Die liebende Lesart
Der Abstand zwischen V und W
Objekte in der Diaspora
Ich beginne mit –
unserem winzigen Haus im Kibbuz. Einer schmalen Holztür, die das Klo von der Küche trennte, und einem kleinen Glasfenster darüber.
Als dieses Fenster eines Tages zerbrochen war, hob mein Vater meine älteste Schwester hoch und ließ sie ihren Kopf durch den leeren Rahmen stecken – um meine Mutter auszuspähen, die dort unten saß. Meine Mutter rief ihm immer wieder zu, er solle damit aufhören, aber er hatte solchen Spaß daran, dass er den Kopf meiner Schwester weiter durch den leeren Fensterrahmen hielt. Plötzlich stürmte meine Mutter heraus mit einem Zorn, unermesslich groß in seiner Ferne. Sie tobte und schrie meinen Vater an. Sie warf einen ganzen Stapel Teller einzeln auf den Boden. Die Teller zerbrachen mit ohrenbetäubendem Lärm. Der Boden war übersät mit Scherben. Meine Schwester und ich hatten solche Angst, dass wir laut losheulten.
Eine unüberbrückbare Kluft zwischen den Temperamenten meines Vaters und meiner Mutter hatte sich aufgetan.
Ein Schnitt.
Eine Geste im Raum.
Eine Familie.
Ein Schauspiel.
Ein Boden.
Als Kind fürchtete ich den rasenden Zorn meiner Mutter und die darin enthaltene Botschaft. Später beschäftigte mich die Frage nach dem Wesen solchen Zorns. Dieser Zorn zog sich als Riss durch die Generationen. Der Zorn meiner Mutter war nicht ihrer allein. Er war ein Zorn ihres Geschlechts, ein Zorn ihrer Ethnie und manchmal auch ein Zorn der Liebe.
Verschlossene Erinnerungen, die anfangen, weh zu tun. Ein Körper mit der Bestimmung, für andere zu sprechen und zu weinen. Sein Weinen, seine Erinnerungen, Wunden und Geschichten anderen Körpern weiterzugeben.
Seit einiger Zeit beschäftigt mich das Verhältnis von Nähe und Ferne. Immer wieder muss ich über die unermessliche Ferne nachdenken, die sich hinter scheinbarer Nähe verbirgt, und über die Wirkung dieser verborgenen Ferne. Ein Beispiel dafür ist die Entfernung zwischen Ramallah und Jerusalem. Auf der Landkarte ist die eine Stadt von der anderen aus in zwanzig Autominuten zu erreichen. In Wirklichkeit ist die Entfernung unter Umständen sehr viel größer. Aus Sicht palästinensischer Bürger_innen kommen die vielen Straßensperren und Kontrollen hinzu, die man über sich ergehen lassen, und die Genehmigungen, die man einholen muss, außerdem noch andere, irgendwie zu überwindende Hindernisse. Das alles sind keine räumlichen Entfernungen, denn sie lassen sich nicht in Kilometern messen, sondern nur in Energie und in Gefühlen wie Stress, Angst und Erniedrigung, außerdem in Substanzen wie Zeit, Schweiß und Tränen.
Israel hat Verhältnisse geschaffen, unter denen sich sogar nahe gelegene Reiseziele weit weg anfühlen. Reisen wird als Eingesperrtsein erlebt. Bewegungshinderung ist eine Herrschaftstechnik mit dem Zweck, Palästinenser an jeder normalen Art des Fortkommens zu hindern, sie zu erschöpfen und zu zermürben. Bewegung impliziert einen Hingang zur Normalität, auch zur Gesundung. Wenn die äußere Mobilität eingeschränkt wird, kommt es stattdessen zu einer negativen Bewegung im Inneren. Umgekehrt besteht eine häufig angewandte politische oder militärische Strategie darin, Menschen zur Überwindung großer Entfernungen unter schwierigsten Bedingungen zu zwingen. Todesmärsche sind ein Beispiel dafür. Bei solchen Märschen wird die unendlich weite Entfernung selbst zum Ziel, weil sie zu Fuß, mit den Mitteln des menschlichen Körpers allein, nicht zurückgelegt werden kann.
