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Die unauslöschliche Präsenz des Gurlitt-Nachlasses:
Adam Szymczyk im Gespräch mit Alexander Alberro, Maria Eichhorn und Hans Haacke

Um zunächst die Fakten über den zwar allseits bekannten, jedoch bisher noch nie gesehenen Gurlitt-Nachlass zusammenzufassen: Er besteht aus Kunstwerken und -gegenständen, die der deutsche Kunsthistoriker und -händler Hildebrand Gurlitt (1895–1956) zusammengetragen hat, einer der vier offiziell ernannten Kunsthändler, die im Auftrag und zugunsten Nazideutschlands Kunst gekauft und verkauft haben. Nach Gurlitts Tod im Jahr 1956 und dem seiner Frau Helene 1968 übernahm sein Sohn Cornelius Gurlitt (1932–2014) die Sammlung, die damit für mehr als vierzig Jahre aus der Öffentlichkeit verschwand, bis sie im Februar 2012 von der Polizei in Gurlitts Wohnung in München entdeckt wurde. Später wurden in seinem Haus in Salzburg weitere Kunstwerke und -gegenstände gefunden: Der bekannte Umfang des Nachlasses umfasst somit mehr als 1.500 Objekte.

Einige Monate nachdem die Entdeckung und Beschlagnahmung des Gurlitt-Nachlasses im November 2013 von der deutschen Zeitschrift Focus publik gemacht worden war, bildete die deutsche Regierung zur Klärung der Provenienz der Werke eine internationale Arbeitsgruppe aus Kunsthistorikern, Anwälten sowie Vertretern von Institutionen, die sich mit Naziraubkunst befassen. Seitdem hat sowohl in der deutschen und internationalen Presse und in den sozialen Medien wie in akademischen Kreisen und politischen Foren eine umfassende öffentliche Debatte stattgefunden. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Textes sind von den insgesamt 1.500 Werken fünf den rechtmäßigen Erben übergeben worden.

Cornelius Gurlitt starb am 6. Mai 2014. Er vermachte die Werke in seinem Besitz dem Kunstmuseum Bern, das sich nach einigen Diskussionen dafür entschied, den Nachlass anzutreten, während zugleich die notwendige Provenienzforschung gemeinsam mit den Regierungen Deutschlands und Bayerns fortgesetzt werden sollte. Sollten juristische Schritte der Gurlitt-Familie, die die Zurechnungsfähigkeit Cornelius Gurlitts bei Abfassung seines Testaments anzweifelt, erfolglos bleiben, scheint es letztlich auf eine Aufspaltung der Sammlung hinauszulaufen: in einen „sauberen“ Teil, bestehend aus Arbeiten mit rechtlich einwandfreier Provenienz, der in das Kunstmuseum Bern überführt werden wird, und in eine „problematische“ Gruppe, die zur weiteren Provenienzforschung in Deutschland verbleibt. Der Nachlass wird damit als kulturelle und historische Einheit, als materielle Verkörperung der historischen Umbrüche und als politisches Faktum zu verschwinden beginnen.

Der Prozess der Geschichtsbereinigung durch die Aufspaltung des Gurlitt-Nachlasses in eine Vielzahl isolierter, verstreuter, individueller Objekte – von denen einige privaten Eigentümern zurückgegeben, andere in Museen überführt, wieder andere Gegenstand weiterer Untersuchung bleiben werden – könnte durch die Präsentation des kompletten Nachlasses im Rahmen der documenta 14 im Jahr 2017 unterbrochen und sichtbar gemacht werden. Die Werke könnten in der Neuen Galerie in Kassel gezeigt werden, einem im 19. Jahrhundert gegründeten Museum, das sich für gewöhnlich seiner eigenen Sammlung sowie temporären Ausstellungen moderner und zeitgenössischer Kunst widmet. Die Ausstellung würde die Form eines materiellen Archivs oder eines Inventars physischer Objekte annehmen, in einer Präsentation, die ihren Status als Beweismaterial hervorheben würde, statt sie lediglich als Gegenstände der ästhetischen Kontemplation oder der kunsthistorischen Interpretation erscheinen zu lassen.

Die documenta ist vielleicht der beste Ort, um Fragen der Geschichte und der Erinnerung mittels „Zeugenobjekten“ öffentlich zu diskutieren. Schließlich verfolgte bereits die erste Ausgabe der Ausstellung, die 1955 von Arnold Bode organisiert wurde, das Ziel, eine „Brücke“ zwischen der Avantgarde in den Jahren vor der Nazizeit und der Nachkriegszeit zu bauen und dabei die Periode der Naziherrschaft zu überspringen, die die Avantgarde zu „entarteter Kunst“ erklärt hatte. Sowohl der Gehalt als auch die historische Entwicklung des Gurlitt-Nachlasses würden eine präzise Untersuchung jener dunklen Epoche dieser Zwischenzeit erlauben, in der zahlreiche Künstler verfolgt und ihre Arbeiten beschlagnahmt oder von Ausstellungen ausgeschlossen wurden. In diesen Jahren diffamierte das Regime einerseits politisch inkorrekte Kunst, um sie dann zu verbieten, zu rauben oder physisch zu zerstören, während andererseits Händler wie Hildebrand Gurlitt die staatlich gebilligte Zerstörung in einen Gewinn für ebendiesen Staat verwandelten, indem sie, oftmals unter zweifelhaften Umständen, Werke kauften und verkauften. Indes waren solche Figuren der Kunstwelt imstande, ihre eigenen beträchtlichen Bestände aufzubauen. Dabei wechselten sie oftmals die Seiten – wie Gurlitt – und konnten nach Kriegsende ungehindert fortfahren.

Das folgende Gespräch, das zwischen Mai und Juli 2015 geführt wurde, berührt moralische, rechtliche, historische, kunstgeschichtliche und künstlerische Fragen, die mit dem Gurlitt-Nachlass zusammenhängen, und schließt auch die Implikationen für die über die Naziraubkunst hinausgehenden Debatten über Restitutionspolitik mit ein. Gemeinsam mit mir diskutierten die deutsche Künstlerin Maria Eichhorn und der ebenfalls aus Deutschland stammende Künstler Hans Haacke, die für ihre eigenen Untersuchungen nachdrücklich die Methodik der Provenienzforschung angewandt haben. Am deutlichsten ist dies der Fall in Haackes Manet-PROJEKT’74, für das Wallraf-Richartz-Museum in Köln konzipiert und von diesem abgelehnt, sowie in Eichhorns Arbeit Restitutionspolitik im Münchner Lenbachhaus im Jahr 2003. Der vierte Teilnehmer der Diskussion war der amerikanische Kunsthistoriker Alexander Alberro, der sich in seinen Veröffentlichungen eingehend mit der Politik des Ausstellens sowie mit den Mechanismen der Verdrängung beschäftigt hat, die auf der in Kunstwerken verkörperten Konstruktion der sozialen Identität und der Erinnerung beruhen.

Die unauslöschliche Präsenz des Gurlitt-Nachlasses in der Geschichte Deutschlands des 20. und 21. Jahrhundert ist eine Allegorie, die ihrer Auflösung harrt. Man muss dies auch als ein sich wandelndes Bild der Prozesse der Aufdeckung und Verbergung der Wahrheit betrachten, wie sie in der Kunstgeschichte sichtbar und verständlich werden.

