modernen Zeit“ wurden. Doch wie die Sozialwissenschaftlerin Elena Esposito nachgewiesen hat, sagen Ökonomen die Zukunft in Wirklichkeit nicht vorher, sondern lenken sie (durch Wahrscheinlichkeitsrechnungen) in die Richtung eines bestimmten Szenarios, eines Ergebnisses zugunsten des Investors, für den sie arbeiten. So analysiert Esposito beispielsweise die Semiologie der sogenannten Futures, standardisierte Terminkontrakte, die darauf ausgerichtet sind, den Handel an einer Terminbörse zu erleichtern und im Wesentlichen aus zukünftigen Transaktionen Kapital schlagen. Solche strategischen Varianten möglicher künftiger Transaktionen, die von heutigen Ökonomen genutzt werden, waren einmal das Fachgebiet von Propheten. Märkte sind die Orakel der heutigen Zeit. Diese Baudrillard’sche „Hyperrealität“ des Kapitalismus wird tödlich, wenn sie über der Wirklichkeit – das heißt der tatsächlichen Realität – „flottiert“. Tomáš Sedláček, Die Ökonomie von Gut und Böse, übers. v. Ingrid Proß-Gill. München: Carl Hanser Verlag 2012, Kap. 14, „Wer kennt die Wahrheit? Wissenschaft, Mythos und Glaube“, S. 369–396; Elena Esposito, Die Zukunft der Futures: Die Zeit des Geldes in Finanzwelt und Gesellschaft, übers. v. Alessandra Corti, Heidelberg: Carl Auer Verlag 2010; Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, S. 71–73.

13 Berardi zufolge nutzt diese derzeitige Transformation des Kapitalismus, die als Semiokapitalismus bezeichnet wird, „den Geist, die Sprache und die Kreativität als ihre wichtigsten Werkzeuge für die Produktion von Wert. Im Bereich der digitalen Produktion wird im Wesentlichen der semiotische Strom ausgebeutet, der von der menschlichen Arbeitszeit erzeugt wird.“ Berardi, The Soul at Work, S. 21 f.

14 Dadurch, dass die Psychoanalyse „das Zentrum der analytischen Erfahrung in der Tatsache [situiert], daß jedes Individuum ein Kind ist“, werden die kartesianischen Erzählungen über das Bewusstsein und die Individualität infrage gestellt. Dies hat weitreichende Implikationen für die anthropozentrische Konzeption des Humanismus – der unter anthropos den erwachsenen Menschen versteht. Doch im Zeitalter der Informationsproduktion können die Veränderungen, die die Arbeit, die Macht und das Begehren – und damit auch die marxistischen Narrative von Bewusstsein und Individualität – erfahren haben, nur mithilfe neuartiger Instrumente verstanden und theoretisch erfasst werden. Daher behauptet Baudrillard etwas, das für die Anhänger eines orthodoxen Marxismus wie für neoliberale Wall-Street-Prediger gleichermaßen (wenn auch aus unterschiedlichen Gründen) zutiefst beunruhigend ist: „Denn die Arbeit ist keine Kraft mehr, sie ist Zeichen unter Zeichen geworden“; das heißt, sie folgt nicht der Logik eines Herrensignifikanten, einer Meistererzählung. Wie Baudrillard nahelegt, ist der Marxismus die interne Kritik einer gesellschaftlichen Form, die man als Kapital bezeichnet, und nicht deren ontologisches Gegenteil. In einer ziemlich perversen Umkehrung der Perspektiven deutet der Autor an, dass linke Ideologien die alles durchdringenden Doktrinen, die die zwanghafte Ökonomisierung des politischen Terrains aufrechterhalten, oftmals eher schützen als bekämpfen. Jacques Lacan, Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Das Seminar von Jacques Lacan, Buch II (1954–1955), übers. v. Hans-Joachim Metzger, Weinheim/Berlin: Quadriga 2. Aufl. 1999, S. 57; Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, S. 23.

15 David Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre, übers. v. Ursel Schäfer, Hans Freundl und Stephan Gebauer, Stuttgart: Klett Cotta 2012, S. 379.

16 Helmut Willke, Systemic Risk: The Myth of Rational Finance and the Crisis of Democracy, Frankfurt am Main: Campus 2014; Helmut Willke, Governance in a Disenchanted World: The End of Moral Society, Cheltenham, UK: Edward Elgar 2009.

17 Deleuze schlägt eine posthumanistische Auffassung von Subjektivität in Relation zu Machtformationen vor, die die Foucault’sche Definition von Gesellschaft erweitert. Guattari stellte eine Krise der Subjektivität fest und argumentierte, dass Subjektivität weder den ontologischen Kern des Menschen bildet noch ein Epiphänomen ist: „Zu sagen, dass der Wunsch Teil der Infrastruktur ist, läuft darauf hinaus zu sagen, dass Subjektivität Wirklichkeit produziert. Subjektivität ist kein ideologischer Überbau.“ Félix Guattari, „La crise de production de subjectivité“, Seminar vom 3. April 1984. Online: www.revue-chimeres.fr/drupal_chimeres/files/840403.pdf; zit. in Lazzarato, Signs and Machines, S. 7.

18 Antonio Negri und Michael Hardt, „Value and Affect“, in: boundary 2, 26, 2, Sommer 1999, S. 77–88.

19 Braidotti, Posthumanismus, S. 63; Patricia Ticineto Clough und Jean Halley (Hg.), The Affective Turn: Theorizing the Social, Durham, NC: Duke University Press 2007, S. 2.

20 Siehe Karen Barad, Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken, übers. v. Jürgen Schröder, Berlin: Suhrkamp Verlag 2012, S. 8–10.

