Schließen

Wir sind zuallererst körperliche Wesen
Hila Peleg im Gespräch mit Rosalind Nashashibi, Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor sowie Ben Russell

Der Surrealismus, erklärte [Walter Benjamin], macht sich die Tatsache zunutze, dass das Leben nur an der Schwelle zwischen Schlafen und Wachen lebenswert schien, über die eine Flut an Bildern hin und her wogt. In dieser Schwellensituation öffnet sich die Sprache, so dass „Laut und Bild und Bild und Laut mit automatischer Exaktheit derart glücklich ineinandergriffen, daß für den Groschen ‚Sinn‘ kein Spalt mehr übrigblieb“.
– Michael Taussig, I Swear I Saw This: Drawings in Fieldwork Notebooks, Namely My Own (2011)

Ben Russell, Good Luck (2017), Vierkanal-Digitalvideoinstallation übertragen von 16-mm-Film, Farbe und Schwarz-Weiß, Ton, ca. 90 Min.

Ben Russell, Good Luck (2017), Vierkanal-Digitalvideoinstallation übertragen von 16-mm-Film, Farbe und Schwarz-Weiß, Ton, ca. 90 Min.

Nur wenigen Filmemachern der letzten Jahre ist es wie Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor gelungen, formale Innovationen mit einer programmatischen Haltung zum Filmemachen zu verknüpfen. In dem Prozess, die Beziehung zwischen ihren beiden Forschungsfeldern Anthropologie und Film neu zu erfinden, gründeten die beiden das Sensory Ethnography Lab, ein experimentelles Labor und Institut an der Harvard University. Die Filme, die dort entstehen, lassen eine dezentrale Herangehensweise an die visuelle Praxis des bewegten Bildes erkennen, die ohne Anthropozentrik auskommt. Nicht der Mensch als privilegierter Akteur oder Darsteller in der Welt steht im Fokus der Kamera, sondern das emotionale Beziehungsgeflecht zwischen natürlichen Elementen, Tieren, Technik und physischen Lebenswelten. Im Rahmen der documenta 14 präsentierten Paravel (geboren 1971 im schweizerischen Neuchâtel) und Castaing-Taylor (geboren 1966 in Liverpool) zwei neue Filminstallationen. In somniloquies (2017) fährt die Kamera über die nackten schutzlosen Körper schlafender Menschen. Der dazugehörige Soundtrack erzählt von den nächtlichen Gedankengängen, im Schlaf gemachten Äußerungen und weitschweifigen Träumen des homosexuellen amerikanischen Songwriters Dion McGregor. Dessen lüsterne, sadistische Träume wurden in den 1960ern sieben Jahre lang von einem New Yorker Zimmergenossen aufgezeichnet. Die Video- und Filminstallation Commensal (2017) wiederum setzt sich mit der kontroversen Figur des Issei Sagawa auseinander, der es 1981 zu trauriger Berühmtheit brachte, als er als Doktorand in Paris eine Studienkollegin ermordete und in einem Akt des Kannibalismus Teile ihrer Leiche aß.

Ben Russell hinterfragt die Konventionen dokumentarischer Repräsentationsprozesse von innen und erzeugt auf diese Weise intensive, hypnotische Erfahrungen. Sein filmisches Werk – von ihm selbst als „psychedelische Ethnografie“ bezeichnet – ist zwischen experimentellem Film und spekulativer Ethnografie angesiedelt. Bekannt wurde Russell, 1976 in Massachusetts geboren und mittlerweile in Los Angeles lebend, durch seine Trypps-Serie (2005–2010), in der er sich erstmals mit der physischen Erfahrung von Noise Music beschäftigte. Mehrere Langfilme, Installationen, Live-Performances sowie Kurzfilme folgten. Bei der documenta 14 präsentiert der Künstler seine neue Filminstallation, Good Luck (2017), in der er die sozialen und globalen Aspekte der Gewinnung von Bodenschätzen und die damit verbundene Politik analysiert. Der Film untersucht und vergleicht die Situation von Arbeitern in einer kleinen, illegalen Goldmine in Surinam mit den Beschäftigten einer staatlichen Kupfermine in Serbien. Unter dem Titel HALLUCINATIONS organisierte Russel außerdem ein dreitägiges Film- und Performancefestival in Athen, bei dem unabhängige Filmemacher, Musiker, bildende Künstler und Filmforscher gemeinsam das halluzinatorische Potenzial des Kinos ausloteten.

Die Londoner Filmemacherin und Künstlerin Rosalind Nashashibi (geboren 1973 in Croydon) dreht 16-mm-Kurzfilme. Electrical Gaza (2015) bietet Einblicke in die extreme Lebensrealität des isolierten Gazastreifens, wobei der Fokus auf dem autonomen, aktivistischen Leben seiner Bewohner_innen liegt. Ohne einem bestimmten Narrativ zu folgen reiht der Film Alltagsszenen aneinander, die – teils von Musik unterlegt – das öffentliche und private Leben von Kindern, Familien und Freund_innen zeigen, darunter auch Nashashibis Kamerateam. Die Aufnahmen unterscheiden sich von den vertrauten Bildern einer Region im Krieg, wie sie etwa während des siebenwöchigen israelischen Angriffs auf den Gazastreifen im Sommer 2014 ausführlich von internationalen Medien präsentiert wurden – einer Militäroperation, die den Tod tausender Palästinenser_innen zur Folge hatte. Nashashibis Film für die documenta 14, Vivian’s Garden (2017), porträtiert die beiden Schweizer Künstlerinnen Elisabeth Wild und Vivian Sutter, die als Mutter und Tochter im selbst auferlegten Exil in Panajachel, Guatemala, leben.

Trotz der offensichtlichen Verschiedenheit ihrer künstlerischen Praxis, ablesbar unter anderem an ihren unterschiedlichen Zugängen zur Ethnografie, sind allen genannten Künstlern und Künstlerinnen gewisse Anliegen gemein. Alle arbeiten mit der unmittelbaren, körperlichen Dimension des Filmerlebens sowie mit dessen emotionalen und halluzinatorischen Qualitäten. Ziel ist es, einen konzentrierten Reflexionsraum zwischen dem Verstehen und seiner Unmöglichkeit aufzuspannen – sowohl abstrakt als auch im Hinblick auf ganz spezifische Wirklichkeiten, die „Verstehen“ im üblichen Sinn häufig unmöglich erscheinen lassen.

—Hila Peleg

Hila Peleg: Eure filmischen Arbeiten weisen allesamt einen – direkten oder indirekten – Bezug zu Anthropologie und Ethnografie auf. Wie prägen diese Wissenszweige eure Tätigkeit? Véréna und Lucien, ihr seid beide ausgebildete Anthropologen.

Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor: Wir sind beide Anthropologen im Stadium der Rekonvaleszenz. Nach Abschluss unseres Doktorats verloren wir nach und nach die Begeisterung für unser Fachgebiet, vor allem für den Anspruch, die Wandelbarkeit kultureller Bedeutung und die Vielfalt weltweit gelebter Erfahrung allein durch Worte zu repräsentieren, insbesondere in Form von lehrsatzartigen Beschreibungen. Wir sind zuallererst körperliche Wesen, erst in zweiter Linie kommt die Sprache ins Spiel. Unabhängig voneinander – wir kannten uns damals nicht – verspürten wir das Bedürfnis, auf sprachliche Ausdrucksformen zu verzichten und uns mit Bildern und Klängen zu begnügen.

Aber Anthropologen im Stadium der Rekonvaleszenz können auch rückfällig werden. Es kommt immer wieder vor, dass unser Arbeitsansatz im weiteren Sinne ethnografisch ist, da wir bis zum Abschluss einer Arbeit mehrere Jahre mit unseren Studienobjekten verbringen. Und wir studieren noch immer die aktuelle anthropologische Literatur, wenn auch nicht mehr so eifrig wie früher. Wenn wir ein neues Projekt beginnen, versuchen wir aber oft, so wenig wie möglich darüber zu wissen und nichts zu lesen oder zu sehen, was damit im Zusammenhang steht – aus Angst, unsere Wahrnehmung könnte durch die Literatur oder die Art, wie eine Frage zuvor thematisiert wurde, beeinflusst werden. Außerdem misstrauen wir den fachspezifischen Scheuklappen der Anthropologie nach wie vor. Wie es der Freund eines Freundes, ein Philosoph, einmal formulierte: In einem genialen Schachzug haben die Anthropologen mit der „teilnehmenden Beobachtung“ eine Methode erfunden, die – obwohl vermeintlich einzigartig – nichts weiter ist als die conditio humana selbst.

Ben Russell: Ich habe im Rahmen meines Studiums Anthropologie studiert und kam mit ethnografischen Filmen in Kontakt, lange bevor ich selbst zu drehen begann. Rückblickend scheint es naheliegend, dass meine Filmprojekte, die sich als Zeit-/Raum-Porträt, partizipatorische Nonfiction, Verkörperung und kritische Analyse gleichermaßen verstehen, davon beeinflusst wurden – auch wenn Vorlesungen zu Filmtheorie und Postkolonialismus dies wieder wettmachten. In meinem selektiven Zugang setzt sich die Anthropologie ganz elementar mit dem gegenwärtigen Daseinszustand auseinander, strebt die Ethnografie nach einem aktuellen Bild von uns, um so unser aktuelles Wesen besser befragen zu können. Diese beiden Themen bilden das Fundament meiner eigenen Praxis, wobei meine Definition von uns nicht nur das Subjekt, sondern auch den Schöpfer und Betrachter inkludiert – wie ein dreiseitiger Spiegel.

HP: Rosalind, du hast – anders als die anderen – nicht Anthropologie studiert.

Rosalind Nashashibi: Nein, ich habe einen künstlerischen Background und weder Anthropologie noch Film studiert. Meine Vorstellungen vom Filmemachen habe ich entwickelt, indem ich Pasolini, Akerman, Varda, Fassbinder und Cassavetes zusah – und diese wohl auch als Anthropologen verstand. Ihre Filme basieren auf genauer Beobachtung und einem tiefen Verlangen herauszufinden, wie wir mit unseren Städten interagieren. Ich muss betonen, dass ich mich in keine Gemeinschaft eingliedere; ich bleibe nicht jahrelang, um mit den Menschen so vertraut zu werden wie ein Anthropologe oder Ethnograph. Mehr als die Begrüßung für einen Neuankömmling bekomme ich nicht hin. Mit dem Philosophenfreund von Véréna und Lucien teile ich die Ansicht, dass teilnehmende Beobachtung nicht mehr ist als eine Beschreibung der conditio humana. Ich habe mit dem Filmemachen begonnen, um einen genauen Blick auf die Dinge zu werfen, in meinem eigenen Tempo und zumeist, noch ehe die Sprache ins Spiel kommt, ich sehe den Augenblick des Verstehens oder Erkennens durch den Film.

Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor, somniloquies (2017), Digitalvideo, Farbe, Ton, 70 Min.

 

Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor, somniloquies (2017), Digitalvideo, Farbe, Ton, 70 Min.

 

HP: Eure aktuellen Projekte haben Euch alle an ferne Orte und auch in ferne Zeiten geführt. Wie habt ihr euch darauf vorbereitet? Welchen Realitäten und sozialen Zusammenhängen seid ihr dabei begegnet?

BR: Jetzt, am Ende von Good Luck (2017), merke ich, dass ich die letzten zehn Jahre großteils damit verbracht habe, Film als Mittel zu nutzen, mich mit Gemeinschaften zu beschäftigen, auf die ich mich sonst nicht eingelassen hätte. Im Fall von Good Luck bedeutete das monatelange Filmaufnahmen in einer staatlichen Kupfermine in Serbien sowie in einer illegalen Goldmine in Surinam.

Ich reise immer wieder nach Surinam, seit ich von 1998 bis 2000 zum ersten Mal als Entwicklungshelfer dort lebte. Die Kiiki-Negi-Mine hingegen habe ich erst im Jahr 2006 besucht. Die Großzügigkeit und Liebenswürdigkeit der dort arbeitenden Saramaccaner beeindrucken mich bis heute – ich war sehr überrascht von der Fülle an Menschlichkeit an einem so entsetzlich unmenschlichen Ort. Der Grundstein für den Film wurde vor einem Jahrzehnt dort gelegt; er entsprang dem schlichten Wunsch, Zeit mit den surinamischen Bergarbeitern zu verbringen. Daraus entwickelte sich die Architektur des Films, die mit der Verdopplung, Umkehrung und Relokation der Kiiki-Negi-Mine durch ein völlig anders geartetes kulturelles/politisches/ökonomisches/geografisches System arbeitet. Irgendwann war klar, dass dies die Mine im serbischen Bor sein würde.

Ben Russell, Good Luck (2017), Vierkanal-Digitalvideoinstallation übertragen von 16-mm-Film, Farbe und Schwarz-Weiß, Ton, ca. 90 Min.

Die ersten Dreharbeiten fanden in Bor statt, das ich im März 2016 besuchte. Ich erwartete eine Auseinandersetzung, die an Tiefe nicht mit Kiiki Negi zu vergleichen war: Ich hatte noch nie zuvor mit der Gemeinschaft der serbischen Bergarbeiter zu tun gehabt, war ihrer Sprache nicht mächtig und verdankte den Zugang zum Gelände der Minenverwaltung. Es existierte keine Verbindung zwischen mir und der Gemeinde – die Bergarbeiter kannten weder mich noch meine Familie noch meine Filme. Sie schwankten zwischen vorsichtiger Zurückhaltung, Neugier und Desinteresse. Da ich auf Übersetzungen durch meinen Tonmann und meine Fixer angewiesen war, gingen fast alle Interaktionen indirekt vonstatten. Die Autorität, die mir den Zugang zur Mine ermöglich hatte, schränkte zugleich die Aufgeschlossenheit der Arbeiter ein – wann immer ich in die Mine einfuhr, heftete sich ein Grubenaufseher an meine Fersen. So konnten die Bergmänner etwa weder die Verwaltung offen kritisieren noch die politische Situation kommentieren noch die Geschichte Jugoslawiens ansprechen – sieht man von Gesten und verdeckten Metaphern ab. Mit all dem hatte ich allerdings gerechnet und war daher mit minimalen Erwartungen zum Ablauf der Dreharbeiten angereist. Es war also ungewiss, wohin mich der Film führen würde, doch diese Ungewissheit erlaubte eine flexible Annäherung an mein(e) Studienobjekt(e): Männer, körperliche Arbeit, Finsternis, Angst, Träume.