– Adam Szymczyk

Maria Eichhorn, Restitutionspolitik / Politics of Restitution (2003), Detail: Vorder- und Rückseite von Theodor Leopold Weller, Mädchenbildnis (ca. 1820/25), Öl auf Leinwand, 38.7 × 37.5 cm, Leigabe der Bundesrepublik Deutschland, Kunstbau, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München

Adam Szymczyk: Wie ihr wisst, schlage ich vor, den Gurlitt-Nachlass in seiner Gesamtheit im Rahmen der documenta 14 in der Neuen Galerie in Kassel zu zeigen. Während ihre Provenienz weiterhin Gegenstand der Untersuchung ist, könnten diese Werke, die in Cornelius Gurlitts Wohnung in München und in seinem Haus in Salzburg versteckt waren, öffentlich ausgestellt werden. Mit diesem Schritt würden die Arbeiten aus dem Dunkel geholt und sowohl für die Experten als auch für die allgemeine Öffentlichkeit sichtbar gemacht werden. Ich glaube, dass das Sichtbarmachen dieser Sammlung das mit dem Fall verbundene diskursive Potenzial aktivieren und in eine Debatte führen könnte, anstatt das Gespräch einfach zu verhindern oder zu bereinigen, wie es die maßgeblichen Autoritäten (zumindest derzeit) von uns verlangen.
Mich interessiert eure jeweilige Einschätzung der Sammlung und des damit verbundenen Falls. Versteht ihr die fraglichen Arbeiten als Beweisobjekte, wie David Joselit sie nennen würde,1 oder als visuelle Zeugen? Was tragen diese Objekte – jenseits ihrer Eignung, gewisse historische Handlungen zu bezeugen und einen spezifischen Beleg für kriminelle Ereignisse darzustellen sowie als rechtliche Basis der Rückgabe zu fungieren – zu unserem Verständnis der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts bei? Was teilen sie uns über die sich bis in die Gegenwart fortsetzende Kulturpolitik Nachkriegsdeutschlands mit?

Maria Eichhorn: Ich betrachte den Fall Gurlitt, der jetzt medienwirksam ans Licht kam, nicht als Einzelfall, sondern als Teil einer umfassenderen Problematik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Sammlung Gurlitt – auch vor ihrer Entdeckung, in ihrem verborgenen Zustand – ist von öffentlichem Interesse. Das Interesse der Öffentlichkeit an der Aufdeckung steht der Notwendigkeit des Verheimlichens, des Versteckens und des Verbergens gegenüber. Die Sammlung war aus Angst vor Entdeckung verheimlicht worden. Eine Reihe von Personen muss dieses Geheimnis gehütet haben. Es ist auch anzunehmen, dass sich noch unentdeckte Werke aus dem Gurlitt-Nachlass außerhalb Deutschlands befinden. Dieser Fund macht darüber hinaus deutlich, dass es in Deutschland noch weitere solcher Verstecke geben muss, ebenso wie es offensichtlich ist, dass sich im deutschen Familienbesitz geraubte Objekte sowie unter Zwang oder illegal erworbene Grundstücke und Gebäude befinden.
Geraubte Objekte können als sinnhafte Bedeutungsträger – im Zusammenhang mit historischen, juridischen, ökonomischen, politischen und sozialpsychologischen Geschehnissen – sowie als „Informationsquellen über den Holocaust“2 gelesen werden. An diesen Objekten haften vergangene und gegenwärtige Ereignisse und Vorgänge.
Als ich 2003 mein Ausstellungs- und Forschungsprojekt Restitutionspolitik im Lenbachhaus in München realisierte,3 umfasste der Restbestand aus Nazi-Sammlungen, die 1945 von der Monuments, Fine Arts, and Archives Section der amerikanischen Militärregierung entdeckt worden waren, noch rund 2.200 Kunstwerke und Artefakte.
Ein Großteil der sichergestellten Werke erwies sich als Raubkunst, vorwiegend aus jüdischem Privatbesitz in Deutschland oder in den von den Nazis besetzten Ländern. Bis März 1949 restituierte die Monuments, Fine Arts, and Archives Section 249.683 unrechtmäßig entzogene Objekte, den Restbestand übergab sie in die Zuständigkeit deutscher Restitutionsbehörden. Viele dieser sogenannten Bundesleihgaben, deren Status bis heute nicht geklärt ist, befinden sich in Sammlungen deutscher Museen. Fünfzehn dieser Bundesleihgaben, die sich damals in der Sammlung der Städtischen Galerie im Lenbachhaus befanden, waren Gegenstand meiner Untersuchung.

Alexander Alberro: Die Frage, ob die Kunstwerke im Gurlitt-Nachlass Beweisobjekte oder visuelle Zeugen sind, ist ziemlich kompliziert. Sicherlich hat die Gruppe von Kunstgegenständen als sichtbarer Beweis zu gelten. Auf einer Ebene handelt es sich um den Beweis für eine Sammlung oder einen „Nachlass“, wie du es mit dem meiner Meinung nach treffenderen Begriff benannt hast. Auf einer anderen Ebene belegt es wenigstens zum Teil ein Verbrechen ungeheuren Ausmaßes. Und auf noch einer weiteren Ebene ist es der Beweis für ein großes Geheimnis. Dieses Geheimnis ist natürlich jenes von Cornelius Gurlitt, der sein Geheimlager von Kunstwerken über mehrere Jahrzehnte in seinen verschiedenen Wohnungen versteckt hielt. Dass der Nachlass nun öffentlich wurde, macht ihn zu einem sichtbaren Geheimnis. Aber durch das Verhalten der Museen und der deutschen staatlichen Institutionen in diesem Fall, die den Gurlitt-Nachlass in eine Reihe isolierter und verstreuter Gruppen und Objekte aufgeteilt haben, wurde das Geheimnis zu einem Geheimnis der deutschen Nation insgesamt. Worin besteht dieses größere Geheimnis? Was wird hier verdrängt? Ironischerweise dringt es umso stärker an die Oberfläche, je mehr es verdrängt wird.
Gleichzeitig erscheint die Sammlung auch als visuelle Zeugin. Einerseits zeugt sie von der Sammlungstätigkeit eines bestimmten Individuums, eines Kunstliebhabers, der sich in den Dunstkreis der Nazis begeben hatte, sowie von dem verborgenen Leben seines Sohnes. Andererseits ist der Nachlass wenigstens teilweise ein Zeuge für einen Schrecken unerkannten Ausmaßes: das Ereignis des Holocausts. Die verzweifelte Tat des Versteckens und – in jüngerer Zeit – der Zerstreuung scheint in diesem Fall der (bewusste oder unwillentliche) Versuch zu sein, die Forderungen nach Anerkennung abzuwenden, die von vielen gestellt werden, die in den 1930er- und 1940er-Jahren von der nationalsozialistischen Kultur ausgegrenzt wurden. Aber mehr noch denn als Beweis oder als Zeuge ist der Gurlitt-Nachlass ein mustergültiges Beispiel für das, was der Psychoanalytiker Dori Laub und die Literaturkritikerin Shoshana Felman als „Zeugnis“ bezeichnet haben.4 Für Laub hat der Holocaust „keine Zeugen hervorgebracht“. Wie er in seinem wichtigen Essay „An Event without a Witness“ darlegt: „Nicht nur versuchten die Nazis in der Tat, die physischen Zeugen ihres Verbrechens zu vernichten, sondern die immanent unfassbare und trügerische psychologische Struktur des Ereignisses ihrer Handlungen schloss auch seine eigene Zeugenschaft aus, sogar durch die Opfer selbst.“5 Überraschenderweise, aber mit einer Eindringlichkeit und einer beinahe unheimlichen Koinzidenz, fungiert der Gurlitt-Nachlass als ein Zeugnis für die radikale Krise einer Geschichte, die als solche dennoch zugleich unsagbar und unaussprechlich bleibt – eine Geschichte, die sich in ihren eigenen Begriffen nicht mehr erzählen und nicht mehr formulieren lässt.