21 Eric Shouse, „Feeling, Emotion, Affect“, in: M/C Journal 8, Dezember 2005. Online: journal.mediaculture.org.au/0512/03-shouse.php, §1 (Zugriff: 1. August 2016). Für Spinoza sind Affekte körperliche Geisteszustände, von denen er drei grundlegende Arten unterscheidet: Lust oder Freude (laetitia), Schmerz oder Kummer (tristitia), und Begehren (cupiditas) oder Appetit (appetitus). Affekte unterscheiden sich von Gefühlen, die biografisch und persönlich sind, und von Emotionen, die sozialer Natur sind; sie sind, wie Sara Ahmed behauptet, keine psychischen Zustände, sondern kulturelle Praktiken. Die Wiederholung von Wörtern und Zeichen löst eine emotionale Reaktion aus, die sich mit zunehmender Wiederholung verstärkt, sodass aus solchen Zeichen schließlich ein kulturelles Netz entsteht. Diese Semiomacht hat affektiven Charakter und kann unsere Lebensweisen im Sinne einer materialisierten Rhetorik diktieren. Auch wenn es zutrifft, dass wir mit Worten Liebe machen und auch viele Gedichte über dieses Thema schreiben, dürfen wir nicht die Tatsache vernachlässigen, dass wir eigentlich Sex haben, weil wir anderen dabei zugesehen haben. Die Automatisierung und der affektive Mechanismus, die in der sozialen Nachahmung zum Tragen kommen und von Aristoteles kommentiert wurden, sind genauso wichtig wie die Kommunikations- und Kognitionsmodelle, die in der Mensch-Maschine nur eine rationale Handlungsmacht erkennen. Sara Ahmed, The Cultural Politics of Emotion, Edinburgh: Edinburgh University Press 2004.

22 Félix Guattari, Chaosmose, übers. v. Thomas Wäckerle, Berlin/Wien: Turia & Kant 2014, S. 11.

23 Lazzarato, Signs and Machines, S. 88, 106.

24 Mit Bezug auf Guattari beurteilt Lazzarato das gegenwärtige Stadium des Kapitalismus und behauptet, dass „der Kapitalismus von asignifikanten Maschinen abhängt“. „Asignifikante Semiotiken (Börsennotierungen, Währungen, das Rechnungswesen von Konzernen, Staatshaushalte, Computersprachen, Mathematik, wissenschaftliche Funktionen und Gleichungen, aber auch die asignifikanten Semiotiken der Musik, der Kunst etc.) sind nicht gebunden an Bedeutungen und die individuierten Subjekte, die diese vermitteln. Sie produzieren keine Bedeutungen oder Repräsentationen, sondern gleiten an diesen vorbei.“ Da das Kapital dazu tendiert „alle andere Semiotiken überzucodieren, ermöglicht [es], die ökonomische Produktion und die Produktion von Subjektivität zu verwalten, zu lenken, anzupassen und zu kontrollieren.“ So behauptet Lazzarato beispielsweise, dass „symbolische Semiologien gemäß einer Vielzahl (‚n‘) von Ebenen oder (gestischen, rituellen, produktiven, körperlichen, musikalischen etc.) Substanzen des Ausdrucks funktionieren, während Semiologien der Signifikation nur zwei Ebenen (Signifikant/Signifikat) zusammenführen.“ Er bezieht sich auf Guattari, der die Linguistik des dänischen Sprachwissenschaftlers Louis Hjelmslev – eine mögliche Alternative zum dominierenden linguistischen Paradigma de Saussures – interpretiert als „Semiotiken, die gerade nicht auf der Bipolarität Signifikant – Signifikat“ beruhen. Lazzarato, Signs and Machines, S. 40, 80, 68 f.; Hervorheb. d. Verf.; Félix Guattari, „Der Platz des Signifikanten in der Institution“, in: ders., Schizoanalyse und Wunschenergie. Guerilla in der Psychiatrie, übers. v. Hans-Joachim Metzger, Bremen: Verlag Impuls 1980, S. 69.

25 Steven Shaviro, Connected, or What It Means to Live in the Network Society, Minneapolis: University of Minnesota Press 2003, S. 31; Martijn Konings, The Emotional Logic of Capitalism: What Progressives Have Missed, Stanford, CA: Stanford University Press 2015, S. 33; Maurizio Lazzarato, „From Capital-Labour to Capital-Life“, in: Ephemera 4, 2004, S. 187–208.

26 Konings, The Emotional Logic of Capitalism, S. 34. Netzwerke regieren die Öffentlichkeit vielmehr mithilfe der öffentlichen Meinung, indem sie in den Massenmedien (Fernsehen) Schlagworte interpretieren und übertragen und die Freiheit der Rede und des Ausdrucks ermöglichen. Lazzarato, Signs and Machines, S. 143, 147.

27 Maurizio Lazzarato, Les Révolutions du Capitalisme, Paris: Les Empêcheurs de Penser en Rond 2004; Bernard Stiegler, Taking Care of Youth and the Generations, Redwood City, CA: Stanford University Press 2010; Braidotti, Posthumanismus.

28 Braidotti, Posthumanismus, S. 54.

29 Diese Operationen stehen in einem direkten Zusammenhang mit dem Begriff des Spektakels. Debord definiert das Spektakel als die Ware und das Kapital, die weltweit einen solchen Grad der Akkumulation erreicht haben, dass sie zu einem Medienbild werden. In dieser Hinsicht sind wir der Semiopolitik ebenso ausgeliefert wie dem Kapital. Unsere tiefsitzende Faszination für digitale Technologien und ihre Anwendungen beruht auf dem ihnen inhärenten Spektakel. Von dort verkommt diese Faszination zu einem futuristischen Techno-Utopismus, der heutzutage den einzigen Horizont gesellschaftlicher Erwartungen, Träume und Pläne bildet. Der Begriff Semiopolitik bezieht sich offenkundig nicht auf die unverhohlen optimistischen und daher reduktiven Begriffe kognitive Ökonomie, Informationsgesellschaft und Kulturkapitalismus.

30 Lazzarato, Signs and Machines, S. 31, 65.

31 Matteo Pasquinelli, „What an Apparatus Is Not: On the Archeology of the Norm in Foucault, Canguilhem, and Goldstein“, in: Parrhesia 22, 2015, S. 79–89.