Als ich einige Monate später, im Juli 2016, in Kiiki Negi zu filmen begann, waren die Zugangsbedingungen radikal anders. Ich hatte angenommen, dass mich meine achtzehn Jahre währende Beziehung zu Surinam bestens auf alles vorbereiten würde. Ich spreche fließend Saramaccaans, bin mit den kulturellen Normen vertraut und hatte zuvor bereits fünfmal im Land gedreht. Darüber hinaus bemühte ich mich, einen sicheren Zahlungsprozess zu installieren, um Zugang zu einem System zu erlangen, das auf Bestechungsgeld basiert. Doch als ich mit meiner Kameraausrüstung und einer dreiköpfigen Crew im Urwald ankam, hatte sich das soziale Gefüge verändert. Oder war meine Ankunft daran schuld? Zwar hatte ich lange im Voraus alles arrangiert, um die grundlegenden Probleme von Zugang, Macht und Ausbeutung irgendwie zu regeln, die das Drehen mit sich bringt. Doch die harte Realität zahlungskräftiger Außenseiter führte augenblicklich zum Verschieben von Allianzen, zum Auflösen von Vereinbarungen. Unbeschränkte Zugangsmöglichkeiten wurden beschränkt, Gewalt stand im Raum, und die Bereitwilligkeit, die ich erwartet hatte, versteckte sich hinter einem gemächlichen Tempo und passivem Engagement. Es war weniger eine Frage der Kultur, als ein Problem des Kapitalismus – Geld ruiniert alles!; meine lokalen Berater waren genauso perplex und frustriert wie ich. Rückblickend hätte ich wirklich damit rechnen müssen: Trotz meines kulturellen Stempels blieb ich der weiße Amerikaner, der einen Film in einer illegalen Goldmine dreht, die von Maroons – den Nachkommen geflohener Sklaven – betrieben wird.

Ben Russell, Good Luck (2017), Vierkanal-Digitalvideoinstallation übertragen von 16-mm-Film, Farbe und Schwarz-Weiß, Ton, ca. 90 Min.

RN: Die Entstehungsgeschichte von Electrical Gaza (2015) zog sich über fünf Jahre. Alles begann 2010, als ich vom Imperial War Museum in London beauftragt wurde, eine Arbeit über Gaza zu machen. Ich war damals schwanger und hatte nicht die Absicht, mit einem kleinen Baby nach Gaza zu fahren. Für November 2012 plante ich einen Besuch vor Ort, auc für ein paar Aufnahmen. Es war das Zeitfenster, in dem die Reise von Ägypten nach Gaza relativ unkompliziert war; die Regierung von Mohammed Mursi hatte die Grenze geöffnet. Das ägyptische Innenministerium stellte mir die Papiere für einen Grenzübertritt in Rafah aus, und ich besaß die Einladung einer NGO für eine Veranstaltung in Gaza. Doch dann startete Israel seine Operation Wolkensäule, ab dem 14. November 2012 wurde der Gazastreifen bombardiert. Nach Intervention des Imperial War Museums wurde die Reise abgesagt.

Im folgenden Frühjahr erzählte mir Ahmed, ein Londoner Freund aus Gaza, von der geplanten Heimreise mit seinem kleinen Sohn. Ahmet freute sich über meine Begleitung und Unterstützung auf der schwierigen Reise, seine Familie würde mich im Flüchtlingslager Dschabaliya beherbergen. Es war eine ideale Gelegenheit, die ich mir nicht entgehen lassen konnte. Ich suchte bei den ägyptischen Behörden um Genehmigung an. Doch als ich eintraf, war Ahmed bereits abgereist, und noch in diesem Sommer wurde Mursi durch einen Militärputsch abgesetzt. Die neue Regierung schloss den Grenzübergang in Rafah auf unbestimmte Zeit.

Damals fragte ich mich – wieder einmal –, ob es möglich wäre, einen Film über diese unüberwindliche Grenze, diese Gefängnisinsel, zu machen, ohne tatsächlich dort gewesen zu sein. Welches Recht hatte ich, die Grenze gleich zweimal zu überqueren, wenn 1,8 Millionen Menschen dort in der Falle saßen, deren Zugangsmöglichkeiten, Befugnisse und Kalorien allesamt katastrophal reduziert waren? Doch letztendlich hatte ich das Gefühl, dass ein Aufenthalt vor Ort unumgänglich war, dass ich ohne diese Geste der Solidarität mit den Bewohner_innen kein Recht hatte, den Namen Gaza auch nur zu erwähnen.

Rosalind Nashashibi, Electrical Gaza (2015), Digitalvideo übertragen von 16-mm-Film, Farbe, Ton, 18 Min.

Im Januar 2014 wurde ich einem niederländischen Fotojournalisten vorgestellt, der mehrmals in Gaza gewesen war. Bei einem Drink in Amsterdam schilderte er auf anschauliche Weise die Möglichkeit, nach Gaza zu gelangen, dort zu drehen und die Zone mit intaktem Filmmaterial wieder zu verlassen. Ich erhielt ausgezeichnete journalistische Referenzen, und wir beantragten bei der israelischen Regierung drei vom israelischen Militär geprüfte Presseausweise. Der Fotojournalist veranlasste seinen Kontaktmann Sarhan, die erforderlichen Genehmigungen von der Hamas und den Aufenthalt für meine Produktionsleiterin Kate Parker, meine Kamerafrau Emma Dalesman und mich zu organisieren. Sarhan versprach, uns in einem Raum unter der Wohnung seiner Familie in Gaza Stadt zu beherbergen, sofern wir ohne männliche Begleitung reisten. Nach einigen Drehtagen in Israel und im Westjordanland (um den Eindruck zu verstärken, wir seien echte Journalisten) betraten wir im Sommer 2014 den Gazastreifen.