AS Mich hat ein Essay von Claude Lanzmann beeindruckt, der jüngst unter dem Titel „Das Unnennbare benennen“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist.6 Dieser Titel schien mir vertraut, und als ich einen Blick in den Katalog der 5. Berlin Biennale [2008] warf, fand ich einen Essay, den Elena Filipovic und ich bei Georges Didi-Huberman in Auftrag gegeben hatten und der den Titel „Die Namenlosen ausstellen“ trug.7 Didi-Hubermans Text beginnt mit dem Satz: „Die Menschen, die Völker sind exponiert (exposés).“ Der Essay verbindet sich auf wunderbare Weise mit Lanzmanns FAZ-Artikel über das Verschwinden des Zeugen und der materiellen Dinge – jener „Werke“, die, wie Lanzmann schreibt, „in den Himmel der Kunst [verwiesen werden].“ Er schreibt:

Man schafft einen Gegensatz zwischen Erinnerung und Geschichte, zwischen Historikern und Zeugen: Die Zeugen werden bald tot sein, und so bleiben nur die Historiker, als einziges Fundament der Wahrheit, wie es scheint. Aber dabei vergisst man die Werke, als bildeten sie ein Hindernis für die Geschichte. Die Historiker, oder zumindest ein Teil von ihnen, entledigen sich ihrer, indem sie sie in den Himmel der Kunst verweisen. Aber die wahre Weitergabe erfolgt nur über die Werke.8

Lanzmann spricht auch über das Aufkommen der Geschichte – als Wissenschaft der professionellen Untersuchung und Interpretation von Ereignissen und Dokumenten, Taten und Dingen – und darüber, wie sie allmählich den Platz der verkörperten Erinnerung einnimmt. Womit nur gesagt sein soll, dass ich mir in Bezug auf den Gurlitt-Nachlass beziehungsweise – wie du es ausgedrückt hast, Alex – dessen Eliminierung, Fragen über das Verschwinden der Zeugen und die verkörperte Erinnerung stelle. Wenn diese Zeugen einer abgründigen Gewalt gestorben sind, können die verbleibenden Werke – in diesem Fall eine Sammlung – dann als eine andere Art von Zeugen einstehen? Mit welchem Ziel?

ME Claude Lanzmann betont die Notwendigkeit der Erfahrung für das Publikum seines Films Shoah (1985). Sein Film will kein Geschichtsunterricht, sondern Zeugnis sein. Die geraubten Kunstwerke und Objekte, die nach Kriegsende nicht restituiert worden waren, wurden jedoch nicht als Zeugnisse markiert, ihr Status als Raubkunst wurde vielfach verborgen.
Mit Ablauf der Fristen für Rückerstattungsansprüche – nach alliierten Gesetzen liefen in der amerikanischen Zone am 31. Dezember 1948 und in der britischen Zone sowie in Berlin am 30. Juni 1950 die Fristen ab – wurden 1949 die Collecting Points geschlossen und der nicht restituierte Bestand zunächst der Treuhandschaft des Bayerischen Ministerpräsidenten und dann der Treuhandverwaltung für Kulturgut in München übergeben. 1963 übernahm ihn der Bundesschatzminister. 1965 wurden Werke daraus in einer „Informationsschau“ im Schloß Schleißheim bei München den Leitern aller interessierten deutschen Museen präsentiert und anschließend auf 102 deutsche Museen als Leihgaben verteilt. 582 Gemälde, 1.289 Grafiken und 20 Gobelins gingen in die ständigen Sammlungen deutscher Museen, wo sie bis heute ausgestellt sind – als Kunstwerke und Artefakte, nicht als Zeugnisse.
Erst im Jahr 2000 wurde von der Koordinierungsstelle der Länder für Kulturgutverluste die Lost-Art-Internet-Datenbank eingerichtet (www.lostart.de), in der alle in deutschen Museen befindlichen Bundesleihgaben erfasst sind. Damit wurde von staatlicher Seite den Grundsätzen der „Washington Conference on Holocaust-Era Assets“ von 1998 entsprochen, die die Teilnehmerstaaten zur Rückgabe von unter den Bedingungen nationalsozialistischer Verfolgung entzogener Kulturgüter verpflichtet. Die Provenienzen des Gurlitt-Nachlasses werden jetzt recherchiert und die Ergebnisse online gestellt, ebenso teilweise seine Geschäftsbücher. Deutschland ist offensichtlich darum bemüht, sich unter den Argusaugen der internationalen Öffentlichkeit richtig zu verhalten. Die documenta mit ihrer internationalen Öffentlichkeit könnte der Ort sein, an dem der Fall Gurlitt anschaulich gemacht wird.

AS Womit eine weitere Frage aufgeworfen wird: Während Museen ihre Sammlungen unterhalten, um sie öffentlich zugänglich zu machen, behielt Cornelius Gurlitt die Werke lediglich zu seinem Privatvergnügen und entzog sie somit jedem öffentlichen Diskurs. Wie steht es dann um die Frage der Erhaltung, die man üblicherweise mit der Rolle der Museen assoziiert, Artefakte aufzubewahren und zu schützen, während in diesem Fall – und in ähnlichen Fällen – ein eigennütziges Ziel verfolgt wurde?

AA Viele Sammler unterhalten ihre Sammlungen von Objekten nur zu ihrem Privatvergnügen und entziehen sie dem öffentlichen Diskurs. Das relevantere Problem scheint mir darin zu liegen, dass die Existenz der vielen Objekte in dieser großen, zuvor geheimen Sammlung der Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde, derselben Öffentlichkeit heute jedoch immer noch die Möglichkeit verwehrt wird, die Sammlung als Ganze zu betrachten. Ich stimme mit dir überein, dass es sehr produktiv sein könnte, den gesamten Gurlitt-Nachlass an einem Ort zu zeigen. Und die documenta wäre mit ihrer frühen Geschichte als „Brücke“ von der historischen Avantgarde vom Anfang des 20. Jahrhunderts über die Zeit des Nationalsozialismus hinweg bis zur Rückkehr der modernen Avantgarde nach dem Krieg der völlig logische Ausstellungsort für dieses Archiv. Auf der documenta gezeigt, könnte der Nachlass auf vielerlei Weise betrachtet werden – kulturell, historisch, materiell, politisch –, was sich unausweichlich auf die ursprüngliche Logik beziehen würde, der die documenta im Jahr 1955 folgte.

ME Wenn solche Werke, ob in privatem oder in öffentlichem Besitz, öffentlich in Museen ausgestellt werden, sollte die jeweilige Institution unmittelbar verpflichtet sein, die Herkunft der Werke anzugeben. Hitler ließ eine umfangreiche Sammlung zusammentragen beziehungsweise zusammenrauben, um mit ihr ein in Linz in Österreich geplantes Kunstmuseum einzurichten. Von dort stammende Werke hängen seit Jahrzehnten in ständigen Ausstellungen von Museen, versehen mit den Angaben „Leihgabe“ oder „Leihgabe der Bundesrepublik Deutschland“ – ohne Hinweis auf ihre Herkunft aus Nazi-Sammlungen.
Paragraph 18 der Vorschriften der Militärregierung besagt, dass alle nach Januar 1933 von den Nazis in Deutschland oder den besetzten Gebieten angeeigneten Objekte, unabhängig davon, welche Umstände damit einhergingen, als Raubkunst zu betrachten seien, wenn sie entweder a) unmittelbar durch Beschlagnahme, Enteignung oder Plünderung angeeignet wurden oder b) indirekt durch Kauf oder andere Transaktionen. Alle Kulturgüter, die sich die Nazis angeeignet hatten, wurden ausnahmslos als gestohlen erachtet, unabhängig davon, ob Kaufverträge geschlossen worden waren oder nicht.
Empfänger der Restitutionen waren zunächst die jeweiligen Staaten, die wiederum die Objekte an ihre ursprünglichen Besitzer weiterleiten sollten. Nicht restituierte Werke aus diesen Beständen befinden sich noch heute in Sammlungen US-amerikanischer, niederländischer, britischer und französischer Museen.
1997 stellten einige französische Museen in Paris, Sèvres, Versailles und andernorts – darunter das Musée du Louvre, das Musée d’Orsay und das Centre Georges Pompidou – 900 solcher Werke aus, um deren Eigentümer ausfindig zu machen.

