Dies soll keine bloß abstrakte Diskussion über den Komplex von Ökozid und Genozid bleiben. Sie muss geerdet werden. Und sie wird persönlich werden müssen, verbunden mit der Erfahrung, mit gesellschaftlichen Tatsachen, mit Emotion und mit Zeugenschaft. Lassen Sie mich also erneut versuchen, mich vorzustellen. Wie alle Menschen, und auch wie alle Tiere, habe ich Protokolle der Begrüßung und der Vorstellung erlernt. Wenn ich sehe, dass andere es anders machen, hilft mir dies, mir über meine eigenen Gebräuche und Konventionen klarzuwerden. Da ich mit meinem Verhältnis zu dem Ort kämpfe, von dem ich stamme, habe ich über den Ort nachgedacht, über Indigeneität und über indigenes Wissen. Die kritische Theorie konnte mir nicht dabei helfen, meine eigenen tiefsten Gefühle über den Ort, von dem ich stamme, zu verstehen, meine Begegnungen mit dem indigenen Wissen hingegen haben mir schrittweise gezeigt, was meine Gefühle bedeuten. Wie kann das sein?
Wenn ich indigene Theoretiker lese oder ihnen zuhöre, bin ich nicht nur von ihren kraftvollen und großzügigen Botschaften beeindruckt, sondern auch von der Art und Weise, wie sie sich vorstellen. Viele von ihnen nennen ihren Namen und ihre Stammes- und Clanzugehörigkeit. Beinahe alle, so habe ich festgestellt, geben an, woher sie stammen. Das gab mir zu denken. Auch wenn ich kein Indigener bin und keinerlei Stammes- oder Clanzugehörigkeit habe, würde ich in einem ähnlichen Zusammenhang nicht sagen, woher ich stamme. Ich würde dazu keine Notwendigkeit oder Verpflichtung sehen. Warum ist das so? In den Protokollen, die ich erlernt habe, scheint vorausgesetzt zu werden, dass der Frage, woher man stammt, keine große Bedeutung zukommt. (Natürlich gibt es Grenzsysteme und -regeln, bei denen der Geburtsort von allergrößter Wichtigkeit ist. Ich denke hier aber an einfachere Situationen: Wenn Fremde sich begegnen oder durch einen gemeinsamen Freund vorgestellt werden, oder wenn man sich mit einer Rede an Menschen wendet, die man nicht kennt.) Anderes wird für wichtiger erachtet, damit andere Menschen einen verorten, sich zu einem verhalten und offen für das sein können, was man sagt. Im Allgemeinen wird erwartet, dass man sagt, was man macht, wie man seinen Lebensunterhalt verdient. Vielleicht auch, in manchen Zusammenhängen, wo man arbeitet und lebt, heute. Doch nicht, woher man stammt. Das ist bezeichnend.
Ist die Abwertung des Ortes (im Gegensatz zur Nationalität) in der Moderne Teil des Problems, Teil der Abtrennung und der Gleichgültigkeit, die es erlauben, dass Orte, Landschaften und Ökosysteme vor unseren Augen missbraucht und zerstört werden? Wenn dem so sein sollte, wäre dann die Neuverbindung zum Ort ein für die Verteidigung der Biosphäre notwendiger politischer Schritt? Können wir Nichtindigenen von dem indigenen Wissen respektvollere und reziproke Weisen lernen, uns zu unseren Orten zu verhalten und sie zu bewohnen? Ließen sich hier, ohne die Unterschiede des Kontexts, der Geschichte und der Position aus dem Augen zu verlieren, Modelle finden, um unsere eigenen Praktiken neu zu orientieren und auszurichten?