Wie es das Schicksal wollte, kamen wir genau am 12. Juni 2014 an, dem Tag, an dem drei Teenager aus einer israelischen Siedlung im Westjordanland verschleppt wurden. In unserer zweiten Nacht begann Israel, das einstige militärische Übungsgelände zu bombardieren, und dies sollte sich Nacht für Nacht wiederholen. In den Stunden vor Anbruch der Dämmerung riss uns jedes Mal ein Mix aus furchtbarem Detonationslärm und ungewöhnlich langen Gebetsrufen aus dem Schlaf. Halbwach erschienen mir die Gebete wie eine Antwort auf die Explosionen, um die Ängste der Bewohner_innen zu besänftigen. Nach nicht einmal einer Woche drängte uns das britische Außenministerium, das Gebiet zu verlassen. Wir informierten unsere Gastgeber (die mittlerweile zu Freunden geworden waren) von unserer verfrühten Abreise. Das fühlte sich grässlich und ziemlich beschämend an. Die Menschen in unserer Umgebung wussten, dass etwas passieren würde, und unsere Abreise bestätigte ihre Ahnungen. Kurz darauf kam es zum Bombardement und zur Bodenoffensive, die 2.300 Menschen in Gaza sowie 73 Israeli das Leben kosteten.

Letztendlich hatte ich das Gefühl, nur eine Sache mit reinem Gewissen zeigen zu können: die Tatsache, dass ich in Gaza gewesen war, bei Sarhan und seinen Freunden – jedoch aus der Perspektive meines Körpers, mit meinen eigenen Augen und Ohren, durch die Reaktionen meines Nervensystems. Damit beschäftigte ich mich, vor allem in den Wochen nach dem Dreh: Wie ließ sich die vielschichtige Realität unter der Oberfläche beschreiben, die ich in der winzigen Zeitspanne hatte filmen können? Die Aufnahmen zeigten nur eine Ebene unserer intensiven Erfahrungen. Das ist vermutlich eine subjektive, von den Umständen geprägte Sichtweise. Vielleicht lässt sich mein Widerwille, die Lieder und Gespräche im Film ins Englische zu übersetzen, so erklären: Ich wollte der Erfahrung des Augenblicks im Film treu bleiben. Dazu bedurfte es vieler zusätzlicher Schichten, die diese Erfahrung befragen und offenkundig analysieren, die sie drehen und wenden und transformieren, in Schnitte und Animationen, Musik und Stille, in meinen eigenen Atem, der sich über die Bilder legt, etc.

Rosalind Nashashibi, Electrical Gaza (2015), Digitalvideo übertragen von 16-mm-Film, Farbe, Ton, 18 Min.

VP/LC-T: Ab 2013 arbeiteten wir in Japan an einem Auftragswerk zur Katastrophe in Fukushima. Daraus wurde schließlich Ah humanity! (2015). Als Ausländer, die nie zuvor in Japan gewesen waren, zweifelten wir anfangs an unserem Recht, die Fukushima-Tragödie darzustellen. Doch die japanischen Künstler und Intellektuellen, die wir trafen, sagten, sie hätten genug von ihren eigenen Darstellungen – zumeist eher heuchlerische Dokumentationen von Journalisten und Privatpersonen. Sie ermutigten uns zum Weitermachen und erklärten, die fremde Perspektive unwissender Ausländer interessiere sie besonders.

Im Zuge unserer Feldforschungen verbrachten wir viel Zeit damit, durchs Land zu reisen und japanische Filme anzusehen. Wir waren fasziniert vom Genre der Sexploitationfilme, Pinku eiga genannt. Obwohl fast alle bedeutenden Filmemacher Japans ihre ersten Erfahrungen in diesem Feld sammelten, steht es heute, im Zeitalter von Internet und Porno, kurz vor dem Aus. Ein Regisseur weckte dabei unser besonderes Interesse: Hisayasu Satō, einer der „Four Devils of Pink“, ein Enfant terrible und der vielleicht extremste aller Pinku eiga-Filmer. Er ist einer der wenigen verbliebenen Freunde von Issei Sagawa, der seine niederländische Studienkollegin an der Sorbonne tötete, Sex mit ihrer Leiche hatte und anschließend Teile ihres Körpers aß. Beim Versuch, die nicht essbaren Überreste im Bois de Boulogne zu entsorgen, wurde er schließlich gefasst. In Gesprächen mit Satō -san und anderen begannen wir über den Kannibalismus nachzudenken, über seine Entwicklung von einer ritualisierten, in Polynesien sowie Amerika, Australasien, Asien und Europa verbreiteten Praxis hin zu einer grundlegenden Metapher des Kolonialismus und beliebten Trope des Postkolonialismus. Zu einer Handlung, deren Erbärmlichkeit und Ungeheuerlichkeit unserem modernen Verständnis nach unübertroffen ist. Sagawa-san wurde für seine Tat nie offiziell vor ein Gericht gestellt, sondern nach Japan ausgeliefert und schließlich freigelassen. In der Folge verdiente er seinen Lebensunterhalt als Sushi-Restaurant-Kritiker, Autor, Medienfigur und Darsteller in Pinku eiga-Filmen, ab und an sogar in der Rolle eines Kannibalen. Sagawa-san lebte noch, versteckt in einem trostlosen Vorort von Tokio.

Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor, Commensal (2017), Video und Filminstallation: Digitalvideo und 16-mm-Film übertragen von 8-mm-Film; Video: Farbe, Ton, 27 Min., Film: Farbe und Schwarz-Weiß, Ton, 42 Min.

2014 bot Satō-san an, uns mit ihm bekannt zu machen, und kurz darauf beschlossen wir, gemeinsam einen Film zu drehen. Nicht nur das Thema war neu für uns – wir hatten zwar kurz die symbolische Bedeutung des Kannibalismus und seine Wesensverwandtschaft zur spirituellen und sexuellen Begierde reflektiert, jedoch nie ausführlich über die Phänomenologie kannibalistischer Handlungen selbst nachgedacht. Neu war auch die Arbeit in einem Land, dessen Kultur uns fremd war und dessen Sprache wir nicht mächtig waren. Als Anthropologen führen wir üblicherweise teilnehmende Beobachtungen über einen längeren Zeitraum hinweg durch, wodurch uns der jeweilige Kontext ziemlich vertraut wird. In Japan hingegen gründeten die meisten Dinge, die uns interessierten, auf unserem Anderssein; Einblicke oder Eindrücke, die sich nur Außenstehenden erschließen. Außerdem arbeiten wir hier erstmals mit dem Talking-Head-Format – sieht man davon ab, dass Sagawa-san fast nie spricht. Und als er es doch tat, verstanden wir nicht, was er sagte (Nao Nakazawa, unser Mitarbeiter und Tonmann, übersetzte es später für uns).

Auch unsere Herangehensweise an somniloquies (2017) war einigermaßen fremd für uns und unsere anthropologischen Neigungen. Es war das erste Mal, dass wir es mit der materiellen Realität eines Archivs zu tun hatten – Tonaufnahmen aus dem New York der 1960er Jahre von einem Mann, der scheinbar laut träumt. Die Aufnahmen waren so geschmacklos und surreal, dass es oft einfach nicht zu fassen war. Wir beschlossen, für das Projekt Menschen um ihren Schlaf zu bitten, sie schlafend und nackt zu filmen. Jede Nacht, jeder Dreh war wie eine Reise in ein unbekanntes Land. Wir wussten nicht, was uns erwartete, doch unsere Beziehung zu den Schlafenden war intim und voyeuristisch zugleich. Irgendwie war da eine Form von Gewalt, von Verletzlichkeit, die ganz anders war als alles, was wir in unseren früheren Arbeiten erlebt hatten, und die sich von den zwischenmenschlichen Aushandlungsprozessen der herkömmlichen Ethnografie unterschied.