Maria Eichhorn, Restitutionspolitik / Politics of Restitution (2003), Installationsansicht, Kunstbau, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München

AS Hans, was beschwört oder bestätigt dieser Fall für dich in Bezug auf die Arbeitsweise und die Methodologie, die du in deiner künstlerischen Praxis entwickelt hast? Im Jahr 1974 hast du eine Serie von zehn Tafeln produziert, auf denen die Provenienz von Édouard Manets Spargelbündel [1880] nachgezeichnet war, beginnend mit Charles Ephrussi, dem französisch-jüdischen Kunsthistoriker und Sammler, der das Vorbild für Marcel Prousts Romanfigur Swann war, bis zu Hermann Josef Abs, dem profilierten Geschäftsmann im Dritten Reich, der seinen Einfluss nach dem Zweiten Weltkrieg behielt und das Gemälde schließlich dem Wallraf-Richartz-Museum in Köln stiftete. Diese Arbeit, das Manet-PROJEKT’74, wurde vom Wallraf-Richartz-Museum bekanntlich abgelehnt. Was hältst du vom derzeitigen Umgang der deutschen Behörden mit dem Gurlitt-Nachlass?

Hans Haacke: Mich haben die Lebensläufe der Besitzer des Manet-Gemäldes interessiert, was primär etwas anderes ist als die Recherche über die Provenienz eines Kunstwerks, die sich vorrangig auf Fragen des Eigentums und dessen Übertragung konzentriert. Der Auslöser für dieses Interesse war die finstere Rolle, die Abs in der Nazizeit und dann Ende der 1960er-Jahre als Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bank sowie als Vorsitzender des Fördervereins des städtischen Wallraf-Richartz-Museums in Köln spielte. Abgesehen von Manet und von Abs, der bei deutschen Firmen um Spenden geworben hatte, um das Spargelbündel für das Museum zu erwerben, waren alle, deren Biografie in meiner erweiterten Provenienz auftauchten, jüdisch. Damit hatte sich auf diesem unschuldig wirkenden Stillleben eine dicke Schicht von Geschichte abgelagert.
Das Gleiche würde natürlich für jedes Werk in der Gurlitt-Sammlung gelten. Es ist weithin bekannt, dass Hildebrand Gurlitt eine komplexe persönliche Geschichte hatte. Seine Großmutter war jüdisch. Er war ein früher Bewunderer dessen, was Hitler als „entartete Kunst“ verunglimpfte. Gurlitt verehrte diese Arbeiten bis zum Ende seines Lebens. Aus diesem Grund wurde er als Direktor eines Zwickauer Museums  entlassen und verlor 1933 seine Stelle als Leiter des Hamburger Kunstvereins. Er versuchte dann sein Glück als Kunsthändler, indem er jüdischen Sammlern unter Druck zeitgenössische Werke abkaufte und diese, ebenso wie von den Nazis in deutschen Museen beschlagnahmte Avantgardewerke, zumeist in der Schweiz verkaufte. Gegen Ende des Krieges arbeitete er sogar für das „Führer-Museum“ in Linz, für das er klassische Werke aus französischen Sammlungen beschaffte. Nach dem Krieg diente er von 1948 bis zu seinem Tod 1956 als Direktor des Düsseldorfer Kunstvereins.
Cornelius Gurlitt hingegen, der von seinem Vater diesen Schatz der Kunst des 20. Jahrhunderts  geerbt hatte, lebte äußerst zurückgezogen. Wahrscheinlich hat jede Arbeit in seiner Sammlung einen komplexen rechtlichen Hintergrund. Wenn die Herkunft  der Werke untersucht würde, gäbe dies Aufschluss über die individuellen Biografien ihrer Vorbesitzer – und über unsere kollektive Geschichte. Außerdem würde es unser Verständnis für die soziologischen Verwicklungen von Kunst erweitern.
Aus der Fernsicht betrachtet, scheinen es die maßgeblichen deutschen Behörden nicht eilig zu haben, Nachforschungen anzustellen oder die Ergebnisse ihrer Untersuchungen über die Herkunft der Werke im Gurlitt-Nachlass bekanntzumachen. Ich kann nicht beurteilen, ob dies aufgrund legitimer rechtlicher Bedenken geschieht. Größere „Transparenz“ – ein neuerdings populärer Begriff – würde dazu beitragen, das Ansehen der Behörden in der Öffentlichkeit zu verbessern.

AA Hans, dich verbindet eine lange Geschichte mit der Stadt Kassel, und auch mit der documenta: Du hast die zweite Ausgabe der Ausstellung im Jahr 1959 besucht. Adam hat dargelegt, inwiefern der Fall Gurlitt eine indirekte Verbindung zu der Zeit zwischen der Ausstellung Entartete Kunst von 1937 und der ersten documenta im Jahr 1955 bietet. In diesen Jahren zerstörten die Propaganda und der Apparat des nationalsozialistischen Regimes einerseits physisch, was für politisch inkorrekte Kunst befunden wurde, während andererseits akkreditierte Kunsthändler wie Hildebrand Gurlitt damit betraut waren, diese staatlich verfügte Zerstörung in einen Profit zugunsten desselben Staates zu verwandeln – indem sie Kunstwerke, oftmals unter den zweifelhaftesten Umständen, kauften und verkauften, während sie gleichzeitig ihre eigenen umfangreichen Sammlungen aufbauten; der Gurlitt-Nachlass etwa zählt über 1.500 Objekte. Stimmst du mit Adams Urteil überein, dass der Gurlitt-Nachlass als ein notwendigerweise verstörender Nachhall des ursprünglichen Versuchs der documenta fungieren könnte, eine Brücke zur modernen Kunst zu bauen?