Ich würde gerne sagen können, dass ich von einem Ort stamme, dass ich dort verwurzelt bin, dass ich verwurzelt bleibe. Doch die Moderne mit ihrer Erziehung zur Ruhelosigkeit, ihrem permanenten Hunger und den Schatten des Schreckens hat mich entwurzelt. In der Moderne sind Orte Territorien, die erobert, beherrscht und geplündert werden wollen. An Orten beuten die Modernen Bodenschätze aus, gehen ihren Süchten nach, suchen das sogenannte Glück. Indigeneität, jene leidenschaftliche Verbindung mit dem lebendigen Land, der lebendigen Luft und dem Wasser des Ortes, stellt für die modernen Unternehmungen ein Hindernis dar. Indigene Völker, die immer bereit waren, das Leben ihrer Orte zu verteidigen, stehen dem im Weg. Um modern zu sein, darf niemand indigen sein. In der Moderne werden die indigenen Völker vertrieben, enteignet, geraten ins Visier von Beseitigung und Auslöschung. Modernisten nennen dies Fortschritt.
Ich würde gerne sagen können, dass ich wenigstens früher einmal verwurzelt war. Jeder wächst irgendwo auf. Der Ort, an dem ich aufwuchs, ist nicht der Ort, an dem ich geboren wurde. Nicht der Ort, wo meine Mutter und meine Vorfahren begraben sind. Nicht der Ort, wo ich heute lebe. Und dennoch denke ich, dass ich diesen Ort kenne, wie ich keinen anderen jemals kennen werde. Mein Körper erinnert diesen Ort, die Himmel, die Lichter, die Stürme, die Gerüche. Mein Körper erinnert die Vogelgesänge und die Rufe, die Bäume und Pflanzen, die Schlangen und die Fische, das Grollen der Gischt, die sich auf dem Korallensand bricht.
Spottdrossel, Trauertaube, Helmspecht. Feuerameise, Feldwespe, Grüner Anolis. Palmfarn, Schwärmer, blaues Eisenkraut. Elliot-Kiefer, Sägepalme, Diamant-Klapperschlange. Rosafarbenes Haargras, violettes Liebesgras, glänzende Heidelbeere. Passionsblume, Büffelgras, Schwarzäugige Susanne. Buschhäher, Korallenschlange, Gopherschildkröte. Platane, Kokospflaume, Rote und Schwarze Mangrove. Kanadareiher, Fischadler, Rosalöffler. Kormoran, Schlangenhalsvogel, Schneesichler. Alligator, Meeräsche, Schaufelkopfbarsch. Kokospalme, Königspalme, Weißgummibaum. Truthahngeier, Weißkopfadler, Schwalbenweih. Saure Limette, Würgefeige, Palmettopalme. Seetraube, Strandgras, Meeresbohne. Zwergseeschwalbe, Flussseeschwalbe, Scherenschnabel. Blitzschnecke, Olivenschnecke, Eischnecke. Seekuh, Teufelsrochen, Großer Tümmler. Steinkrabbe, Tarpun, Braunpelikan. Segelfisch, Fliegende Fische, Hammerhai. Goldmakrele, Wahoo, Großer Barrakuda. Gewitterwolke, tropischer Sturm, Hurrikan.
Für keinen anderen Ort auf der Welt könnte ich eine solche Litanei beschwören. All diese Namen sind für mich auch Ortsnamen. Jeder von ihnen ruft exakte Erinnerungen zurück, echte Erfahrungen in spezifischen Landschaften, in vertrauten Gärten oder Parzellen, Kiefersavannen oder Sägegras-Feuchtgebieten, auf Strandabschnitten, die meinen Füßen bestens vertraut waren, oder an den Ausläufern des Golfstroms, auf Wogen, die von meinem Innenohr gefühlt und erinnert werden. Jeder Name ebenso wie das Leben, das er benennt, versetzt mich in eine Region der Erinnerung, in der Körper und Ort realer und lebendiger sind als mein Gefühl der vergehenden Zeit. Diese Erinnerungen, diese Eindrücke sind ebenso wie die Geschichten, die sie umkreisen, für mich, so empfinde ich, unglaublich wichtig. Sie sind für mich noch immer eine Verbindung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie aufhören werden, eine Verbindung zu sein. Von Erinnerungen wird gesagt, sie seien fließend und würden sich entziehen, seien schwer zu fassen und veränderlich. Und doch fühlen sich diese Erinnerungen dauerhaft an, außerhalb von Zeit und Veränderung und der Notwendigkeit des Todes. Es sind meine Erinnerungen. Wenn ich sterbe, werden sie als Erinnerungen gewiss ebenfalls sterben. Aber als Wiederhall des Lebens dieser Orte werden sie gewiss weiterleben. Dieses „gewiss“ ist nicht modern. Ich bin entwurzelt, aber ich trage, so empfinde ich, eine tiefe, mehr als rationale Absage an die Moderne in mir. Diese Namen, Erinnerungen, Erfahrungen sind mehr als nur meine. Sie haben ihre eigene Lebenskraft, man nenne es Energie oder Geist. Daher sind das Land, die Luft, das Wasser, so empfinde ich, lebendig, wie manche schon immer gesagt haben. Sie schäumen und vibrieren vor Leben und Energie und Emotion. Durch diesen Ort, von dem ich stamme, bewahre ich etwas, eine Spur oder einen Anklang oder eine Note von seinem Pulsschlag, von einem Leben, das mehr ist als ich und mehr als jeder Mensch.