HP: Mich fasziniert die Idee der Gewalt beim Filmen der Schlafenden, der Prozess des Aushandelns in der herkömmlichen Ethnografie. Was war daran gewalttätig? In welchem Zusammenhang steht dies mit der umfassenden Frage, inwieweit der Akt der Repräsentation mit Gewalt verbunden ist? Wie gehen Sie mit der Vorstellung um, dass Repräsentationsprozesse ohne den Aspekt der Ausbeutung oder Gewalt nicht vorstellbar sind?

VP/LC-T: Viele Menschen wollen nicht beobachtet werden, wenn sie schlafen. Ohne Kontrolle über sich selbst fühlen sie sich wehrlos, ungeschützt. Wer einwilligte, für uns zu schlafen, vertraute uns in gewisser Weise. Das machte uns irgendwie demütig und stellte uns vor die Herausforderung, diese Menschen so zu porträtieren, dass ihr Vertrauen nicht enttäuscht wurde. Gleichzeitig war es zutiefst beunruhigend, schlafende Nackte – die wir oft gar nicht kannten – aus einer Distanz von wenigen Zentimetern zu filmen. Es kam vor, dass Schweißperlen von unseren Körpern auf die ihren tropften. Nicht selten waren wir von der geballten Menschlichkeit, vom Sein und Anderssein unserer Schlafenden geradezu überwältigt.

Mit der Gewalt, die dem Repräsentationsprozess anhaftet, haben wir weniger Probleme. Gewalt ist untrennbar mit den Bedingungen des Menschseins verbunden und findet sich in allen intersubjektiven Beziehungen. Wie übrigens auch viele andere Zustände und Gefühle, Begehren etwa oder Liebe. Die Idee, der Repräsentationsakt als solches sei – anders als die bloße Darstellung – auf einzigartige, moralisch nicht vertretbare Weise gewalttätig oder ausbeuterisch, kommt uns dumm vor. Viele Moralanthropologen und -philosophen, die sich zur Ethik von künstlerischen und dokumentarischen Prozessen äußern, sind von einem selbstgefälligen Moralismus durchdrungen, wie auch die Verfechter von Triggerwarnungen und „Safe Spaces“ an Universitäten. Dieser Moralismus scheint engstirnig und ohne Bezug zum realen Leben abseits des Elfenbeinturms; er ist Ausdruck einer uneingestandenen Befangenheit angesichts der Konturen menschlicher Unterschiedlichkeit.

BR: Filme zu machen ist zwangsläufig mit Ausbeutung verbunden und im Repräsentationsprozess spielt Macht stets eine Rolle, doch es gibt viele Möglichkeiten sicherzustellen, dass das Ganze nicht in Gewalt resultiert. Mein Zugang zum Akt der Repräsentation orientiert sich an S/M – als Machtverhältnis mit veränderlichen Positionen, mit Akteuren, die Subjekt und Objekt zugleich sind.

HP: Im Sinne einer leicht abgewandelten Verwendung des Repräsentationsbegriffs – wie geht ihr mit den Herausforderungen von Repräsentation und Form angesichts weniger leicht fassbarer Aspekte der Wirklichkeit um? Ihr alle arbeitet mit dokumentarischen Methoden und Formen – wie nähert ihr euch dabei der Wirklichkeit des Subjektiven, Emotionalen und Mentalen, der „Wahrheit“ individueller und kollektiver Vorstellungen, Träume, Begierden, Glaubenshaltungen, Erinnerungen?

VP/LC-T: Es mag für Anthropologen wie uns seltsam klingen, aber diese Fragen beschäftigen uns kaum noch. Wir können uns gar nicht erinnern, wann wir das letzte Mal explizit über das Problem der Repräsentation nachgedacht oder den Gegensatz zwischen sichtbar und unsichtbar, materiell und immateriell diskutiert haben – sofern das überhaupt jemals der Fall war. Man ist nun einmal häufig das Gefäß oder die Membran des anderen, nicht wahr? Emotionale und psychische Zustände, soziokulturelle Verhältnisse manifestieren sich in einer Vielzahl an visuellen und klanglichen Formen. Was drückt den Aspekt der Innerlichkeit und Subjektivität besser aus als ein menschliches Gesicht? Viele unserer Projekte mögen von den humanistischen, anthropozentrischen Dimensionen des Dokumentarfilms und der Anthropologie beeinflusst sein. Doch unsere aktuelle Arbeit misst dem gesprochenen Wort ebenso viel Bedeutung bei wie der Geste oder dem Körperlichen. In Commensal (2017), unserem Projekt mit Sagawa-san, widmen wir dem augenscheinlich Unsagbaren genauso viel Aufmerksamkeit wie dem tatsächlich Gesagten. All das spielt sich an den äußersten Grenzen der Sprache ab. Doch das Wechselspiel zwischen dem, was (ethisch und sprachlich) artikuliert oder nicht artikuliert werden kann, bleibt im Zentrum der Arbeit. Die Träume, die wir in somniloquies hören, werden laut erzählt, was ihnen eine eigentümliche Anmutung verleiht: Wer von uns träumt schon laut? Somit werden Fragen der Performativität und Authentizität aufgeworfen. Doch selbst während man beim Zuhören darüber nachsinnt, geht nichts von der enormen psychischen, soziokulturellen und politischen Sogwirkung dieser Träume verloren. Sie erzählen uns ebenso viel über das New York der 1960er Jahre und unsere eigenen unbewussten Grübeleien wie über die nächtlichen Sorgen und Gedanken eines exzentrischen Individuums, eines genialen unbewussten Künstlers.

BR: Für den Anfang ist es hilfreich, nicht unverrückbar an die Realität des Objektiven zu glauben – zumindest in Bezug auf Repräsentationsprozesse. Letztendlich ist das Filmbild zu stark vermittelt – jede Bildauswahl ist gleichzeitig eine Nichtauswahl, jede Aufnahme eine Nichtaufnahme –, als dass man ihm trauen könnte. Fehlrepräsentationen als eine Gegebenheit des Repräsentationsaktes zuzulassen bedeutet, sich für Fehlrepräsentationen unterschiedlichster subjektiver Wirklichkeiten zu öffnen. In meiner Arbeit habe ich mich bislang hauptsächlich mit Themen/Personen/Räumen auseinandergesetzt, die von mir verschieden sind, und aus diesem Grund fühle ich mich nur selten bereit bzw. berechtigt, Bedeutungen oder innere Prozesse zu kommentieren. Stattdessen beschäftige ich mich beim Filmen mit Fragen der Projektion. Wie kann ich das Publikum zum Subjekt machen? Wie kann ich einen immersiven Zeit-Raum gestalten, in dem das Publikum aktiv wird, in dem es auf sich selbst zurückgeworfen ist? Traumzustände, Drogenrausch, Trancen, der utopische Antrieb – all das sind innere Zustände, einzigartige Erfahrungen, die nur höchst unpräzise beschrieben oder dargestellt werden können. Sie stellen subjektive Wahrheiten dar, und als solche sind sie am bedeutungsvollsten, wenn sie mit anderen geteilt werden. In meiner Arbeit geht es stets um ein Kino, das das Publikum in Anspruch nehmen kann, parallel zum (offensichtlichen) Geschehen auf der Leinwand – um einen physischen Raum mit offenen, ungewissen Bedeutungen, in dem Zeit zum Resonanzraum wird, in dem die Präsenz des Körpers gefordert ist.