32 Berardi, The Soul at Work, S. 192, 196.

33 Lazzarato, Signs and Machines, S. 54

34 Braidotti, Posthumanismus, S. 32.

35 Die klassische Reaktion eines Bildes (image) auf seinen Referenten (basierend auf Nelson Goodmans Axiom der Ähnlichkeit, das er in Sprachen der Kunst: Entwurf einer Symboltheorie beschreibt), die die Beziehung zwischen einem Porträt und der im Porträt dargestellten Person begründet (wie es in Jean-Paul Sartres L’Imaginaire beschrieben und erklärt wird), ist nun invertiert. Das Bild verweist nicht mehr auf seinen Referenten (wie beispielsweise ein Passfoto auf eine Person verweist), sondern der Referent wird mithilfe dieses Bildes konstituiert, ganz ähnlich wie im Fall der Fotografien, die von der Polizei in Umlauf gebracht werden, um eine Person als gesucht zu kennzeichnen. Wir wissen, wie diese Person aussieht, obwohl wir ihr noch nie persönlich begegnet sind. Der kinematische Avatar beruht auf dieser relationalen Voraussetzung. Die Identifikation mit einem Icon bedeutet diesbezüglich nicht, sich Aspekten und Attributen des vorliegenden Modells anzupassen und folglich durch dieses verändert zu werden. Sie sollte vielmehr anhand der umfassenderen Vorstellung von einem Antagonismus zwischen dem Imaginären und dem Realen in der Theorie Jacques Lacans betrachtet werden. Der Unterschied der Wahrnehmung zwischen dem tatsächlichen Ich und dem imaginären Ich (dem „moi“ in Lacans Terminologie) funktioniert als ein niemals aufgelöster Antagonismus. Dieses Konzept beschreibt nicht nur einen prägenden Moment im Leben des Kleinkindes (das Spiegelstadium), sondern eine dauerhafte Struktur, die für Subjektivität konstitutiv ist – Lacan hat dies in einem späteren Text aus dem Jahr 1960 verdeutlicht. Dieser Antagonismus, der stets durch Illusionen von Ähnlichkeit und Wiedererkennbarkeit gekennzeichnet ist, bildet den Antrieb für die psychologische und soziale Entwicklung eines Individuums. Diese duale Beziehung zwischen dem Imaginären und dem Realen beruht nicht auf einer tatsächlichen Reziprozität, sondern ganz im Gegenteil auf einer strukturellen Nichtkomplementarität und Inkongruenz. Die sprachlich vermittelte (symbolische) Bilderkennung ist der Grund für unsere strukturellen Bildverkennungen: „Ein Sprechen ist Matrix des verkannten Teils des Subjekts […].“ Um es ganz deutlich zu formulieren, identifizieren wir uns mit dem Superhelden nicht, weil wir glauben, dass wir so sind wie er, sondern weil wir anders sind und immer sein werden. Lacan, Das Ich in der Theorie Freuds, S. 59.

36 Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009.

37 Berardi, The Soul at Work, S. 96.

38 Im Rückgriff auf Baudrillard und Lazzarato wird heute klar, was Baudrillard vor vierzig Jahren meinte, als er behauptete, dass das Kapital in den Bereich der Simulation übergegangen sei. Was dies betrifft, ist der verschuldete Mensch die Reservearmee des Kapitalismus. Die Figur des Schuldners ist genau dieses Individuum. Das bedeutet nicht, dass er oder sie seine Individualität vollständig verliert; wie Lazzarato bemerkt, verhält es sich vielmehr so, dass der Status des Individuums abhängig vom Kontext zugesprochen wird. Für die Bank oder den Staat ist der Schuldner oder die Schuldnerin nur eine Nummer unter anderen. Doch er oder sie fühlt sich schuldig, nur eine Nummer zu sein, und möchte seinen oder ihren Status eines verantwortlichen Individuums verteidigen, was jedoch unmöglich ist. Das schizophrene Verhältnis zu sich selbst ist nur das früheste Symptom dieses als Krankheit verstandenen Kapitalismus.

39 Sedláček, Die Ökonomie von Gut und Böse, S. 307.

40 Berardi, The Soul at Work, S. 96.

41 Lazzarato erklärt, was Geld im Kontext der asignifikanten Semiotik ist, indem er ein weiteres Konzept, die „Entmachtung des Zeichens“ einführt. Der Autor unterscheidet zwischen zwei Stadien oder Aspekten des Zeichens, dem „entmachteten“ Zeichen und dem Machtzeichen, wobei Baudrillards Begrifflichkeit nachklingt: „Geld ist ein entmachtetes Zeichen, wenn es als Tauschwert, als Zahlungsmittel dient, mit anderen Worten, als eine einfache Vermittlung zwischen Äquivalenten. […] Machtzeichen hingegen stehen für Geld als Kapital und für die Kreditfunktion von Geld.“ Lazzarato formuliert es unmissverständlich: „Im Unterschied zur Referenzfunktion gibt es nicht eine Realität, sondern eine Vielzahl heterogener Realitäten: Die Realität der ‚Real‘-Wirtschaft und die Realität der Wirtschaftsprognosen ebenso wie die Realität von Aktienkursen und die Realität der Erwartungen, dass diese Kurse steigen oder fallen.“ Im Hauptraum der Tokioter Börse, wo der Parketthandel derzeit ausschließlich von Computern ausgeführt wird, können Digitaluhren eine Sekunde in eine Billiarde Bruchteile zerlegen. Aktien mit dieser neuartigen Geschwindigkeit, die in der Kulturgeschichte des Menschen vorbildlos ist, zu kaufen und zu verkaufen, bedeutet, eine parallele Realität der Kapitalbildung zu erzeugen, zu der wir Menschen keinen Zugang haben. Im Verhältnis zu der Zeit, die unserem digitalen Geldverkehr vorbehalten ist, befinden wir uns mit unserem biologischen Zeitgefühl einfach in einer anderen Zeitzone. Lazzarato, Signs and Machines, S. 76, 85, 96; für eine weiterführende Diskussion, siehe Sotirios Bahtsetzis, „Image Wars: For a Radical Redistribution of Semiopower“, in: Quest of Query: The Menace of the Obvious, hg. v. Eszter Szakács, Budapest: tranzit.hu 2014, S. 56–63.

42 Werner Hamacher, „Schuldgeschichte. Benjamins Skizze ‚Kapitalismus als Religion‘“, in: Dirk Baecker (Hg.), Kapitalismus als Religion, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2009, S. 77–119, hier S. 77.