Welches Südflorida?
Wenn ich nun hinzufüge, dass ich Amerikaner bin, werden Sie es erraten: Ich stamme aus Südflorida. Aber das ist immer noch vorschnell, damit ist noch immer nicht alles gesagt. Es gibt viele Südfloridas. Aus welchem stamme ich nun? Welchem – oder welchen – fühle ich mich zugehörig, und wie drücke ich das aus? Diese Fragen plagen mich. Sie spornen mich an, eingehender darüber nachzudenken, was ich empfinde; sie zwingen mich, mehr zu schreiben. Südflorida ist ein Land mit tiefen Narben von Genozid und Ökozid, vergangenen wie andauernden. Zunächst einmal muss ich Folgendes anerkennen: Die indigenen Völker Südfloridas wurden durch Wellen kolonialer Invasionen, Sklavenraubzüge und europäische Krankheiten ausgelöscht. Die Völker der Calusa und der Ais, der Jeaga, Jobe, Tequesta und Matecumbe waren zu der Zeit, als die Briten 1763 Florida von den Spaniern übernahmen, allesamt kulturell, wenn nicht biologisch ausgelöscht.
Als Andrew Jackson 1818 in Florida einmarschierte, war die Halbinsel bereits von neuen Völkern bewohnt, von den Seminolen und den Mikasuki, die sich von der Creek-Nation abgespalten hatten und im 18. Jahrhundert in unbewohnte Gebiete der Region Panhandle eingewandert waren. Zu diesen Gruppen gesellten sich ehemalige Sklaven afrikanischer Herkunft, die von Plantagen in den südlichen US-Bundesstaaten geflohen waren, sowie ein neuerlicher Zustrom von Creeks, die auf der Flucht vor dem amerikanischen Einmarsch in das Gebiet der Mississippi waren. Die tieferen Gründe für diese Kriege gehen auf den Sklavenhandel mit indigenen Völkern zurück, der im 17. Jahrhundert von britischen Kolonisten begonnen wurde. Zusätzlich zu den Seminolen und Mikasuki und den Völkern afrikanischer Herkunft lebten dort auch Familien von kubanischen Fischern, die Mitglieder verschiedener Stämme geheiratet hatten und sich auf kleinen Farmen an den Küsten Südfloridas und in den Keys niederließen. 1821 übernahmen die Vereinigten Staaten die Kontrolle über Florida und leiteten umgehend das rassistischste Projekt der Vertreibung und Auslöschung in die Wege, das das Land je gesehen hatte. Die Seminolen, die Mikasuki und die Völker afrikanischer Herkunft leisteten erbitterten Widerstand. Bis 1858, als die Amerikaner das Ende der sogenannten Seminolenkriege erklärten, waren die meisten der überlebenden Seminolen und Mikasuki sowie einige „Schwarze Seminolen“ in das heutige Oklahoma vertrieben worden. Doch in den Everglades und in Big Cypress verblieben einige kleine unbezwungene Gruppen. Dies sind die Florida-Seminolen und Mikasuki-Stämme, die heute in den nördlichen Randgebieten des Everglades-Nationalparks und in sechs über Südflorida verstreuten Reservaten leben.