HP: Wie erschafft ihr Bilder und in welcher Beziehung steht ihr zu ihnen? Könnt ihr uns etwas über euer Verhältnis zur Kamera, zu eurer Präsenz bei den Dreharbeiten und in der damit verbundenen Situation erzählen? Ist Kameraführung für euch eine spezielle Epistemologie, die eine besondere Form von Wissen hervorbringt?

BR: Ich verbinde den Prozess des Erschaffens nicht zwangsläufig mit dem Prozess des In-Beziehung-Tretens: Beide Vorgänge sind so fundamental verschieden, dass ich – um das aufgenommene Bild in seinem Ergebnis sehen zu können – dazwischen eine Pause einschieben muss. Je länger ich mich beim Filmen an einem Ort aufhalte, umso deutlicher spricht er zu mir und umso länger müssen meine Bilder ruhen, ehe ich mit ihnen arbeiten kann. Neue Bilder benötigen Zeit, um zu atmen und zu leben, um meine wie auch immer gearteten Erwartungen an sie abschütteln zu können.

Beim Arbeiten im 16-mm-Format gibt es eine Art automatische Verzögerung – fast immer liegt zwischen der Aufnahme und dem Zeitpunkt, an dem ich das fertig entwickelte Bild zu Gesicht bekomme, mindestens eine Woche. Nach einer ersten Durchsicht dehne ich diese Pause in der Regel noch weiter aus. Mit einer Filmkamera zu arbeiten bedeutet außerdem, dass ich nolens volens stärker auffalle, sichtbarer bin – meine Art der Bilderproduktion nimmt mehr Zeit in Anspruch. In diesem Fall ist Sichtbarkeit gleich Präsenz, und ich hoffe, dass meine physische Präsenz als Filmemacher meinen Akteuren die Möglichkeit gibt, das Ausmaß ihrer Mitwirkung zu bestimmen, und mich gleichzeitig dazu zwingt, meine Arbeit mit ihnen auszuhandeln/zu erklären/zu diskutieren. Das Aushandeln gehört ebenso zum Filmemachen wie das Filmen selbst – ohne Erlaubnis zu filmen kontaminiert das Bild zwangsläufig.

Meine Vorstellungen in Bezug auf die Kamera sind weder übertrieben romantisch, noch konzeptueller Natur – ich sehe sie einfach als technische Form, die ihren Sinn dem Inhalt verdankt, als Werkzeug, dessen Funktion nicht selten von Einzelbild zu Einzelbild variiert. Eine Handkamera bietet eine andere Perspektive als eine Steadicam, eine Kamera mit Stativ eröffnet wieder eine andere Sehweise. Meine Filme sollen nicht die Welt widerspiegeln, sondern eine Parallelwelt erschaffen – eine Welt, die ihren Schöpfer, ihr Publikum und ihr Material ebenso reflektiert wie ihr neu gewonnenes zweidimensionales Motiv.

Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor, Commensal (2017), Video und Filminstallation: Digitalvideo und 16-mm-Film übertragen von 8-mm-Film; Video: Farbe, Ton, 27 Min., Film: Farbe und Schwarz-Weiß, Ton, 42 Min.

RN: Meine erste Reise nach Panajachel, an den Schauplatz von Vivian’s Garden (2017), diente dazu, Zeit mit Elisabeth Wild und Vivian Suter zu verbringen. Die beiden sind nicht nur Künstlerinnen (und als solche bei der documenta 14 vertreten), sondern auch Mutter und Tochter. Da ich ihnen und diesem Ort meine volle Aufmerksamkeit schenken wollte, verzichtete ich eine Woche lang auf die Kamera und auf das Filmen. Ich war in einem kleinen Schlafraum mit angeschlossenem Badezimmer untergebracht, tief im Dschungelgarten der beiden und einige Gehminuten vom Haus entfernt. So verbrachte ich viel Zeit mitten in der Natur mit ihren Lebewesen. Bei meinem zweiten Besuch machte ich, ausgehend von meinen Erinnerungen an die letzte Reise, ein paar Filmaufnahmen. Ich stellte die beiden einem Tonmann vor, drehte die Aufnahmen jedoch selbst. Für die beiden machte es einen Unterschied, dass ich jemand war, den sie kannten und der zu ihnen zurückgekommen war, und für mich war es wichtig, an einem vertrauten Ort mit schönen Erinnerungen zu sein. Der Tonmann begleitete mich auch bei meinem dritten Besuch, gemeinsam mit einem Kameramann. Dieses schrittweise Vorgehen gewöhnte die beiden an mein Eindringen und erlaubte es mir, klare Vorstellungen zu entwickeln, noch ehe ich ein Team zu leiten hatte – meine Fähigkeit, situationsabhängige Entscheidungen zu treffen, gerät leicht ins Wanken, wenn ich zu früh mit anderen arbeiten muss. Letztendlich beruhte das starke und vertrauensvolle Einverständnis, das sich zwischen Elisabeth beziehungsweise Vivian und mir entwickelte, zum Teil darauf, dass ich die beiden allein besucht hatte.

Mein Problem, Erfahrungen aus der realen Welt im Film zu vermitteln, besteht darin, dass das Ganze wahrscheinlich nicht funktioniert, wenn es meinen Erinnerungen entspricht. Ich muss ein Äquivalent schaffen, und dazu muss ich das vorliegende Material nach etwas durchsuchen, das nicht unmittelbar ins Auge springt. Schicht für Schicht lege ich meine (filmischen und realen) Erfahrungen übereinander, im letzten Schnitt – mal verloren und voller Unbehagen, mal selbstsicher und wissend. Die unvermuteten Teile des Filmmaterials, die auf den ersten Blick peinlich wirken (unscharfe Bilder, Aufnahmen unmittelbar vor und nach dem Aufbau, das langsame Wegsinken der Kamera auf der Suche nach einem verlorenen Motiv), helfen das Einverständnis aufzubrechen, das den Betrachter in einen permanenten, affirmativen Dialog mit dem Filmemacher verwickelt. Die Nahaufnahme eines Augenpaares mit anschließendem Schwenk auf den Horizont, der Kamerablick in einen Raum, nachdem die Protagonisten ihn verlassen haben – filmische Konventionen dieser Art sind oft naheliegend und wirken klischeehaft.

