FK Der Erwerb von Objekten für Sammlungen ist heute selten geworden, weil es in den Depots schlicht keinen Platz mehr gibt, wo man sie unterbringen könnte. Wir ziehen es vor, Objekte anzukaufen, die auf dem Kunstmarkt schon besonders hoch bewertet werden, weil das den Wert unserer eigenen Sammlungen erhöht. Die Idee, Artefakte bedrohter Völker retten zu wollen, hat man mehrheitlich aufgegeben. Die Arbeit, die von den forschenden Postdoktoranden am Musée du quai Branly durchgeführt wird, besteht in der Tat darin, rauszugehen und Pionierarbeit auf Gebieten zu leisten, auf denen es Kunstobjekte gibt.
CD Kaufen Sie am Quai Branly Objekte, die Aufschluss über die Herkunft anderer Objekte geben?
FK Wir komplettieren die bestehenden Sammlungen, und wir kaufen andere Objekte, die durch die Hände namhafter Sammler gegangen sind, die den Stammbaum eines Objekts erweitern.
CD Wenn nun aber ein Gastforscher, sagen wir einmal ein Künstler, sich dafür entscheidet, mit einem Objekt im Museum zu arbeiten, dann ist das nicht nur eine Form der Feldforschung, sondern diese Arbeit und künstlerische Erforschung erweitern den Stammbaum ebenso.
FK So etwas ist am Musée du quai Branly nicht möglich, weil künstlerische Untersuchungen als ästhetische Geste begriffen werden. Die Forschung kommt dann die Aufgabe zu, die Bedeutung dieser Geste zu decodieren.
CD Die Erforschung von Objekten durch den senegalesischen Künstler El Hadji Sy 2015 am Weltkulturen Museum war zum Beispiel eine vielschichtige Auseinandersetzung, um Zugang zu den konzeptionellen und formalen Vorstellungen zu erlangen, die der ursprüngliche Künstler – der durch den kolonialen Diskurs des Museums unsichtbar gemacht worden war – vorgeschlagen hat, als er oder sie ein Objekt, sei es ein Hocker, ein Stuhl oder irgend eine andere Arbeit, herstellte. El Hadji Sys Intervention in der Gegenwart war eine Form künstlerischer Forschung und lieferte eine Methode des Decodierens. Wenn man die Arbeit eines Anthropologen untersucht, kann man schnell dessen Position decodieren. Ein Künstler vermag es darüber hinaus, die Codes im Werk eines anderen Künstlers genau zu erkennen, auch wenn nicht alle Künstler einen gemeinsamen Ausgangspunkt teilen, während die Anthropologen und Kuratoren am Museum nicht über die gleichen Decodierungswerkzeuge wie die Künstler verfügen.
FK Unterdessen haben jedoch einige Anthropologen aufgehört, die Gesellschaften hinter diesen Objekten rekonstruieren zu wollen, und versuchen nun eher, den kreativen Prozess zu analysieren. Dabei geht es um die Art und Weise, wie das Objekt auf die Person, die es betrachtet, wirkt, es geht also um eine „agency“ im Sinne Alfred Gells.
CD Ja, aber die Mehrzahl versucht immer noch, die stofflich-materielle Kultur „ethnischer Gruppen“ zu präsentieren. Meiner Einschätzung nach ist es lange her, dass Anthropologen am Museum versucht haben, Ausstellungen zu entwickeln, die authentische Medien der Forschung sein wollten. Es gab diese Momente, nicht nur in der Ethnologie, sondern auch in der Ikonografie. Man denke an Aby Warburg, der Assemblagen aus Reproduktionen heterogener Werke schuf und der mit den äußerst fruchtbaren unmittelbaren Nachbarschaftsbeziehungen umzugehen wusste. Gleiches sollte man heute mit ethnografischen Objekten tun: sie keiner Region zuordnen, sie nicht mit Themenstellungen verbinden, die man sich vorher ausgedacht hat, sondern sie nutzen, um einen Objekt Atlas zu schaffen.
FK Der Zugang zu einer Datenbank ist für die Forschung unerlässlich; das bedeutet aber nicht, dass er den Umgang mit dem Objekt überflüssig macht oder ausschließt. Haben Sie deshalb in Frankfurt ein neues Labor eingerichtet, einen ganz konkreten Raum, um den Umgang mit dem Objekt verbessern zu können?