43 Die derzeitige Politik der EU scheint von einer paulinischen Moral geleitet zu sein. Griechenland fungiert gegenwärtig nicht nur als ein Labor, um zu untersuchen, wie weit Austerität, Privatisierung und andere neoliberale Maßnahmen gehen können; es dient zugleich als ein Testgelände dafür, wie sich politische Reflexe und Affekte manipulieren lassen, indem man Politik durch ethische, ja geradezu spirituelle Doktrinen ersetzt. Es ist wirklich kein bloßer Zufall, dass während des jüngsten Ausnahmezustands aufgrund der humanitären Krise der Geflüchteten migrantische Arbeiter, die gemäß der EU-Politik keinerlei Rechte haben, an den Grenzen Griechenlands, die zugleich die EU-Außengrenzen sind, versuchten, ihren Status als politische Subjekte zurückzugewinnen. Es ist diese doppelgesichtige Figur der aktuellen Biopolitik – das heißt, der verschuldete Menschen (diesseits der EU-Grenzen) und der Migrant, die Migrantin (von außerhalb dieser Grenzen) –, die das politische Subjekt des frühen 21. Jahrhunderts wieder einsetzt und zugleich die Frage nach der moralischen/ökonomischen Verpflichtung und Schuld neu formuliert.

44 Lazzarato, Signs and Machines, S. 10. So erzeugt Geld beispielsweise deterritorialisierende Effekte, die als solche unzulänglich sind. Die ökonomischen Imperative, die sich daraus ergeben (Reduzierung der Schulden, Ausgabenkürzung der Regierung, den Beherrschten „Opfer“ auferlegen etc.), müssen von den Medien, politischen Parteien, Gewerkschaften und Staatsbeamten interpretiert, in Diskurse, Überlegungen und Handlungen übersetzt und an die öffentliche Meinung, jede gesellschaftliche Gruppe und jedes Individuum gerichtet werden. Der Staat, die Medien und Experten erzeugen unablässig Narrative, Geschichten und Statements, die den asignifikanten Transaktionen von Kreditgeld – das in seiner spezifischen (diagrammatischen, asignifikanten) Funktion keinen Nutzen für Subjekte oder Objekte, Personen oder Dinge hat – wieder Bedeutung verleihen. Geld und Profit akzeptieren nur eine abstrakte und deterritorialisierte Subjektivität und ein ebenso abstraktes und deterritorialisiertes Objekt (Marx): jede Subjektivität und jedes Objekt ohne Territorium, Existenz oder Subjektivität. Subjektionen binden diese deterritorialisierte Subjektivität an Rollen und Funktionen, in denen Individuen im Gegenzug entfremdet werden. Lazzarato, Signs and Machines, S. 123.

45 Agamben behauptet, dass sich eine geschichtliche Entwicklung im Sinne der Vorhersehung (Ökonomie) von der Politik dadurch unterscheidet, dass Erstere nicht von Gesetzen geregelt wird, sondern immer ein Arkanum bleibt, das in seiner theologischen Konnotation sowohl als Geheimnis wie auch als Mysterium zu verstehen ist. Dass die christliche Kirche bis zum Beginn der Moderne den Zinswucher verbot, bedeutet, dass eine Spekulation auf die Zukunft nicht erlaubt ist, weil die Zukunft eben nicht dem Menschen, sondern Gott allein gehört. Es ist bemerkenswert, dass dieses protokapitalistische Konzept einer säkularisierten Ökonomie während des Absolutismus einherging mit seiner Kanonisierung als dem einzig denkbaren Modell, wie mit Zeit umzugehen ist. Für einen genealogischen Abriss des Begriffs oikonomia, siehe Giorgio Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung (Homo sacer II.2), übers. v. Andreas Hiepko, Berlin: Suhrkamp 2010; Marie-José Mondzain, Bild, Ikone, Ökonomie. Zu den byzantinischen Wurzeln des zeitgenössischen Imaginären, übers. v. Heinz Jatho, Zürich/Berlin: diaphanes 2011; Susan Buck-Morss, „Visual Empire“, in: Diacritics 37, 2/3, 2007, S. 171–198. Zur theologischen Dimension der Ökonomie, siehe Jochen Hörisch, Man muss dran glauben: Die Theologie der Märkte, Paderborn: Wilhelm Fink 2013.

46 Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit, S. 32.

47 Franco „Bifo“ Berardi, „Arbeit Wissen Prekarität“, übers. v. Klaus Neundlinger, http://eipcp.net/transversal/0704/bifo/de.

48 Zeitlichkeit sollte daher befreit sein vom Gesetz der Gleichwertigkeit, das heißt vom Tauschgesetz des Kapitalismus und von der Idee des Werts, der auf der Grundlage der Arbeitskraft konzipiert ist. Wie im christlichen Feudalismus, als die Arbeit eine Opfergabe für Gott war, von dem aller Wert ausging, beruhte die Ökonomie früher Gesellschaften nicht auf dem Tauschgesetz, sondern auf anderen Praktiken wie Barter-Geschäften, auf dem Überreichen und Empfangen von Geschenken, auf Diebstahl und Aneignung. So gesehen, ist Wert von einer natürlichen Ordnung abgeleitet.

49 Siehe Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen: Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart: Kohlhammer 1953, S. 12, 15. Siehe Félix Guattari, „The Group and the Person“, in: ders., Molecular Revolution: Psychiatry and Politics, London: Penguin 1984, S. 41 f.

50 Es war wiederum Benjamin, dem eine Frühdiagnose unseres Zeitalters gelang, als er behauptete, dass das Sehen keine biologische Tatsache, sondern eine kulturell bedingte Variable sei. Unter Verweis auf Benjamins Diagnose der „Erfahrungsarmut“ des modernen Zeitalters bemerkt Agamben zum Verlust subjektiver Erfahrung und zur Entstehung einer neuartigen Subjektivität: „Jede Rede über die Erfahrung muß heute von der Beobachtung ausgehen, daß sie nichts ist, dessen wir habhaft werden können. Denn so wie der zeitgenössische Mensch seiner Biographie beraubt worden ist, so ist er seiner Erfahrung enteignet worden. Das Unvermögen, Erfahrungen zu machen und mitzuteilen, ist vielleicht sogar eine der wenigen Gewißheiten, über die er bezüglich seiner selbst verfügt.“ Giorgio Agamben, Kindheit und Geschichte. Zerstörung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte, übers. v. Davide Giuriato, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 23.