HH Ich glaube, dass der Gurlitt-Nachlass, wie deine Frage bereits andeutet, im historischen Kontext der ersten documenta betrachtet werden kann, die 1955 in der Tat als überfällige Präsentation der im Dritten Reich als „entartet“ denunzierten Kunst konzipiert und weithin auch als solche angesehen wurde.
Arnold Bode und Hermann Mattern, Freunde und Kollegen in der Staatlichen Werkakademie in Kassel, jener Kunstakademie, die beide 1947 wiederbelebt hatten, realisierten diese außerordentliche  Ausstellung. Mattern, ein Landschaftsarchitekt, war mit der Durchführung der dritten, alle zwei Jahre stattfindenden Bundesgartenschau in der Karlsaue beauftragt worden, dem verwahrlosten, im 18. Jahrhundert in der Flussniederung der Fulda geschaffenen Park in Kassel. Die Stadt war für die Ausrichtung der dritten Ausgabe, die von der Bundesrepublik und dem Land Hessen finanziert wurde, ausgewählt worden, weil Kassel in einer relativ isolierten und einkommensschwachen Region Westdeutschlands unweit des Eisernen Vorhangs lag.
Bode hatte bereits in den 1920er-Jahren in Kassel seine eigenen Malereien gezeigt und dort Ausstellungen zeitgenössischer Kunst organisiert. 1933 verlor er seine Lehrposition in Berlin, weil er mit der nationalsozialistischen Kunstdoktrin nicht konform ging. Bode erkannte auf kreative Weise, dass das Kasseler Fridericianum ein geeigneter Ort sein könnte, um jene Kunst auszustellen, der er sich verbunden fühlte und die in Deutschland seit Jahrzehnten nicht zu sehen gewesen war. Das Fridericianum war das ausgebombte Gerippe des Museums, das 1779 von Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel errichtet worden war, finanziert durch den Verkauf seiner Untertanen, den„Hessians“, die im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg aufseiten der Briten kämpften. Die Gründung der documenta im Jahr 1955 war ein glückliche Zusammentreffen ökonomischer, politischer und kultureller Interessen. Sie hatte einen außerordentlichen Einfluss – wie auch ihre vier- beziehungsweise fünfjährige periodischen Neuauflagen– der bis heute nachhallt und andauert.
1955 ging ich noch aufs Gymnasium. Die erste documenta habe ich nicht gesehen. Aber die Existenz der Ausstellung sowie die Tatsache, dass Bode Professor an der Kunsthochschule in Kassel war, zusammen mit Fritz Winter, einem ehemaligen Bauhaus-Studenten und einem der wenigen abstrakten Maler, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit an deutschen Kunsthochschulen lehrten , waren für mich der Anlass, mich ein Jahr später um die Aufnahme an der Hochschule zu bewerben. Ich erinnere mich daran, wie Winter uns erzählte, dass er seine Gemälde unter die Dachsparren seines Hauses nageln musste, um sie vor den Nazi-Inquisitoren zu verstecken. In der neu gegründete Akademie, die für mehr als zwei Jahrzehnte in einer ehemaligen Kaserne in Kassel-Wilhelmshöhe untergebracht war, wehte der  Geist des Bauhauses.
Diese Umstände brachten mich dazu, gemeinsam mit meinen Kommilitonen beim Aufbau und als Aufsicht für die documenta im Jahr 1959 zu arbeiten, wodurch ich die Gelegenheit hatte, das Geschehen hinter den Kulissen der Kunstszene jener Zeit zu beobachten. Es war eine unbezahlbare Lehre! Was in der Ausstellung fehlte, war Kunst mit erkennbarer politischer Ausrichtung, wie etwa Werke von Otto Dix, George Grosz und John Heartfield, die wenige Kilometer weiter östlich in der DDR gefeiert und somit zu Spielfiguren des Kalten Krieges geworden waren, so wie der Abstrakte Expressionismus in der documenta von 1959 für den Westen werben sollte. Bemerkenswert ist auch, dass 1959 weder Marcel Duchamp noch die russischen Konstruktivisten vertreten waren – wahrscheinlich weil sie nicht zum Kanon Werner Haftmanns gehörten, dem führenden Kunsthistoriker hinter den ersten documenta-Ausstellungen.
Den Fall Gurlitt in die nächste documenta miteinzubeziehen, könnte – insbesondere bei jüngeren Besuchern und solchen ohne professionellen Kunsthintergrund sowie bei Besuchern aus dem Ausland – ein Verständnis für den politischen und rassistischen Ballast schaffen oder erweitern, der diese Periode der Kunst des 20. Jahrhunderts heimgesucht hat. Je nachdem, wie es präsentiert wird, könnte dem uneingeweihten Publikum auch eine Ahnung davon vermittelt werden, dass unabhängig davon, ob Werke solche Bezüge augenfällig machen, soziale und politische Verwicklungen der Kunst der Vergangenheit und der Gegenwart nicht fremd sind – genauso wenig wie Zensur, Selbstzensur und der Druck und die Manipulationen des Kunstmarkts.

AS Maria, glaubst du, dass die Entdeckung des Gurlitt-Nachlasses auch eine qualitative oder nur eine quantitative Bedeutung hat, und bringt dich dies dazu, deine frühere Arbeit zu Fragen der Provenienz zu überdenken, wirft es ein neues Licht auf sie? Meinst du, dass sich die materialistische Lesart, die du in der Vergangenheit entwickelt hast, auch hier anwenden ließe?

ME Ja, das glaube ich. Die für mein Ausstellungsprojekt Restitutionspolitik entwickelte Präsentationsform, die das Kunstwerk in ein Zeugnis oder analytisches Objekt verwandelt und es gleichzeitig mit einer konkreten Provenienzrecherche verbindet, um sowohl seinen Status zu bestimmen als auch eine etwaige Restituierung einzuleiten, ist nicht an einen spezifischen Ort und eine spezifische Sammlung gebunden, sondern als Aufklärungsmodell potenziell auf alle ungeklärten Fälle anwendbar. Die Bilder wurden in der Ausstellung solitär auf frei im Raum stehenden Displays präsentiert, sodass sowohl ihre Vorder- als auch ihre Rückseiten einsehbar und rundum begehbar waren.
Die jeweiligen Provenienzen der Bilder sowie jene Markierungen, die die vormaligen Besitzerinnen und Besitzer auf den Rückseiten der Bilder und Bilderrahmen angebracht hatten, wurden in Siebdruck auf die Ausstellungsdisplays gedruckt. Zusätzlich enthielt die Publikation als integraler Bestandteil des Ausstellungsprojekts neben ausführlichen Provenienzrecherchen und Textbeiträgen ein Glossar, in dem sich Erläuterungen zu beteiligten Personen und Institutionen finden.
Im Fall Gurlitt sehe ich nicht nur die Notwendigkeit einer lückenlosen Erfassung und Aufklärung aller Werke und der damit verbundenen Besitzverhältnisse sowie ihrer Restituierung, sondern auch die Notwendigkeit der Veröffentlichung in einer Ausstellungsform, die sowohl die Ergebnisse als auch die Werke selbst zeigt.

Hans Haacke, Manet-PROJEKT’74 (1974), zehn Schrifttafeln in schwarzer Rahmung unter Glas, einfarbige Fotoreproduktion von Manets Une botte d’asperges (Spargelbündel) im Museumsrahmen, Foto: Rolf Lillig; Tafeln je 80 × 52 cm, Manet-Reproduktion 83 × 93 cm, Museum Ludwig, Köln. Installation Galerie Paul Maenz, Köln, 1974

Hans Haacke, Manet-PROJEKT’74 (1974). Installation mit dem Originalgemälde von Manet in der Ausstellung Deutschlandbilder, Martin-Gropius-Bau, Berlin, 1997

AS Alex, in deinem Essay „Specters of Provenance“ für Marias Projekt Restitutionspolitik beginnst du mit einem Zitat von Karl Gutzkow, das von Sigmund Freud in „Das Unheimliche“ angeführt wird: „Was verstehen sie unter h[eimlich]? – ‚Nun … es kommt mir mit ihnen vor, wie mit einem zugegrabenen Brunnen oder einem ausgetrockneten Teich. Man kann nicht darüber gehen, ohne daß es Einem immer ist, als könnte da wieder einmal Wasser zum Vorschein kommen.‘“9 Des Weiteren bemerkst du, dass die Geschichte „das Unheimliche an sich hat, zu den ungelegensten Augenblicken zurückzukehren und plötzlich die tiefen und oftmals stark verdrängten Geheimnisse der renommiertesten Institutionen aufzudecken.“10 Glaubst du, dass es für diese Sammlung so etwas wie ein psychoanalytisches Verfahren gibt? Kann dieser Fall tatsächlich gelöst und abgeschlossen werden, oder sollte er offen bleiben, und genau darin würde unsere Pflicht bestehen?