CD Die Einrichtung dieses neuen Labors am Weltkulturen Museum im Jahr 2010 war der erste entscheidende Schritt auf dem Weg, das Museum neu zu definieren. Es ging um die Schaffung unterschiedlicher Assemblagen heterogener Objekte, was in den Depots auf diese Weise nicht möglich ist. Ich bin davon überzeugt, dass es eine physische Notwendigkeit gibt, die Objekte zu beobachten, und das muss stattfinden, bevor die Ausstellung aufgebaut wird, in einer Phase des Experimentierens also. Während dieser Zeit können wir uns dafür entscheiden, auf ein bestimmtes Objekt zu verzichten, ein anderes aufzunehmen, diese oder jene Fotografie oder dieses oder jenes Archivdokument zu verwenden. Das ist eine Frage der Entwicklung von Bestandteilen eines neuen Konzepts mittels erhöhter Aufmerksamkeit für ein Artefakt, das in seiner eigensinnigen Materialität fordert, dass man sich um es kümmert, und das neu betrachtet werden will, das verlangt, dass man es neu denkt. Diese Art der Forschung ist wichtig, weil sie es möglich macht, die Perspektiven und Metaphern, die ein Objekt beschreiben, zu erweitern. Für mich ist es nur schwer begreiflich, warum allein Ethnologen das Recht haben sollten, die Bedeutung „ethnografischer“ Objekte zu bestimmen. Für mich stellen diese Objekte die Kunstgeschichten der ganzen Welt dar: verflochten, widersprüchlich und ungelöst.
FK Am Musée du quai Branly beruht die Vorrangstellung, die man ethnografischen Objekten einräumt, nicht auf ihrer Materialität, sondern auf ihrem Wert auf dem Kunstmarkt. Es handelt sich hier um keine Anhäufung wie im Pitt Rivers Museum in Oxford, wo alle Objekte, die dem selben Zweck dienen, zusammengestellt werden. Besonders seltsam am Musée du quai Branly ist der Umstand, dass die Sammlungen in den Depots in Hinblick auf ein Ereignis klassifiziert sind, auf das alle vorbereitet sein müssen: wenn die Seine über ihre Ufer tritt und es eine Überschwemmung gibt. In diesem Zusammenhang drängt sich mir der Vergleich zur Vorratsbildung von Medikamenten für den Seuchenfall auf. Der Wert der Objekte wird gemäß dem Verhältnis neu klassifiziert, inwieweit sie einem Risiko ausgesetzt werden dürfen.
CD Ja, Magazine, Depots und Lagerräume lassen ganz deutlich eine Dimension der Vorratsbildung erkennen. Man lässt die Objekte nicht raus, man gestattet es ihnen nicht zu zirkulieren. Meinen Sie nicht auch, dass die Biosicherheit in ethnografischen Museen mit der DNA in Zusammenhang gebracht werden muss, die sich immer noch in diesen Objekten finden lässt? Kann man virale DNA aus ethnografischen Objekten entnehmen? Wenn Sie sagen, dass die Pest durch Schuhe, die in Teppiche eingeschlagen waren, übertragen wurde, bedeutet dies dann auch, dass alle diese Objekte Überträger sein können?
FK Ich arbeite mit einem Professor der Mikrobiologie zusammen, der Objekte in medizinhistorischen und in ethnografischen Museen erforscht, um dem auf die Spur zu kommen, was man „Mikrobiom“ nennt. Also etwa Sperma in Penisfutteralen oder Darmflora in Mumien. Das mag ein Grund dafür sein, dass man derlei Objekte zurückhält: Sie besitzen ein Wissen, dass wir heute noch nicht sichtbar machen können, weil die Technik dafür fehlt.
CD Man könnte aber auch sagen, dass wir es bislang noch nicht geschafft haben, sie dauerhaft zu desinfizieren. All dieses Gift!
FK Hierbei handelt es sich aber um eine positive Infektion, weil sie die Spuren der menschlichen Wesen in sich birgt, die diese Objekte benutzt haben. Biosicherheit zerstört keine DNA, die Spuren von Lebewesen enthält.
CD Könnten diese Spuren einen anderen biologischen Virus freisetzen?
FK Es gibt Viren, die man eingefroren hat, und diese könnte man wieder lebendig werden lassen. Aber Viren in ethnografischen Objekten ...
CD Was halten Sie von der MRT-Analyse, die man erst kürzlich an ethnografischen Skulpturen durchgeführt hat? Ich hatte eher gemischte Gefühle, als ich 2015 die Ausstellung L’Anatomie des chefs d’œuvres (Anatomie der Meisterwerke) am Musée du quai Branly sah.
FK Eine solche Art von Forschungsarbeit am Museum finde ich faszinierend und konstruktiv. Entwickelt wurde sie in der Restaurierungsabteilung. Sie erlaubt es uns, das Staunen der ursprünglichen Sammler angesichts dieser Objekte nachzuempfinden. Wir spüren, dass es da Mächte gibt, wir wissen aber nicht, wie wir Zugang zu ihnen erlangen. Ich glaube keineswegs, dass wir damit ein Geheimnis verletzen. Ist Ihnen unwohl dabei, weil Sie glauben, wir würden die Gesellschaften nicht respektieren, die diese Objekte geschaffen haben?