VP/LC-T: Wir müssen gestehen, dass wir uns nicht viele Gedanken machen – weder über Inhalt und Antrieb unseres Tuns, noch über den Film oder die Kunst im Allgemeinen. Die außerordentliche Gewissheit von Theoretikern und ihr Streben nach hermeneutischer Autorität sind uns ziemlich fremd. Außerdem trauen wir uns selbst nicht recht, wenn es darum geht, über diese Dinge ehrlich und präzise nachzudenken. Wie Keats 1817 in einem Brief an seine Brüder schreibt, machen wir uns selbst etwas vor, wenn wir leugnen, in einem Zustand permanenter Verwirrung zu leben und im „Ungewissen, [in] Mysterien, [in] Zweifeln“ aller Art zu schwelgen. Keats vergleicht Shakespeare mit Coleridge und preist Ersteren dafür, „ohne alles aufgeregte Greifen nach Fakten und Verstandesgründen“ auszukommen. Letzteren hingegen verspottet er für seine Verehrung des Deutschen Idealismus und sein Streben nach mehr (oder weniger) als nur „Halbwissen“.

Was uns beide betrifft – wir haben das Gefühl, in den unentrinnbaren Tiefen des Mysteriums zu leben: in einem Zustand erkenntnistheoretischer und nicht selten auch ästhetischer Dunkelheit. Wir glauben jedenfalls nicht, dass unsere oder irgendeine andere Kamera – wir arbeiten üblicherweise mit nur einer Kamera, auch wenn wir bei Commensal zwei und bei Leviathan vielleicht ein Dutzend im Einsatz hatten – ein singuläres Wissen hervorbringt. Außerdem stehen wir allen künstlerischen Erkenntnisansprüchen, egal in welcher Form, eher argwöhnisch gegenüber. Unsere Beziehung zu unseren Kameras und den von ihnen produzierten Bildern erscheint wandelbar und plastisch. Sie geht weit über unsere Kontrolle, ja, unser Bewusstsein hinaus.

Bei Commensal – wir filmten beide gleichzeitig, jeder mit seiner eigenen Kamera, in einem winzigen Innenraum – war unsere Kontrolle vermutlich größer als jemals zuvor in unserer Arbeit. Doch auch hier war es für uns unmöglich, in jedem Augenblick klar zu unterscheiden, was gerade vor der Kamera und in ihrem Umfeld passierte und was wir jeweils durch unseren Sucher beobachteten. Wir kommunizierten in unserer gewohnten Art, sowohl nonverbal als auch in unserem speziellen Idiolekt, um einen Dialog, zuweilen auch einen Tanz, zwischen den beiden Kameras zu erzeugen. Nicht immer mit Erfolg. somniloquies drehten wir, indem immer einer von uns mit der Kamera filmte, während der andere das Licht hielt. Die Kommunikation verlief in diesem Fall eher lautlos – wir versuchten, so wenig wie möglich zu sprechen, um unsere Darsteller nicht aufzuwecken. Nur selten flüsterten wir einander etwas ins Ohr. Beim Drehen reichten wir die Ausrüstung häufig hin und her, während wir den schlafenden Körper umkreisten. Schätzungsweise verbrachten wir etwa die Hälfte der Zeit damit, dass einer von uns durch den Sucher blickte. Nicht immer jedoch erfolgt dieser Verzicht auf unsere künstlerische und schöpferische Autorität bewusst (manchmal jedoch durchaus, etwa in Leviathan, wo wir uns die Kameraführung mit den Fischern teilten). Ganz im Gegenteil – er zeugt von einer Auseinandersetzung mit dem Motiv, die nicht auf Visuelles reduziert werden kann. Er reflektiert eine Begegnung und inszeniert eine Beziehung, die wir mit unserem ganzen Wesen wahrnehmen, nicht bloß mit unseren Augen.

Was wir damit sagen wollen: Wir glauben, dass unser Zugang zum Filmemachen nicht nur weitgehend undiszipliniert ist – wobei wir manchmal die Kontrolle ganz bewusst aufgeben –, sondern auch vielgestaltig. Zwar gibt es offensichtlich unterschwellige Gemeinsamkeiten zwischen unseren Arbeiten, doch wir haben auch Angst, uns zu wiederholen, einem Motiv den Stempel unserer Autorenschaft aufzudrücken. Und wir versuchen nicht nur, für jedes neue Projekt einen Stil zu entwickeln, der ganz wesentlich dem Motiv selbst sowie unseren eigenen Verstrickungen darin entspringt. Jedes Werk weist auch vielfältige Perspektiven und Formen auf, die nie lückenlos zu einem singulären oder unverkennbaren Stil zusammenfließen – dies betrifft unsere eigene Beziehung ebenso wie die Beziehung zwischen uns und unseren menschlichen und nicht-menschlichen Motiven, das Verhältnis derselben untereinander sowie die größere ökologische und kosmologische Matrix, in die sie eingebettet sind.

Unser Zugang zu Bildern und zur Welt allgemein mag ungewöhnlich erscheinen, doch das trifft vermutlich auch auf Rosalind und Ben zu – ja, auf das Filmemachen überhaupt.

HP: Viel von dem, was über außersprachliche Aspekte, über Traumzustände gesagt wurde, greift Tropen der Surrealisten auf, die der Ethnografie stets eng verbunden waren und die normative Vorstellungen von Rationalität, Realität und alltäglicher Wahrnehmung fundamental in Frage stellten. Steht euer Werk zum Beispiel in der Tradition des ethnografischen Surrealismus oder in jener des ciné-trance von Jean Rouch? Wo zieht ihr in eurer Arbeit die Grenzen des „Verstehens“?

Rosalind Nashashibi, Vivian’s Garden (2017), Digitalvideo übertragen von 16-mm-Film, Farbe, Ton, 30 Min.

RN: Ich denke beim Filmemachen nicht an Surrealismus und ciné-trance. Ich kann von einem Film nicht sagen, er sei surreal; es ist ein Teil davon.

Vivian hat mir erzählt, dass – wenn sie sich unwohl fühlt und tagsüber hinlegen möchte – frische Bananenblätter aufs Dach gebracht und zur Abdunkelung des Raums auf die Dachfenstergelegt werden. Ich habe davon erfahren, weil ich mein Zimmer verdunkeln wollte, um Filmspulen einzulegen. Einer ihrer „Beschützer“, Don Tomás, kletterte hinauf und deckte mein Dachfenster mit riesigen, frisch geschnittenen Bananenblättern ab. Diese Begebenheit spielt in meiner Beschreibung der Lebensbedingungen vor Ort eine zentrale Rolle. Im Film gibt es eine Szene, in der Vivian im strahlenden Sonnenschein auf dem Bett liegt, während Don Tomás vorsichtig Blätter auf das Glasdreieck legt, bis der Schlafraum in sanftes grünes Licht getaucht ist. Bei beiden Drehterminen befasste ich mich wieder und wieder mit dieser Sequenz, um die Fürsorge und Aufmerksamkeit zu porträtieren, die Vivian, Don Tomás, Juan (den jüngeren „Beschützer“) und Elisabeth umgeben. Ein Bemuttern ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht, das dem körperlichen Wohlbefinden ebenso großen Wert beimisst wie der künstlerischen Arbeit. Es setzt eine gewisse Begabung voraus, in der Gegenwart zu leben; zu akzeptieren, dass Fürsorge, die vorübergehende Aufgabe des Autonomiegedankens, befreiend wirken kann; wie die Erfahrung, geliebt zu werden, auch wenn diese Liebe nicht einem bestimmten Individuum gilt.