51 Ein solches ikonisches, kybernetisches Dispositiv, das auf Algorithmen basiert, produziert und fördert genauso wie jede Smartphone-App Subjektivierung auf eine Weise, die der Subjektivierung durch die Bürokratie entspricht – oder durch die Werbung, eines der bösartigsten Dispositive der Moderne –; nur tut es dies auf angenehme Weise, bis es langweilig wird, veraltet ist und ersetzt werden muss. Das soll selbstverständlich nicht heißen, dass die älteren Dispositive vollständig verschwinden, ganz im Gegenteil: Diese verfestigen sich und werden territorialisiert. So ist die Bürokratie heute gleichermaßen architektonisch und maschinistisch, linguistisch und affektiv und dementsprechend äußerst robust. Trotzdem brauchen wir eine weitere Klärung. Dieses Techno-Zeichen ist (ganz ähnlich wie Baudrillards Code) nicht eindimensional; es ist, um noch einmal Baudrillards Terminologie zu verwenden, frei flottierend; es bedeutet vielerlei und kann deswegen manipuliert, verdreht, modifiziert, transformiert und ausgetauscht werden. Dies hat Auswirkungen auf die Dimension der Medien. Man benötigt für vielfältige Aufgaben jetzt nur noch einen einzigen Computer und nicht viele Maschinen, die jeweils nur eine Aufgabe ausführen. Das klingt vielleicht abstrakt, doch es wird geradezu offensichtlich, wenn man es auf heutige Formen des politischen Extremismus wie etwa den derzeitigen Dschihadismus anwendet. Im Fall des islamistischen Terrorismus werden Soziale Netzwerke nicht bloß als Propagandainstrument genutzt, sondern als Subjektivierungsdispositiv. Dies ermöglicht einen Übergang: vom Status eines potenziellen Terroristen, der sich im Netz auslebt, zum Zustand eines tatsächlichen Terroristen, der in der realen Welt agiert. Für eine weiterführende Diskussion, siehe Eric Jenkins, „My iPod, my iCon: How and Why Do Images Become Icons?“, in: Critical Studies in Media Communication 25, 5, 2008, S. 466–489.

52 Konings, The Emotional Logic of Capitalism, S. 27.

53 Siehe Diedrich Diederichsen, Eigenblutdoping: Selbstverwertung, Künstlerromantik, Partizipation, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008, S. 37.

54 Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, über. v. Jean-Jacques Raspaud, Berlin: Verlag Klaus Bittermann 1996, Kap. 1, These 34, S. 27.

55 Jonathan Beller, The Cinematic Mode of Production: Attention Economy and the Society of the Spectacle, Lebanon, NH: University Press of New England 2006, S. 1.

56 Die Vorherrschaft von Bildern über den Text bedeutet nicht, dass die textuelle Information ausgeblendet wird, sondern dass der Text, und damit der Diskurs, der Vorherrschaft des Visuellen untergeordnet wird, was daher als logokulare Disposition beschrieben wird. Das beste Beispiel hierfür sind Infografiken. Tatsächlich verrät schon die englischsprachige Wikipedia-Definition des Begriffs infographics – „grafische visuelle Darstellungen von Informationen, Daten oder Wissen, die Informationen schnell und deutlich vermitteln sollen“ – den zeitlichen Charakter einer solchen Anforderung. Die Infografik wird zur angewandten Version von Derridas Begriff des Okularzentrismus. Siehe Martin Jay, „The Rise of Hermeneutics and the Crisis of Ocularcentrism“, in: Poetics Today 9, 2, 1988, S. 307–326.

57 Diese Entwicklung lässt sich nur anhand dessen ermessen, was Paul B. Preciado als „somapolitische Analyse der Weltökonomie“ bezeichnet, die als das „pharmakopornographische Regime“ identifiziert wird. Paul B. Preciado, Testo Junkie: Sex, Drogen, Biopolitik in der Ära der Pharmapornographie, übers. v. Stephan Geene, Berlin: b_books 2016, S. 28, 36.

58 Berardi, The Soul at Work, S. 113. Lazzarato ergänzt diese Debatte folgendermaßen: „Im Hinblick auf das Kino ist ein anhaltender politischer Kampf um die Kontrolle von Subjektivierungs- und Entsubjektivierungseffekten entbrannt, die die nichtmenschliche Semiotik des filmischen Bildes auf das Individuum ausübt. […] Doch anstatt die vorherrschenden Subjektivierungen zu umgehen, können uns filmische Bilder vielmehr an diese ketten.“ Lazzarato, Signs and Machines, S. 108, 111.

59 Ken Hillis, „The Avatar and Online Affect“, in: Networked Affect, hg. v. Ken Hillis, Susanna Paasones und Michael Petit, Cambridge, MA: MIT Press 2015, S. 75, 81.

60 Ebd., S. 82 f.

61 Jorge Luis Borges, „Spiegelwesen“, in: ders. (mit Margarita Guerrero), Einhorn, Sphinx und Salamander. Das Buch der imaginären Wesen, übers. v. Ulla de Herrera, Edith Aron und Gisbert Haefs, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag1993, S. 176 f., hier S. 176.

62 Steven Shaviro, Post Cinematic Affect, Winchester, UK/Washington, DC: Zero Books 2010, S. 2 f. Eine solche Untersuchung ergänzt frühe Analysen, wie das Kameraobjektiv die Vorbilder erzeugt, mit denen wir uns identifizieren. Siehe Susan Sontag, Über Fotografie, übers. v. Mark W. Rien und Gertrud Baruch, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1980.

63 Foucault verdeutlicht die emanzipatorischen Möglichkeiten, die ein solches Verständnis von Subjektivität birgt: „Das Hauptziel besteht heute zweifellos nicht darin, herauszufinden, sondern abzulehnen, was wir sind. Wir müssen uns vorstellen und konstruieren, was wir sein könnten, wenn wir uns dem doppelten politischen Zwang entziehen wollen, der in der gleichzeitigen Individualisierung und Totalisierung der modernen Machtstrukturen liegt.