Ökologisch gesehen wird Südflorida von der warmen Sonne sowie dem Wasser genährt, das zwischen März und September beinahe jeden Nachmittag vom Himmel fällt. Historisch strömte dieses Wasser quer durch das Land, die südliche Halbinsel hinunter bis zum Meer, wo es sich in den Mangrovenwäldern und den durch Barriereinseln geschützten tropischen Seemarschen mit dem Salzwasser vermischte. In einem der historischen Haupteinzugsgebiete wurde das Wasser vom Lake Kissimmee nach Süden zum Lake Okeechobee geführt. Wurde der Lake Okeechobee in der Regenzeit des Sommers gefüllt und überflutet, dann floss die überlaufende Wasserfläche langsam Richtung Süden durch die Sümpfe der Everglades bis zur Florida Bay. Erhebungen von Laubbäumen auf kleinen tränenförmigen Inseln sprenkeln das Sägegras-Feuchtgebiet. Zwischen dem Shark River Slough und dem Caloosahatchee River liegt das Big Cypress Swamp, das produktivste Ökosystem auf der Halbinsel. Pinienflachwälder und -savannen bedeckten die Küstenausläufer und andere Trockengebiete.
Diese Mischung begünstigte eine vielfältige Flora und Fauna, deren Reichtum heute kaum noch vorstellbar ist. Unter US-Kontrolle hatten spekulative Projekte, industrielle Monokultur und Eingriffe in die Strömungsverhältnisse ökologisch katastrophale Folgen. Der Highway 1 entlang der Ostküste ist eine endlose Einkaufsmeile, die von Homestead bis Jupiter reicht. Der Großteil der Mangroven wurde abgeholzt und durch Betonwälle ersetzt, und toxische Abflüsse von den Straßen, Golfplätzen und den Gärten der Villen haben den Großteil der tropischen Seemarschen abgetötet. Ausbaggerungsarbeiten und Kanalprojekte haben die wunderbaren bestehenden Flüsse verschandelt und die Strömungen von den Everglades weggeleitet. Die großen Zuckerunternehmen, die das Land südlich des Lake Okeechobee kontrollieren, verbrauchen einen Großteil des verbliebenen Wassers, und was die Zuckerrohrplantagen passiert, ist mit Agrochemikalien verseucht. Seit einem halben Jahrhundert sterben die Everglades einen langsamen Tod.
Die Buchten und Küstenseen sind derweil größtenteils ausgelaugt. Wie der Florida-Panther steht auch die Seekuh kurz vor dem Verschwinden, und heute sterben die Korallenriffe, da Kohlendioxidemissionen die Ozeane sauer werden lassen. Zwei Kernkraftwerke an den Küsten Südfloridas harren auf ihren Supersturm. Das Land ist widerstandsfähig, kann aber nur ein bestimmtes Maß an Missbrauch verkraften, bevor die Beziehungsnetze, die das Leben aufrechterhalten, zerreißen. Ich habe den vorkolonialen Reichtum der Region nie gesehen, doch in meiner Jugend schienen das Land, das Wasser und der Himmel erstaunlich voll von Leben. Doch selbst ich kann die Zeichen des Verlusts und der Schädigung heute wahrnehmen, und zwar überall und bei jedem Besuch.
Aus welchem dieser Südfloridas stamme ich? Ohne Frage gehöre ich dem Zustrom von Siedlern an, die es ruiniert haben. Das ist meine Kultur, so muss ich voll Scham und Traurigkeit zugeben. Ich wuchs als Moderner auf, wurde zu einem solchen erzogen. Das kann ich nicht ändern. Was ich aber ändern kann, oder zu ändern versuchen kann, ist die Art und Weise, wie ich diesen Hintergrund heute auslebe.