CD Zunächst einmal weiß ich nicht, wer diese „Gesellschaften“, die diese Objekte geschaffen haben, genau sein sollten. Ich habe Probleme mit der Vorstellung einer Source Community. Heutzutage laden ethnografische Museen bevorzugt Künstler aus der Source Community ein. Abgesehen von einer gewissen Offenheit, die eine solche Herangehensweise erkennen lässt, verbirgt sich dahinter doch die Vorannahme, dass eine solche Person sich in einem Zustand der Authentizität befände und dem betreffenden Artefakt auf irgendeine Weise näherstünde. Ein solches Konzept bereitet mir vielerlei Schwierigkeiten. Auf diese Weise greift man wieder auf die Idee von Ethnizität zurück und tarnt das Ganze dann zum Vorteil des ethnologischen Diskurses. Ganz im Gegenteil dazu aber sollte der Zugang zu diesen Objekten nicht auf feststehende Vorstellungen von kultureller oder ontologischer Trägerschaft verkürzt werden.
FK Was mich an medizinischen Bildgebungsverfahren interessiert, ist der Umstand, dass sie jedermann ansprechen. DNA ist nicht bloß eine Sichtweise von ein paar Wissenschaftlern, das ist eine neue Universalsprache.
CD Ich halte den Körper für wesentlich komplexer. Das Verhältnis zwischen Körper und Geist lässt sich nicht auf die DNA reduzieren.
FK Schon, aber die Erforschung der DNA selbst entwickelt sich beständig weiter, indem diejenigen Teile der DNA untersucht werden, denen man bislang noch keine Aufmerksamkeit gewidmet hat. Die DNA der Mikroben, die sich im menschlichen Körper finden lassen, ist ein Überbleibsel. Die Mikrobe selbst ist verschwunden, ihre DNA aber lässt sich noch nachweisen. Sie ist das, was der menschliche Körper vor der Außenwelt verbirgt.
CD Dem stimme ich zu. Mit den Boli-Objekten aus Mali hingegen verhält es sich noch viel extremer. Der ganze verdichtete Symbolismus, der von diesen Objekten ausgeht, ist eine in sich geschlossene Sprache. Ein Boli ist mit Schichten von getrocknetem Blut überzogen, die es genau vor solchen simplen Erklärungen schützen sollen. Wenn man die Bedeutung von solchen Objekten im Jahr 2016 erschließen möchte, dann kann das nur durch einen Prozess geschehen, der aus einem Dialog zwischen verschiedenen Disziplinen vor unterschiedlichen kulturellen Hintergründen resultiert: rechtlichen, biologischen, philosophischen, kosmologischen und ästhetischen.
FK Die Zusammenarbeit mit dem Anthropologen Paul Rabinow hat mir gezeigt, dass die DNA alles andere als reduzierend ist. Sie ist eine gängige Sprache, die es uns ermöglicht, Behauptungen über das Lebendige aufzustellen. Genau das meint die Idee von der biosociality. Mich würde es sehr interessieren zu erfahren, wie Menschen aus der Gesellschaft der Songyé diese MRT-Bilder wahrnehmen, denn solche Bilder kennt man überall.
CD Aber wenn Sie „Menschen aus der Gesellschaft der Songyé“ sagen, von wem sprechen Sie dann?
FK Von Menschen, die es immer noch gibt.
CD Zum Beispiel eine Person aus dem Kongo, die an einer Universität studiert?
FK Ja, unter anderem.
CD Aber diese Person hätte dazu möglicherweise nicht mehr oder weniger zu sagen als jeder andere auch?
FK Ja, vielleicht. Aber in ihrer Kindheit hat sie unter Umständen solche Songyé-Figuren gesehen – wir ganz bestimmt nicht.
CD Ganz im Gegenteil! Womöglich sehen wir viel mehr von ihnen als sie. Weil diese Objekte sich alle in unseren Museen befinden!
FK Ja – aber medizinische Bildgebungsverfahren sind jedem zugänglich. Was macht das Zeigen einer Songyé-Skulptur weniger anstößig als das Zeigen eines Bildes einer Songyé-Skulptur?
CD Kommt hier nicht eine ethische Frage ins Spiel? Wenn wir die Situation umkehrten und Reliquien von Heiligen scannen würden, könnte das durchaus Kritik hervorrufen. Man kann die Sache auch noch weitertreiben: Eine Forschungsgruppe kommt nach Europa, sammelt alle Madonnen aus den Barockkirchen ein, packt sie in einen sicheren Keller, bringt sie nicht mehr in Umlauf und entwickelt Analysen, die mit den ethnologischen Fragen zusammenhängen, die sich mit den unbekannten Völkern befassen, die diese Arbeiten geschaffen haben.
FK Wenn diese Gesellschaft nun aber über eine Technologie verfügte, die es möglich macht, die Madonnen dort zu belassen, wo man sie gefunden hat, und zugleich in der Lage wäre, Kopien anzufertigen, die Eigenschaften dieser Skulpturen aufzeigen können, die man mit bloßem Auge nicht zu sehen vermag – würde das gehen? Das interessiert mich – über Simulakren zu verfügen.