Abschließend könnte man sagen, das gleichermaßen politische, ethische, soziale und philosophische Problem, das sich uns heute stellt, ist nicht der Versuch, das Individuum vom Staat und dessen Institutionen zu befreien, sondern uns selbst vom Staat und der damit verbundenen Form von Individualisierung zu befreien. Wir müssen nach neuen Formen von Subjektivität suchen und die Art von Individualität zurückweisen, die man uns seit Jahrhunderten aufzwingt.“ Es ist diesbezüglich vielsagend, dass das Konzept der Person (das sich etymologisch von dem Begriff persona im römischen Recht herleitet), weniger das menschliche Wesen bezeichnet, sondern vielmehr, wie Roberto Esposito nahelegt, selbst ein Dispositiv ist. Michel Foucault, „Subjekt und Macht“, in: ders., Ästhetik der Existenz: Schriften zur Lebenskunst, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 269–294, hier S. 280. Roberto Esposito, Persons and Things: From the Body’s Point of View (Theory Redux), London: Polity Press 2015, S. 5.

64 David Harvey, Siebzehn Widersprüche und das Ende des Kapitalismus, übers. v. Hainer Kober, Berlin: Ullstein 2015, S. 29 f.

65 Félix Guattari, „Appendix. Programmatische Bilanz für Wunschmaschinen”, in: Gilles Deleuze und Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, übers. v. Bernd Schwibs, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 497–521, hier S. 497 f. Man könnte jedoch den späteren Foucault’schen Begriff der Biomacht (das heißt Praktiken, die der Unterwerfung von Körpern und der Kontrolle von Bevölkerungen dienen und oft auf der bipolaren Verbindung des Normalen und des Anormalen beruhen) durchaus im erweiterten Bezugsrahmen der mechanisch-affektiven (oder kybernetischen) Wende betrachten, die unter anderem von Deleuze und Guattari begründet wurde.

66 Félix Guattari, Schizoanalytic Cartographies, New York: Bloomsbury 2013, S. 2.

67 Eine solche Unternehmung lässt an den analytischen Bezugsrahmen der deutschen Medientheorie denken: Was Deleuze und Guattari als „Assemblage menschlicher und nichtmenschlicher Ströme“ bezeichnen, die das Begehren enthumanisiert, sollte in einer parallelen Lesart der Foucault’schen Dispositive im Verhältnis zu Friedrich Kittlers „Kulturtechniken“ betrachtet werden, „ein komplexer Begriff, der eine Hinwendung zu Medientechnologien mit einer besonderen Berücksichtigung elementarer physischer und mentaler Fähigkeiten – darunter insbesondere Lesen, Schreiben und Programmieren – verbindet“; eine Denkschule, die darauf abzielt, den Begriff Kultur und seine Verwendungen neu zu bewerten. Die im angelsächsischen Sprachraum sogenannte „German media theory“ beschreitet einen Weg, auf dem „die Kritik der Vernunft zu einer Kritik der Medien wird“. Darin finden sich Anklänge an die Foucault’sche Unternehmung, essenzialistische Vorstellungen von Subjektivität und Macht zu demontieren. Wissenstechnologien (wie Schreibmaschinen und Karteikarten), Erziehungsmedien (wie die Schultafel und das Klavier) und Disziplinierungstechnologien (wie die Alphabetisierung) fungieren als Dispositive, die deutlich zeigen, wie nahe diese beiden Gebiete beieinanderliegen. Sich nicht auf die Repräsentation von Bedeutung als solche zu konzentrieren, sondern auf die „materiellen Bedingungen, die die Semantik konstituieren“, bedeutet, einen Weg einzuschlagen, der parallel zu dem von Foucault gewählten verläuft. Um es mit Bernhard Siegert zu sagen: „Objekte werden in Praktiken eingebunden, um etwas zu produzieren, das in einer bestimmten Kultur als eine ‚Personʻ angesprochen wird.“ Die deutsche Medientheorie steht in Beziehung zu anderen Versionen einer „materialen Semiotik“ wie der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), die im Bereich der Science and Technology Studies entwickelt wurde und davon ausgeht, dass nichtmenschliche Entitäten (Maschinen, Gegenstände) in sozialen Systemen agieren oder partizipieren können. Für den ANT-Theoretiker Michel Callon erweitert sich der individuelle humane Akteur, der in Institutionen, Konventionen und persönliche Beziehungen oder Gruppen eingebettet ist, zu einem soziotechnischen agencement (Disposition, Arrangement), das nicht nur aus menschlichen Körpern, sondern auch aus Prothesen, Instrumenten, Ausrüstungen, technischen Geräten, Algorithmen und anderem besteht. Die ANT vertritt insofern eine postanthropozentrische Auffassung der soziomaterialen Realität, als sie das Wort Akteur – oder Aktant – auch für nichtmenschliche, nichtindividuelle Entitäten verwendet. Interessante terminologische Konvergenzen zwischen Foucault, Deleuze und der ANT entstehen beispielsweise dann, wenn Callon die Begriffe agence (Handlungsmacht) und agencement zusammenbringt, die sich beide vom Dispositiv herleiten. In dieser Hinsicht kulminiert die Verknüpfung der deutschen Medientheorie, der ANT und deren Weiterentwicklung zur Akteur-Medien-Theorie, des maschinistischen Denkens von Deleuze und Guattari sowie der Foucault’schen Diskursanalyse in einer kontinentalen posthumanistischen Denkkultur. Ein Teil dieser Denkkultur zu sein, sollte als das eigentliche epistemologische Ziel jedes aktuellen akademischen Diskurses über die Zukunft der Geisteswissenschaften, einschließlich der Bildwissenschaft, betrachtet werden. Es ist in diesem Zusammenhang angebracht, die vorgeschlagene Epistemologie einzuführen und sie zu einer Praxis des politischen Handelns weiterzuentwickeln. Die komplexe Wechselseitigkeit dieses Prozesses scheint jedoch, wenigstens derzeit, der Aufmerksamkeit verschiedener progressiver politischer Bewegungen zu entgehen. Geoffrey Winthrop-Young, Kittler and the Media, London: Polity Press 2010, S. 3; Bernhard Siegert, „Cultural Techniques: Or the End of the Intellectual Postwar Era in German Media Theory“, in: Theory Culture Society 30, 2013, S. 49 f. Online: tcs.sagepub.com/content/30/6/48; Michel Callon, „Why Virtualism Paves the Way to Political Impotence: A Reply to Daniel Miller’s Critique of ‚The Laws of the Marketsʻ“, in: Economic Sociology: The European Electronic Newsletter 6, 2, 2005, S. 5. Online: econsoc.mpifg.de/archive.esfeb05.pdf; Lazzarato, Signs and Machines, S. 27.