Gründungsverbrechen des Siedlungskolonialismus
Die ersten Verbrechen, die Gründungsverbrechen meiner überstolzen Nation, waren die Invasion, die Besetzung und die Besiedlung diese Kontinents durch bewusste Akte des Genozids und des Ökozids. Juristen mögen über die rechtlichen Definitionen dieser Begriffe streiten, doch ich glaube, wir wissen nur allzu gut, was sie bedeuten: Genozid ist die Zerstörung und Auslöschung menschlicher Gemeinschaften; Ökozid ist die Zerstörung und Auslöschung ökologischer Gemeinschaften. Die Mittel und Verfahren variieren, doch das ist ihr Ergebnis. Es sind Verbrechen gegen das Leben, ob das nationale oder internationale Recht sie als solche anerkennt oder nicht. Menschliches Recht und menschliche Gesetze haben hier nicht das letzte Wort. Nichtsdestotrotz ist das Recht eines der Felder, auf dem der Kampf um die Verteidigung der Biosphäre ausgetragen wird. Die bemerkenswerte Festschreibung der Rechte von Mutter Erde, oder Pachamama, in Ecuador und Bolivien, sowie die globalen Kampagnen für ein Recht der Erde und den Rechtsbegriff des Ökozids sind inspirierend und wichtig. Doch der entscheidende Punkt ist hier, dass die Grundlagen der Vereinigten Staaten von Amerika illegitim waren und bleiben; dem unbedingten Rechtsgrundsatz zufolge, auf dem alle bestehenden Gesetze basieren, ist die US-amerikanische Besetzung von gestohlenem Land auf entschiedene Weise illegal. 240 Jahre „vollendeter Tatsachen“ können dies nicht ändern oder eine Nation von ihrer Geschichte freisprechen: die Vernichtung indigener Gemeinschaften durch Massaker, Grausamkeit, Versklavung, Vertreibung und Enteignung mittels Diebstahl, Betrug und juristischen Intrigen; die Kriminalisierung indigener Sprache und Kultur sowie Kindesentführungen; wirtschaftlicher Zwang und Korruption, Schlägertrupps und ein ganzes teuflisches Arsenal von Terror, Verelendung und Demoralisierung. Dies wurde alles schon viele Male gesagt, es kann jedoch nicht oft genug gesagt werden.
Schlimmer noch, diese Prozesse setzen sich in Nordamerika und auf der ganzen Welt fort. Sie können im Sinne der „ursprünglichen Akkumulation“ und der „neuen Einhegungen“ beschrieben werden. Wir könnten von Imperialismus, Kolonialismus und Neokolonialismus sprechen, von Globalisierung und Neoliberalismus. Wir würden heute von dem internationalen Finanzsystem zu sprechen haben, von „Troikas“ und Nationalbanken, von dem globalen Schuldgefängnis, das von den amerikanisch dominierten Institutionen der Weltbank, des IWF und der WHO betrieben wird. Und dann könnten wir von dem Widerstand gegen diese Institutionen und Prozesse sprechen: den Zapatistas, der Altermondialismus-Bewegung, dem Weltsozialforum, der Bewegung der Landlosen (MST), Occupy, den Indignados, La Via Campesina und Idle No More.
Sandy Grande fordert eine Verlagerung von abstrakten liberalen Begriffen der sozialen Gerechtigkeit und der Demokratie hin zur Mobilisierung eines eher interventionistischen Projekts der Dekolonisierung. Sie liefert Argumente dafür, diese Prozesse mit dem Begriff des „Siedlerkolonialismus“ zu beschreiben. Siedlerkolonialisten kommen, um zu bleiben, und die Vertreibung und Auslöschung indigener Völker sind ein notwendiger Teil dieses Projekts. Ich stimme Grandes Argumentation sowie deren Folgerungen zu: Da ich als Mitglied der herrschenden „Whitestream“-Kultur in Florida aufwuchs, bin ich ein Siedlerkolonisator, der in vielerlei Weise von der Zwangsvertreibung – und im Fall Floridas von der tatsächlichen Vernichtung – der indigenen Völker profitiert hat. Und ich bin noch tiefer verstrickt, da sich in der Zeit, in der ich lebe, die Verelendung, Enteignung und der kulturelle Genozid indigener Stämme überall in den Vereinigten Staaten fortgesetzt hat und sich weiter fortsetzt, offiziell, in meinem Namen, als US-Staatsbürger. Der neueste Stand wurde mir auf Hawaii präsentiert, auf der besetzten Insel Oahu, wo US-amerikanische Militärbasen 23 Prozent der Landmasse einnehmen.