AA Wie ich vorhin bemerkt habe: Je mehr man die Objekte zu verdrängen versucht, desto stärker dringen sie an die Oberfläche und verlangen, dass man sich mit ihnen beschäftigt. Ironischerweise ist es oftmals so, dass autoritäre Regimes wie etwa die Nazis erfolgreicher darin sind, Menschen zu töten und ihre Körper auszulöschen, als ihre Kultur zu zerstören. In diesem Sinne ist der Gurlitt-Nachlass als Ganzes so sonderbar, auf so unbequeme Weise fremdartig. Denn einerseits erscheint er so vertraut, intim – auf gewisse Weise sogar behaglich. Diese Kunstwerke sind uns bekannt; viele von ihnen haben wirklich nichts Besonderes an sich. Es ist eine ganz gewöhnliche Sammlung, die von einem zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts lebenden kleinbürgerlichen Ästheten zusammengestellt wurde. Aber diese Vertrautheit wird gerade durch die Tatsache infrage gestellt, dass wir außerdem wissen, dass der Nachlass versteckt wurde, aus dem Blickfeld gerückt, für viele Jahre vor der Öffentlichkeit verborgen. Er war ein großes Geheimnis – ein Familiengeheimnis, aber vielleicht auch ein Geheimnis oder ein vorsätzlich vergessenes Faktum im Milieu der deutschen und schweizerischen Kunstliebhaber und -händler der Nachkriegszeit. In diesem Sinne ist die Sammlung als Ganze das, was Freud als „uncomfortable, uneasy, gloomy, dismal, uncanny, ghastly“ – kurz als „unheimlich“ – beschreiben würde. Freud sagt, „das Unheimliche sei jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht“11 – und dem könnten wir das „Unvollständige“, „Blockierte“ und „Unverarbeitete“ hinzufügen. Und diese gespenstische Dimension, das Heimgesuchte des Nachlasses, scheint das zu sein, was diejenigen, die seine Präsentation auf der documenta verzweifelt zu verhindern suchen, am meisten fürchten.

AS Inwiefern lässt sich für euch also der Fall Gurlitt als eine allegorische Geschichte lesen, die noch nicht beendet ist, die vielmehr dazu tendiert, sich immer wieder zu erneuern?

ME Geschichte hört nicht auf. Wie gesagt, ich betrachte Gurlitt nicht als Sonderfall, sondern als Teil einer komplexen Problematik zum Thema NS-Raubkunst. Zu dieser Problematik zählen das Ereignis selbst, aber auch seine Interpretationen. Forschung schließt Primär- und Sekundärliteratur ein. Walter Benjamin verstand seine Schriften als in die Zukunft wirkende Diskussionsbeiträge, also allegorisch. Geschichte ereignet sich gewissermaßen in der Zukunft, könnte man mit Benjamin sagen. In diesem Sinne hört Geschichte nicht auf, sich auf Narrative der Vergangenheit zu beziehen und diese zu aktualisieren oder zu regenerieren, auch Uneindeutigkeiten und Widersprüche zu produzieren. Die Gurlitt-Spektakularisierung ist in so hohem Maße angestiegen, dass eine qualitative Veränderung, Umkehrung oder Abschwächung des Kernproblems – jenes der unrechtmäßig erworbenen oder erbeuteten Kunstwerke – droht. Um dem entgegenzuwirken, sollten die Strategien des Verheimlichens und des Verschleierns ergründet, sowie Prozesse der Sichtbarmachung, auch künstlerische, in Gang gesetzt werden, die es erlauben würden, die zugrundeliegenden verborgenen Konflikte aufzudecken und die Objekte des Gurlitt-Nachlasses als Bedeutungs- und Deutungsträger zu lesen.

AA Ich stimme mit Maria überein, dass sich der Fall Gurlitt außerordentlich gut dazu eignet, als allegorische Geschichte verstanden zu werden. Genau wie eine Allegorie, durch die komplexe oder abstrakte historische Prozesse eine konkrete narrative Form annehmen können, bietet die Gurlitt-Affäre eine Darstellung der Krise der Kultur in der Zeit des Nationalsozialismus, die sich in konzeptueller oder theoretischer Sprache nicht besser ausdrücken ließe. Außerdem scheint sie verschiedene historische Ebenen und Konflikte wirkungsvoll in einer einzelnen Figur zu kondensieren – dem Nachlass als Ganzen – wodurch eine Art relationales Denken ermöglicht wird, das in anderen Ausdrucksformen nicht so ohne Weiteres verfügbar wäre. Darüber hinaus hat der Fall Gurlitt als allegorische Repräsentation den zusätzlichen Vorteil des Indirekten, was es manchen Leuten erlauben wird, sich mit Materialien zu beschäftigen, die zu verstörend wären, um sich mit ihnen unmittelbar auseinanderzusetzen. Insofern Allegorien in formaler Hinsicht grundlegend narrativ sind und Antinomien in Widersprüche verwandeln, erlaubt uns der Gurlitt-Nachlass schließlich, wenigstens auf der Ebene des Imaginären genau die historischen Krisen und Blockaden zu durchdringen, von denen einige der Kunstwerke, aus denen der Nachlass besteht, heimgesucht werden.

HH Wie ich vorhin angedeutet habe, sollten wir uns dadurch jedoch nicht zu der Ansicht verleiten lassen, dies wäre nur ein Problem der Vergangenheit, auch wenn das Kapitel dieses besonderen Falls vermutlich bald abgeschlossen sein wird. Politische Manipulationen, Ausbeutung und die Unterdrückung von Kunst sind auch heute lebendig – in globalem Maßstab.

AS Glaubt ihr in diesem Sinne, dass die Debatte über den Gurlitt-Nachlass auch Fragen über das Problem der materiellen und symbolischen Restitution von Kulturgütern im Allgemeinen aufwerfen könnte, nicht nur jener, die unter der Naziherrschaft geraubt wurden? In den letzten Jahren haben viele Nationen oder Einzelpersonen auf die Unerlässlichkeit hingewiesen, Kunstwerke und traditionelle Objekte und Artefakte ihren rechtmäßigen Eigentümern zurückzugeben, sie „nach Hause“ zu bringen. Die Diskussion reicht von den Köpfen des Maori-Volks, die sich als ethnografische Objekte in französischen Sammlungen befinden, bis zu den von den Nazis geraubten kykladischen Figurinen, die kürzlich vom Land Baden-Württemberg an ein griechisches Museum zurückgegeben wurden. Dies betrifft also sowohl die antiken ägyptischen und griechischen Kunstschätze, die im 19. Jahrhundert von Reisenden erworben oder als Trophäen von siegreichen Armeen nach Hause gebracht wurden, als auch die Artefakte, die von Europäern in ihren ehemaligen Kolonien geraubt wurden. Damit soll keinesfalls die Grausamkeit der Politik relativiert werden, Juden und andere „unerwünschte Elemente“ im Dritten Reich zu enteignen, die, wie wir uns bewusst sind, systematisch und effizient war. Es soll damit vielmehr gesagt sein, dass wir in den letzten Jahren lauter werdende Stimmen von Menschen überall auf der Welt vernommen haben, die von den europäischen Mächten ökonomisch ausgebeutet, physisch ausgelöscht und ihrer kulturellen Besitztümer beraubt wurden. Meiner Ansicht nach könnte der Fall Gurlitt dabei helfen, die Diskussion über kulturelle Enteignung im Allgemeinen zu eröffnen.

ME Wie von Adam betont, möchte auch ich die Spezifität historischer Erfahrung und die Unvergleichlichkeit der Nazi-Herrschaft unterstreichen. Was die Wechselwirkung von Kolonialismus und Geschichtsschreibung angeht, schreibt Édouard Glissant in seinem berühmten Essay „Im Streit mit der GESCHICHTE“ (1976): „‚Wo die Geschichten von Völkern zusammentreffen, die noch gestern als geschichtslos galten, endet die GESCHICHTE (in Großbuchstaben).‘ Die GESCHICHTE ist ein sehr folgenreiches Phantasma des Okzidents, aus einer Zeit stammend, als dieser noch allein Weltgeschichte ‚machte‘.“12
Die Selbstbefreiung nichteuropäischer Kulturen von Jahrhunderte währender Unterdrückung, wie sie in der postkolonialen Theorie debattiert wird, umfasst nicht nur einen performativen Geschichtsbegriff und subalterne Narrative, sondern ebenso eine Diskussion über die Rückgabe gestohlener und verschleppter Objekte und Artefakte aus ehemaligen westlichen Kolonien. Neuartig ist dabei, seit Glissant breit rezipiert wird, die Schlussfolgerung, dass die Geschichtsschreibung nicht allein Historikerinnen und Historikern überlassen werden sollte, sondern vielmehr der hegemonialen Expertenkultur die Vielfalt alternativer historiografischer, künstlerischer und theoretischer Praktiken entgegenzusetzen. Diese Diskussion im Kontext der documenta gerade in Deutschland zu führen, macht Sinn. Denn statt sich seiner Vergangenheit als Kolonialmacht in Afrika zu stellen und Aufarbeitung und Wiedergutmachung zu leisten, bestimmen aktuell Asylfragen und Migrationsabwehr die politischen Debatten.