68 Italo Calvino, Warum Klassiker lesen?, übers. v. Barbara Kleiner und Susanne Schoop, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2013, S. 279.

69 Gilles Lipovetsky, „Power of Repetition“, in: Mackay und Avanessian (Hg.), #Accelerate, S. 230.

70 Die Bibliografie zum Thema der Verschränkung von Blick und Begehren ist außerordentlich umfangreich. Es soll daher an dieser Stelle genügen, eine der frühen klassischen Untersuchungen zu diesem Thema zu erwähnen: Christian Metz, Der imaginäre Signifikant: Psychoanalyse und Kino, übers. v. Dominique Blüher u.a., Münster: Nodus 2000.

71 Lazzarato, Signs and Machines, S. 95.

72 Löwith, Weltgeschichte, S. 198.

73 Diese Unterscheidung ist eine Neuformulierung von Deleuzes bedeutender philosophischer These, nämlich seines Versuchs einer Konzeptualisierung der „Differenz an sich selbst“ im Verhältnis zur „Differenz ‚zwischen‘ zwei Dingen“; bis dahin hatte die Philosophie Differenz immer auf diese Weise, das heißt in Bezug auf mit sich selbst identischen Objekten verstanden. Der Modus der Transformation verbindet einerseits das, was in seinen vorherigen Zustand transformiert wurde, und andererseits alle vorherigen und darauffolgenden Transformationszustände zu einem Original. Differenz existiert jedoch nur in Bezug auf das Identische. Eine Transformation erzeugt, in Deleuzes Terminologie, „Kopien“, und ist eine „Differenz zwischen“. Zwischen Schleifen besteht hingegen keine ontologische Differenz. Eine Schleife ist ein „Simulakrum“, ein Fake, das jedoch „an sich selbst“ existiert, ohne auf ein Modell zurückzugehen oder auf ein Modell, eine platonische Idee zu verweisen: Ihre Existenz ist „unvermittelt“ und damit authentisch, ohne jemals Anspruch auf Authentizität erhoben zu haben. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, übers. v. Joseph Vogl, München: Wilhelm Fink Verlag 1992, S. 49 f.; Internet Encyclopedia of Philosophy. Online: www.iep.utm.edu/deleuze.

74 Das posthumane Dispositiv ist nicht statisch, sondern dynamisch, und gleicht fast einem „Feedback-Effekt, bei dem ich ein System dazu zwinge, sich beobachtend und eventuell auch handelnd auf sich selbst zu beziehen“, sodass „eine Art von mystischer Tabu-Schleife geschlossen“ wird. Den wegweisenden Untersuchungen des Kognitionswissenschaftlers Douglas Hofstadter zufolge bildet die Selbstreferenzialität einer Wahrnehmungsschleife den „Keim von ‚Ich‘-heit“. Hofstadter betrachtet das Bewusstsein als ein Phänomen, das aus einer Endlosschleife der Selbstwahrnehmung von Gefühlen und Gedanken hervorgeht: „Letztendlich ist jeder von uns – eine selbst-wahrnehmende, selbst-erfindende eingeschlossene Fata Morgana – ein kleines Wunder des Selbst-Bezugs.“ Douglas Hofstadter, Ich bin eine seltsame Schleife, übers. v. Susanne Held, Stuttgart: Klett Cotta 2008, S. 92, 109, 460.

75 Gilles Deleuze, „Was ist ein Dispositiv?“, in: François Ewald und Bernhard Waldenfels (Hg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 153–162, hier S. 158.

76 Félix Guattari, „Towards a Micro-Politics of Desire“, in: Molecular Revolution, S. 98. Dennoch erklärt Lazzarato, dass sich „Guattari auf die ästhetische Erfahrung bezieht, nicht im Hinblick auf die Entstehung des Kunstwerks, sondern im Sinne einer Pragmatik der Beziehung zwischen dem Diskursiven und dem Existenziellen [in Guattaris Terminologie das Außersprachliche, das Nichtdiskursive], dem Faktischen und dem Virtuellen, dem Möglichen und dem Realen.“ Lazzarato, Signs and Machines, S. 211.

77 Siehe Mackay/Avanessian, #Accelerate, S. 12.

78 Berardi, The Soul at Work, S. 127

79 Guattari versteht Subjektivierung als einen Prozess, der sich ständig am Chaos misst. „Die Kunst ist nicht das Chaos, wohl aber eine Komposition des Chaos, die die Vision oder Sensation schenkt, so daß die Kunst einen Chaosmos bildet, wie Joyce sagt, ein komponiertes Chaos – weder vorausgesehen noch vorgefaßt. Die Kunst verwandelt die chaotische Variabilität in chaoide Varietät […]. Die Kunst kämpft mit dem Chaos, aber um es spürbar zu machen […].“ Gilles Deleuze und Félix Guattari, Was ist Philosophie?, übers. v. Bernd Schwibs und Joseph Vogl, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 242 f.

80 Gilles Deleuze, „Was ist ein Dispositiv?“, S. 157.

81 Berardi, The Soul at Work, S. 130

82 Parrhesie (die Redefreiheit oder das „Wahrsprechen“), in Foucaults Spätwerk ein wichtiges Untersuchungsgebiet, das seine genealogische Methode ergänzte, ist in der Produktion von Sinn, Bedeutung und Subjektivität eine konzeptuelle Transversale. In seinen letzten Vorlesungen entwickelte Foucault das Konzept der Parrhesie als einen Modus des Diskurses, in dem man die eigenen Meinungen und Gedanken offen und wahrheitsgemäß ausspricht; der entscheidende Unterschied zu anderen Formen der Rede besteht jedoch darin, dass weder rhetorische Mittel noch andere Formen der Beeinflussung eingesetzt werden, und dass Parrhesie nicht nur in Situationen stattfindet, die durch die Staatsbürgerschaft oder den juristischen oder sozialen Status des Sprechers geschützt sind, sondern auch in asymmetrischen Machtverhältnissen. Parrhesie ist per definitionem nicht bei Politikern und Journalisten, ja nicht einmal bei Akademikern anzutreffen. Wie Lazzarato bemerkt, ist Parrhesie „ein riskanter und unbestimmter Akt“; sie reicht vom Modus der politischen Subjektivierung, der sie entstammt, bis in den Bereich der individuellen Ethik und der Konstituierung des ethischen Subjekts. Lazzarato, Signs and Machines, S. 229 f.