Während ich darüber nachdenke, woher und von wem ich abstamme, beginne ich zu verstehen, dass das Land nicht auf modernistische Weise besessen werden kann, nicht ohne Verbrechen und Grausamkeit, nicht ohne einen Krieg gegen das Leben. Es ist nicht unmöglich, den indigenen Völkern das gestohlene Land zurückzugeben, das ihnen gemeinsam gehörte, bevor unsere Vorfahren hierher kamen, um sie zu vertreiben. Für verschiedene öffentliche Projekte hat die Regierung oft für weitaus weniger ehrenwerte Zwecke Zwangsenteignungen vorgenommen, um das Land von Privateigentümern gegen Entschädigung zu übernehmen. Auch unter dem Regime des Privateigentums ist also ein Mechanismus vorhanden. Wenn dies außerhalb der Vorstellungskraft liegt, dann weil unsere nationale Vorstellungskraft verarmt und infantilisiert ist, und nicht weil es unmöglich wäre. Sicherlich könnten und sollten viel größere Teile des Landes den Ureinwohnern zurückgegeben werden. Auch Reparationen, die leichter durchzuführen sind, wären angemessen. Eine lebhafte nationale Debatte über beides sowie über die Wiederherstellung der vollen Selbstbestimmung der Ureinwohner wäre ein Anfang. Ich sage dies als US-Bürger, der immer noch das Recht und die Pflicht hat, seine Regierung zu kritisieren; es ist an den indigenen Völkern selbst, zu sagen, was sie wollen und brauchen, und was sie von nichtindigenen Unterstützern wie mir erwarten. Klar ist, dass die Moderne davon abhängt, das Land unter Verhältnisse des Privateigentums zu bringen und zu halten. Aber dies ist nicht die einzige Art und Weise, einen Ort zu bewohnen oder Nahrungsmittel wachsen zu lassen. Der private Besitz von Land ist nur so lange eine Notwendigkeit, wie die Logik der Akkumulation vorherrscht. Vom Würgegriff der Moderne befreit, käme der Reichtum an Alternativen, von denen viele traditionell sind, eindringlicher ins Blickfeld.
Aus welchem Südflorida behaupte ich also zu stammen? Aus demjenigen, an das ich mich erinnere, und aus demjenigen, an das ich mich nicht erinnere. Aus demjenigen, das die kritische Theorie verurteilen kann, und aus demjenigen, das sie nicht ergründen kann. Aus demjenigen, das meine siedlerkolonialistische, moderne Kultur wiederholt vergewaltigt hat und weiterhin missbraucht: das von Zuckerbaronen, Immobilienspekulanten, Bankern, Offshore-Pächter und all den anderen Nachkommen Andrew Jacksons beherrschte. Aus demjenigen, das von Hochhäusern, Trophäen-Gebäuden, Gated Communities und Spring Breakers entwürdigt wird. Aus demjenigen, das von der Abwesenheit der Völker der Calusa, Ais, Jeaga, Jobe, Tequesta und Matecumbe heimgesucht wird, die Ponce de León zwei Mal zurückgedrängt haben und ihm seine tödliche Wunde versetzten. Aus demjenigen, das sich weiterhin über die vergangene Ermordung und Vertreibung vieler Seminolen und Mikasuki durch meinen Staat empört. Aus demjenigen, das heute dennoch durch die Anwesenheit jener bereichert wird, die von den Seminolen, Mikasuki und Schwarzen Seminolen abstammen, die nie bezwungen wurden und das Land niemals verließen. Aus demjenigen Südflorida, das durch die Nachfahren der versklavten Afrikaner aus der ganzen Karibik bereichert wird. Aus demjenigen, über das Regen, Stürme und Hurrikane hinwegfegen, und demjenigen, das das kommende Klimachaos erwartet und sich für es bereit macht. Aus demjenigen, in dem die kulturelle und biologische Diversität des Lebens hartnäckig fortbesteht, trotz all der Schäden, Verluste und Dezimierungen. Aus den heiligen Ruinen also, wo das Land, die Luft und das Wasser wallen und flirren, voll des Lebens der Lebenden und des Lebens der Untoten.
Athen, Mai 2016