HH Plünderungen und die Zerstörung von Kulturschätzen sind natürlich in der gesamten Geschichte vorgekommen. Weltweit haben Sieger weltlicher wie religiöser Kriege – Eroberer, Potentaten und Kolonialmächte – auf eine Weise geplündert und zerstört, die ihnen als Vollendung ihres Sieges und Erniedrigung der Schwachen und Unterlegenen erschien. Einige der geraubten Schätze befinden sich heute in den Sammlungen großer Museen. Sie sind dort relativ sicher, auch wenn ihre Aufbewahrung dort nicht die Motivation der ursprünglichen „Exporteure“ war. Vandalismus und Raub dauern bis heute an. Auf dem internationalen Kunstschwarzmarkt findet ein lebhafter Handel mit illegal erworbenen Objekten statt.
Man könnte versucht sein, mit der Schulter zu zucken und zu sagen: „So ist das Leben eben. Was gibt es sonst Neues?“ Aber Resignation birgt die Gefahr in sich, die Bemühungen zu unterminieren, solche Zerstörung und den Handel mit gestohlenen Gütern zu verhindern. Auch wenn sich dieser Fall auf die Rolle Gurlitts vor, während und nach dem Dritten Reich konzentriert, könnte er eine umfassendere Diskussion eröffnen, die sich weit über diesen besonderen Fall hinaus erstreckt und auch Geschehnisse einbezieht, deren Zeugen wir gegenwärtig sind.

Édouard Manet, Une botte d’asperges (1880), Öl auf Leinwand, 46,6 × 55 cm. Wallraf-Richartz-Museum, Köln

Hans Haacke, Manet-PROJEKT’74 (1974), Detail

AA Dadurch, dass der Holocaust ein solch einmaliges und ungeheures Verbrechen ist, könnte er dazu geeignet sein, die Aufmerksamkeit auf andere Verbrechen zu lenken, so auch auf die kulturelle Enteignung im Allgemeinen. Ich glaube daher nicht, dass der Sprung von der Debatte um den Gurlitt-Nachlass, insbesondere da sie die Rückgabe betrifft, zu Fragen, die sich auf umfassendere Probleme der materiellen und symbolischen Restitution von Kulturgütern beziehen, allzu groß ist. Dass diese Rückgabe von Kulturgütern in unserer Zeit ein brisantes Thema ist, zeigt sich deutlich an der Entwicklung des Begriffs eines „universellen Museums“, wie er in der „Erklärung über die Bedeutung und den Wert universeller Museen“ zum Ausdruck kommt, die 2002 in München formuliert und von den Direktoren neunzehn großer westlicher Institutionen unterzeichnet wurde. „Heute“, so wird im Text erläutert, „sind wir besonders sensibel gegenüber dem Thema des ursprünglichen Kontexts eines Werks, doch wir sollten die Tatsache nicht aus den Augen verlieren, dass auch Museen einen gültigen und wertvollen Kontext für Objekte bieten. […] Museen sind Vermittler bei der Entwicklung der Kultur, und ihre Mission besteht darin, durch einen kontinuierlichen Prozess der Neuinterpretation Wissen zu befördern. Jedes einzelne Objekt trägt zu diesem Prozess bei.“13 Über diesen Text ließe sich vieles sagen, und er enthält noch viel mehr als das, was ich soeben zitiert habe. Doch im Augenblick möchte ich lediglich betonen, wie die Museen hier mit einer Halbautonomie ausgestattet werden sollen, indem sie als Orte mit einer eigenen „gültigen und wertvollen“ Logik und eigenen Interessen angesprochen werden, die sich in einigen Fällen von der Logik und den Interessen unterscheiden können, welche einem bestimmten Kunstobjekt oder einer Sammlung von Kunstobjekten einst zu eigen gewesen sein mögen.
Sofern es die Werke im Gurlitt-Nachlass betrifft, mag diese Differenz der Logik und der Interessen einerseits durchaus auf den zweckdienlichen Wunsch der potenziell ausstellenden Institutionen zurückgehen, die Sammlung als fragmentierte zu zeigen – aufgeteilt in Werke mit eindeutiger und zweifelhafter Provenienz sowie gemäß verschiedenen kunsthistorischen, stilistischen und qualitativen Kriterien; andererseits erscheint mir deine Schlussfolgerung sehr plausibel, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt und unter den gegebenen Umständen am angemessensten wäre, die Objekte in dieser Sammlung als ethnologische Artefakte zu betrachten, die innerhalb eines umfassenderen historischen Narrativs untersucht werden müssen. Dies macht meiner Meinung nach den Kern des Konflikts oder des Widerstands aus, mit dem du dich konfrontiert siehst.

AS Angesichts der gegenwärtigen politischen Umstände ist es wahrscheinlich kindisch und unrealistisch, auf „alles oder nichts“ zu bestehen, wenn man eine Ausstellung des Gurlitt-Nachlasses in Kassel ins Auge fasst. Nur einen Teil oder einige Beispiele aus dem Nachlass zu zeigen, erscheint als realistischere, bescheidenere Idee. Doch ich bin überzeugt, dass eine wichtige Dimension darin liegt, die ganze Wahrheit dieses Nachlasses zu beanspruchen, einschließlich der dazugehörigen Dokumente. Alexander hat vorhin erklärt, wie die Neuverteilung und Zerstreuung der Werke aus dem Nachlass – ihre Rückgabe an die früheren privaten oder institutionellen Eigentümer oder Erben oder ihr anhaltender rechtlicher Schwebezustand, ähnlich dem der von Maria erwähnten „Leihgaben der Bundesrepublik Deutschland“ – dazu beitragen würde, die Wahrheit über die lange, ununterbrochene Existenz des Nachlasses zu verschleiern oder zu verdrängen. Könntet ihr euch eine spezifischere politische Wirkung vorstellen, die die Ausstellung und die Debatte über den Gurlitt-Nachlass in Deutschland sowie in anderen Ländern haben könnte?

HH Obwohl in den deutschen Medien durchaus über den Fall Gurlitt berichtet wurde, könnte die Präsentation der Beweise für das widersprüchliche und kompromittierende Verhalten Hildebrand Gurlitts auf der documenta dies gewissermaßen körperlich erfahrbar machen. Aber, wie wir beide festgestellt haben, könnte der Fall darüber hinaus auch auf eine Weise präsentiert werden, dass sich Nichtdeutsche angesprochen fühlen. Es ginge darum, infragezustellen, ob Zerstörung und/oder Bereicherung durch unmoralischen Handel mit Kunstwerken ein rein deutsches Phänomen ist. Man muss jedoch Sorge dafür tragen, dass dadurch nicht etwa die Verurteilung der Nazis und ihrer Kollaborateure verharmlost wird.

AA Ich halte es für entscheidend, den Gurlitt-Nachlass in seiner Gesamtheit zu zeigen. Er bietet einen Blick auf die perverse Größe der Kunstsammlung, die ein Einzelner in Nazideutschland anhäufen konnte. Es macht einen fassungslos, wenn man darüber nachdenkt, dass es noch etliche Sammlungen wie diese gab, die unter ähnlichen Umständen zusammengetragen wurden – darüber sollten wir uns nicht täuschen. Dies mag abwegig erscheinen, aber es ist nur so unwahrscheinlich, wie dieselbe Behauptung vor einigen wenigen Jahren, vor der „Entdeckung“ des Gurlitt-Nachlasses, gewesen wäre. Ich persönlich bin aufgrund der schieren Größe der Gurlitt-Sammlung davon überzeugt, dass auch andere von ihrer Existenz gewusst oder wenigstens einen starken Verdacht gehabt haben müssen. Schließlich sprechen wir hier nicht bloß über einige Hundert Kunstwerke. Es handelt sich um eine enorme Größenordnung. Dies in kleinere Teile zu zerlegen bedeutet, diese Tatsache zu verschleiern.