83 Siehe Friedrich Kittler und Cornelia Vismann, Vom Griechenland, Berlin: Merve Verlag 2001.

84 Lazzarato sieht die Genealogie dieser Politik zu Recht in der Tradition der Kyniker. Parrhesie und die Gleichgültigkeit gegenüber den Wechselfällen des Lebens (adiaforia), aber auch die Schamlosigkeit oder Unverschämtheit (anaideia), welche die Gesetze, Gepflogenheiten und gesellschaftlichen Konventionen entwertet, die Menschen für selbstverständlich halten, können zeitgenössische Entsprechungen sein. „Die Kyniker erinnern uns weniger an die Bühne [Rancières Bühne der politischen Rede und Vernunft], sondern an Performances in der zeitgenössischen Kunst, wo die öffentliche Exponiertheit (in der Doppelbedeutung einer Manifestation und möglichen Gefährdung) nicht zwangsläufig sprachlich, in einer Rede, noch durch eine signifikante Semiotik vollzogen wird, ja nicht einmal durch eine Dramaturgie mit Charakteren, Unterredungen und Dialogen. […] Die Kyniker sind nicht nur ‚sprechende Wesenʻ, sondern auch Körper, die etwas sagen, selbst wenn die Enunziation anfangs nicht in Signifikantenketten zum Ausdruck kommt. […] In kynischen ‚Performancesʻ hat Sprache mehr als eine denotative und repräsentative Funktion; sie hat eine ‚existenzielle Funktion.“ Und er kommt zu folgendem Schluss: „Die Untersuchung der Art und Weise, wie die Kyniker Bios, Existenz und ‚militanteʻ Subjektivierung verstanden, kann Kampfmittel liefern, um Widerstand gegen die Mächte des heutige Kapitalismus zu leisten, der die Subjektivitätsproduktion zu seiner primären und wichtigsten Wirkung macht (Guattari).“ Lazzarato behauptet diesbezüglich, dass Foucaults parrhesiastische Enunziation nicht hegelianisch, marxistisch, habermasianisch, ja nicht einmal lacanianisch, sondern vielmehr maschinistisch, das heißt guattarianisch ist. Lazzarato, Signs and Machines, S. 207, 242 f., 246.

85 Shouse, „Feeling, Emotion, Affect“.

86 Brian Massumi, Parables for the Virtual: Movement, Affect, Sensation, Durham, NC: Duke University Press 2002, S. 28.

87 Man sollte jedoch auch anmerken, dass beispielsweise die Erfindung des Metakinos, das eine Realität ohne Repräsentation oder sprachliche Vermittlung zeigt, ein Äquivalent dieses außersprachlichen Akts der Signifikation darstellt. Deleuzes Forderung nach einer kinematischen Metaphilosophie zielt genau auf diesen toten Punkt der Kritischen Theorie ab, die es vorzieht, die Wirkung körperlich-affektiver Dispositionen zu vernachlässigen.

88 Guattari behauptet: „Das Sprechen bleibt zweifellos ein essenzielles Medium; aber es ist nicht das einzige; alles, was die signifikationalen Ketten kurzschließt, die Körperhaltungen, die Merkmale der Gesichtshaftigkeit, die räumlichen Anordnungen, die Rhythmen, die asignifikanten semiotischen Produktionen (zum Beispiel in Bezug auf den Geldverkehr), die maschinistischen Zeichenproduktionen können in diesem Typ eines analytischen Gefüges enthalten sein. Das Sprechen selbst, ich kann es nicht genug betonen, greift hier nur insofern ein, als es ein Träger existenzieller Ritornelle ist.“ Guattari, Chaosmose, S. 161.

89 Während des byzantinischen Bilderstreits, als sich das Christentum als eine universelle Religion (katholikós‚ das heißt eine allumfassende Kirche) etablierte, als also die Ökonomie und Herrschaft über jeden anderen Aspekt des gesellschaftlichen Lebens zu dominieren begannen, wurde der Neologismus eikonomia (Ikonomie) geprägt. Diese sicherte die Position der Kunst innerhalb der göttlichen Ordnung, in der das Bild einen semiotischen Ausnahmezustand bezeichnete. Die Ikonomie war imstande, die Autorität des Zeichens semiotisch über die des Herrschers – das heißt das Bild über die vorhandene politische Macht – zu stellen. Tatsächlich wiederholt die ikonoklastische oder antimimetische Haltung der Avantgarde die Gesetze der Ikonomie, die heute (und spätestens seit der Romantik) als eine besondere Form von Autonomie der Kunst anzusehen ist. Dies wird oft im Kant’schen Sinn verstanden, demzufolge Kunstwerke keinen instrumentellen oder praktischen Wert haben. Doch die (als Ikonomie verstandene) Autonomie der Kunst bedeutet, dass Kunst danach strebt, die Gesamtheit des Sozialen/Politischen/Ethischen auf das Ästhetische zu gründen und das Kunstwerk zur Grundlage jeder Bedeutung und jedes Werts zu erheben. Für eine Diskussion der Ikonomie im zeitgenössischen Kontext, siehe Sotirios Bahtsetzis, „Eikonomia: Notes on Economy and the Labor of Art“, in: e-flux Journal 35, Mai 2012.

90 Stephen Zepke, Art as Abstract Machine: Ontology and Aesthetics in Deleuze and Guattari, New York: Routledge 2005, S. 4.

91 Jean-François Lyotard, Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, übers. v. Christine Pries, Wien: Passagen Verlag, 3. Aufl. 2006, S. 12.