Das selbst gewählte Exil von Vivian und Elisabeth steht für Zuflucht und Heilung, aber – zum Teil – auch für Terror. Die Bilder in meinem Film sollen die Erfahrung einer Körper und Emotion gewordenen Zeit ermöglichen, so wie ich es mit den Bananenblättern erlebt habe. Eine filmische Erfahrung von Zeit und Nähe als Anstoß zur Aufgabe von Autonomie; etwas, das auch möglich wird, wenn wir uns von einer Ersatzmutter umsorgen lassen.

BR: Ich habe die Begeisterung der Surrealisten für Fotografie und Film als potenzielle Medien und Vehikel für Träume stets geteilt. Laterna magica, Geisterfotografie, die Möglichkeit, Unsichtbares sichtbar zu machen – das ist nach wie vor das primäre Bestreben des Kinos und auch eines meiner ersten Ziele. Meine ersten Filme waren naive Versuche, manche dieser Strategien nachzuahmen. Ich habe sogar den ersten 8-mm-Film, den ich in Surinam gedreht habe (Daumë, 2000), als eine Art „surrealistischen Dschungeltext“ beschrieben. Damals wie heute suche ich nach Wegen, der Repräsentationsfalle zu entkommen, am lustvollen Prozess der Transformation festzuhalten, das Majestätische des radikal Subjektiven mit der fallweisen Notwendigkeit einer objektiven Perspektive zu vereinen – ein Zugang, der in bestimmten strukturalistischen Filmen der nordamerikanischen Avantgarde großen Widerhall fand, bei Maya Deren und Jean Rouch etwa oder in Robert Gardners Arbeiten zu Trance und Ethnografie, in Catherine Russells Definition der surrealistischen Ethnografie ebenso wie in all den schweißtreibenden Noise-Music-Darbietungen, an denen ich in den letzten zwanzig Jahren teilgenommen habe. All dies hat mich veranlasst, die psychedelische Ethnografie als eine Arbeitsmethode zu definieren – und vielleicht auch als meine eigene unbedeutende kunsthistorische Tradition? –, die sich aus den gegensätzlichen Polen des Psychedelischen und der Amateurethnografie gleichermaßen speist. Am Ende steht ein Diskurs, der das Verstehen (durch Kinozeit, Nähe, Empathie) einem summarischen Wissensregime vorzieht.

VP/LC-T: Traum und „Wirklichkeit“ (gibt es, im Sinne der Phänomenologie, etwas weniger Unwirkliches als den Traumzustand?), Heiliges und Profanes, Subjektives und Objektives, Halluzination, Illusion, Phantasma und Realität, Faktizität, Wahrheit – all dies vermengt sich unweigerlich in unserer Arbeit, in unseren Körpern. Die Grenzen des Verstehens sind sicherlich größer und zugleich weniger an der Zahl, als gemeinhin angenommen wird. Das englische Wort für „verstehen“ – to understand – bedeutet etymologisch so viel wie „treten unter“ und „wagen“, „auf sich nehmen“. Auf eine Schwelle treten, sich in eine Schwelle hineinwagen, die Schwelle zu den Tiefen des Mysteriums durchdringen oder durchbrechen. Der Akt des Repräsentierens oder Filmens bedeutet zweifellos, ethische und politische Verantwortung auf sich zu nehmen, mit Konsequenzen, denen man nicht entrinnen kann. Doch als Wächter zu den Tiefen des Mysteriums fungieren zu wollen, erweist sich als vergeblich.

HP: Versteht ihr den Körper als Medium?

RN: Mein Körper ist die erste Schwelle für Erfahrungen, die in den Film einfließen und die manchmal – wie zuvor beschrieben – buchstäblich körperlich sind. Die Kamera mag wie eine Schwelle zu anderen Erfahrungen erscheinen, die durch diese Technik stärker vermittelt werden. Diese seltsamen Dinge, die im Film passieren und die man später entdeckt, wenn er aus dem Labor zurückkommt. Wir alle stehen letztendlich vor einer Masse an Bildern und Tonaufnahmen mit eigenen störrischen Eigenschaften. Sie haben sich von ihrem Ursprung gelöst und wir haben die Aufgabe, daraus einen neuen Körper zu schaffen, der – auf einer gewissen Ebene – beschreibt, wie unsere Begierde auszusehen hat. Das Ernüchternde daran ist vermutlich, dass der Übergang von den realen gefilmten Personen, Orten und Dingen zu dieser Masse an Bildern und Tönen in mir das Gefühl wachruft, Erstere zurückzulassen – so wie die Begierde ein Objekt preisgibt, um sich auf ein anderes zu stürzen.

VP/LC-T: Kunst und Film sind, wie jedes menschliche Unterfangen, notwendigerweise anthropomorph. Und wenn uns etwas als anthropos definiert, dann unsere Verkörperung. Auch eine „körperlose“ Kamera ist verkörpert, genauso wie die Écriture automatique oder die unbewusste Traumlandschaft eines Mannes wie Dion McGregor in somniloquies – in den Instanzen, die sie entwickelt und produziert haben, die ihre Zeit und ihren Ort bestimmen, die bei der Wahrnehmung ihrer Bilder ins Spiel kommen. Unser Körper ist unser vollkommenstes Medium, achtsam und geistlos zugleich, uns selbst und andere zwangsläufig und willkürlich verzehrend, und unsere Technologien sind seine prothetischen Erweiterungen. Wir sind mimetische Wesen, von der Wiege bis zur Bahre. Und Macht und Begierde sind – wie auch die Begierde der Macht und die Macht der Begierde – untrennbar mit unserer Begabung zum Mimetischen verbunden. Derrida irrte, als er dachte, es gäbe kein hors-texte – das ist genau jene Domäne der negative capability, den die Kunst ins Spiel bringt –, doch ein hors-corps existiert nicht.

BR: Der Körper ist, wie auch der Film, ein Medium. Die Kunst besteht darin, eine Rückkopplungsschleife zu erzeugen, in der beide Kräfte direkt miteinander kommunizieren. Um einen Trancefilm zu schaffen, muss sich der Darsteller durch das Medium Film vermitteln – zuerst kommt das Selbst, dann folgt der Film. Um rezipiert zu werden, muss sich der Trancefilm durch die Zuseher vermitteln – zuerst kommt der Film, dann folgt das Zuseher-Selbst. Film folgt Selbst folgt Film: Die Schleife ist perfekt.

 

Aus dem Englischen übersetzt von Elfi Cagala

Rosalind Nashashibi, Vivian’s Garden (2017), Digitalvideo übertragen von 16-mm-Film, Farbe, Ton, 30 Min.