ME Ich habe die documenta immer auch als gesellschaftliches Medium gesehen. Sie gehört für mich – zusammen mit vielen anderen Initiativen und Institutionen – zu jenem Kernbereich der Zivilgesellschaft, in dem das Selbstbild der Gesellschaft produziert wird. Künstlerische Gegenentwürfe zu erstarrten Geschichtsbildern können Umschreibungsprozesse anstoßen. Um auf Gurlitt und eine eventuelle künstlerische Auseinandersetzung mit dieser Thematik auf der documenta zurückzukommen: Mit der traditionellen Hermeneutik, der Methode der Einfühlung, kommen wir im Fall Gurlitt nicht weiter. Um „Historie zur Zukunft hin zu öffnen“, wie Jürgen Habermas eine gesellschaftsbezogene, auch künstlerische Forschung versteht, sollte der Untersuchungsgegenstand in seinem konkreten geschichtlichen Rahmen betrachtet und analysiert sowie in eine emanzipatorische Perspektive eingebettet werden. Auf eine dialektische Wechselbeziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu verzichten, hieße, den ideologischen und die herrschenden Verhältnisse affirmierenden Charakter der Sprache zu verkennen, des Mediums, in dem sich Geschichtsschreibung vollzieht. Die historische Erfahrung des Nazismus gehört zu einer Betrachtung der Causa Gurlitt ebenso dazu wie die Sicherstellung des gesammelten und kommentierten Wissens für die Gegenwart und Zukunft. Künstlerische Praxis, wie ich sie verstehe, ist ein die Disziplinen übergreifendes ästhetisches Anwendungsmodell für solche Fragestellungen.

AS Alexander, was wären deiner Meinung nach die geeigneten Mittel, um eine solche Debatte während der documenta 14 im Jahr 2017 stattfinden zu lassen? Welche Art von Herausforderung stellt es also für Kunsthistoriker dar, einschließlich derer, die sich – wie du selbst – vorrangig mit zeitgenössischer Kunst und Kultur beschäftigen? Warum sollte dies überhaupt ein zeitgenössisches Thema sein?

AA Ohne den Fall Gurlitt aus dem Blick zu verlieren, könnten wir das Gespräch als auf Fragen der Rückführung oder auf Fragen der Zirkulation gerichtet ansehen, und diese Richtungen würden wiederum neue eröffnen. Man nehme etwa die Rückführung. Es werden derzeit gewiss immer mehr Forderungen nach Rückführung gestellt. Warum ist das so? Einerseits hat es mit der Tatsache zu tun, dass, wie Hans bemerkt hat, noch immer ein äußerst lebhafter illegaler Handel mit künstlerischen, archäologischen und ethnischen Objekten stattfindet, und die direkte Beschäftigung mit dieser Frage könnte eine Möglichkeit sein, damit zu beginnen, diesen Handel zu unterbinden. Doch die Rückführung bringt uns zur Rolle der sich selbst als „universell“ bezeichnenden Museen und deren bisweilen zweifelhaften Mittel der Akkumulation ihrer Sammlungen. Und hier beziehe ich mich nicht nur auf auratische Objekte wie etwa die „Elgin Marbles“ des Parthenons, die Schätze des äthiopischen Magdala, die Bronzen von Benin, die Statue von Ramses II., die Büste der Königin Nofretete oder die Statuen von Hatschepsut. Die Rückgabeansuchen aus neuerer Zeit verzeichnen buchstäblich Tausende unbekanntere Objekte, die zum Gegenstand nicht weniger leidenschaftlicher Forderungen kleinerer Nationen und ethnischer Gruppen geworden sind, sie zu ihren Ursprungsorten zurückzuführen. Ich stimme insofern mit Hans überein, dass der Fall Gurlitt eine umfassendere Diskussion eröffnen und eine große Anzahl anderer Ereignisse und Fragen einschließen könnte, die wir heute beobachten und diskutieren. Wenn der Fall Gurlitt eine unmittelbare Auswirkung hat, dann könnte sie durchaus darin liegen, wie er die Rechtsprechung – und die Selbstwahrnehmung – in Bezug auf diese Forderungen beeinflusst.

 

Führer zur Ausstellung Entartete Kunst, die von 1937 bis 1941 beginnend in München durch diverse deutsche Städte reiste

Faltblatt zur ersten documenta, Kassel, 1955

Eintrittskarte zu Ausstellung Entartete Kunst in Berlin, 1938

Eintrittskarte zur ersten documenta, Kassel, 1955

1 David Joselit, „Material Witness. Visual Evidence and the Case of Eric Garner“, in: Artforum, 53, 6, Februar 2015.

2 Vgl. Raul Hilberg, Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln und Interpretieren, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2002.

3 Für weitere Informationen, vgl. Maria Eichhorn, Restitutionspolitik / Politics of Restitution, Ausst.-Kat. Städtische Galerie im Lenbachhaus, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2004.

4 Vgl. Shoshana Felman und Dori Laub, Testimony. Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History, New York: Routledge 1992.

5 Dori Laub, „An Event without a Witness“, in: Felman und Laub, Testimony, S. 80.

6 Claude Lanzmann, „Das Unnennbare benennen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Januar 2015. Online: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/claude-lanzmann-ueber-shoah-das-unnennbare-benennen-13391716.html.

7 Georges Didi-Huberman, „Die Namenlosen ausstellen“, in: When Things Cast No Shadow: 5. Berlin biennale für zeitgenössische Kunst, hrsg. von Elena Filipovic und Adam Szymczyk, Zürich: JRP Ringier 2008, S. 543–552.

8 Lanzmann, „Das Unnennbare benennen“. 

9 Sigmund Freud, „Das Unheimliche“ [1919], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 12, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1966, S. 227–268, hier S. 234. Freud zitiert eine Passage von Karl Gutzkow aus Daniel Sanders’ Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 1, Leipzig: Otto Wiegand 1860, S. 729.

10 Alexander Alberro, „Specters of Provenance. National Loans, the Königsplatz, and Maria Eichhorn’s ‚Politics of Restitution‘“, in: Grey Room, 18, Winter 2004, S. 65.

11 Freud, „Das Unheimliche“, S. 231.

12 Édouard Glissant, „The Quarrel with History” (1976), in: Caribbean Discourse: Selected Essays, übersetzt von J. Michael Dash (Charlottesville, University of Virginia Press, 1989), S. 64.

13 „Declaration on the Importance and Value of Universal Museums“, 2002. Online: http://icom.museum/fileadmin/user_upload/pdf/ICOM_News/2004-1/ENG/p4_2004-1.pdf. Die Erklärung wurde von den Direktoren folgender Institutionen unterzeichnet: Art Institute of Chicago; Bayerische Staatliche Museen, München (Alte Pinakothek, Neue Pinakothek); Staatliche Museen, Berlin; Cleveland Museum of Art; J. Paul Getty Museum, Los Angeles; Solomon R. Guggenheim Museum, New York; Los Angeles County Museum of Art; Musée du Louvre, Paris; Metropolitan Museum of Art, New York; Museum of Fine Arts, Boston; Museum of Modern Art, New York; Opificio delle Pietre Dure, Florenz; Philadelphia Museum of Art; Prado Museum, Madrid; Rijksmuseum, Amsterdam; Staatliches Museum der Eremitage, St. Petersburg; Thyssen-Bornemisza-Museum, Madrid; Whitney Museum of American Art, New York; British Museum, London.