Israel hat im Westjordanland zweierlei Straßen angelegt. Die einen sind – nach Art der Apartheid –ausschließlich israelischen Bürger_innen vorbehalten, denen ein hervorragend ausgebautes Netz von Schnellverbindungen zur Verfügung steht. Diese Straßen führen auf geradem Weg und erhöhten Fahrbahndämmen oder Brücken von A nach B. Darunter, auf dem Boden, verläuft ein ausuferndes Geflecht staubiger, unbefestigter Straßen, die für Palästinenser da sind und auf denen man niemals direkt von A nach B gelangt. Sichtbarkeit und Nutzungsrecht sind hier offensichtlich und bewusst Ausdruck von Macht und Ohnmacht. Das herrschaftliche Straßennetz ist schon von weitem erkennbar und schwebt über dem Land. Es streckt seine Kontrolle über die anderen, überschatteten Wege aus.
In Paris habe ich einen Lesekreis geleitet. Eine Teilnehmerin dieses Kreises, Farida Gillot, musste bei meiner Beschreibung der beiden Straßensysteme im Westjordanland – das eine sauber und oben an der Luft, das andere tief darunter, verwinkelt und schmutzig – an Édouard Glissants Schilderung jenes Abgrunds denken, der sich unter den versklavten Afrikanern auf ihrer Überfahrt nach Amerika auftat. Unterwegs zu einem fernen Ort fuhren sie im Rumpf der Sklavenschiffe über den wässrigen Abgrund des endlosen, unergründlich tiefen Ozeans.
Glissant beschreibt eine Reise, die wie ein Versinken in der Tiefe und nicht als Überwindung einer weiten Strecke wahrgenommen wird. Allein die Form der Sklavenschiffe mit ihre enormen „Bäuchen“ – riesenhafte, für die darin gefangenen Afrikaner zutiefst befremdliche Gefäße. „Erst kam der Moment, an dem man in den Bauch des Schiffes fiel“, schreibt Glissant. „Doch der Bauch dieses Schiffes löst einen auf, stürzt einen in eine Nichtwelt, aus der man herausruft. Dieses Schiff ist ein Mutterschoß, ein gebärmütterlicher Abgrund … Dieses Schiff geht schwanger mit ebenso vielen Toten wie zum Tod verurteilten Lebenden.“
Ein weiterer Abgrund ist die endlose Tiefe des Meeres, die Sklaven erfahren mussten, wenn sie mit Kugeln und Ketten beschwert ins Wasser geworfen wurden, um notfalls den Ballast der Schiffe zu verringern.
Glissant verleiht diesem Abgrund verschiedene Farben und Formen:
„dunkler Schatten“
„das wirbelnde Rot des Hochkletterns an Deck
„die schwarze Sonne am Horizont, Schwindel“
„die grüne Pracht des Meeres“
„ein fahles Gemurmel“
„der violette Bauch der Meerestiefen“
„blaue Savannen der Erinnerung oder Fantasie“
„der weiße Wind des Abgrunds“
Im Dokumentarfilm Fuocoammare (Seefeuer, 2016) von Gianfranco Rosi zeigt die Hauptfigur, der Arzt Pietro Bartolo, auf einen Bildschirm. Man sieht darauf ein rostiges Schiff voller Menschen, die (wie wir inzwischen gelernt haben) Flüchtlinge sein müssen.1 Bartolo erzählt:
Es waren 840 auf diesem Boot. Manche reisten erste Klasse. Sie waren draußen an der Luft. Sie zahlten 1500 Dollar. Darunter, hier im Zwischendeck, saßen die Passagiere der zweiten Klasse. Sie zahlten 1000 Dollar. Darunter, und das wusste ich vorher nicht, saßen im Laderaum noch sehr viele mehr. Sie zahlten 800 Dollar, sie reisten in der dritten Klasse. Je mehr ich an Land holte, umso mehr kamen zum Vorschein. Und immer noch mehr. Hunderte Frauen und Kinder in schlechtem Zustand. Besonders die aus dem Laderaum. Vor allem sie. Sie waren seit sieben Tagen auf dem Meer unterwegs. Sie waren dehydriert. Unterernährt. Erschöpft. 68 brachte ich in die Notaufnahme. Ihr Zustand war ernst. Ein Junge hatte am ganzen Körper Verbrennungen. Er war höchstens vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. So wie er sehen viele aus. Die Wunden sind chemische Verbrennungen. Vom Diesel. Die Schmuggler packen die Leute auf klapprige Boote, und unterwegs müssen sie aus Kanistern nachtanken. Dabei läuft Treibstoff auf den Boden und vermischt sich mit Meerwasser. Wenn sich die Kleidung damit vollsaugt, ergibt das eine aggressive Mischung, die schwere Verbrennungen verursacht. Sie sind sehr schwer zu behandeln und haben leider oft tödliche Folgen. Es ist die Pflicht jedes Menschen, der sich Mensch nennt, diesen Leuten zu helfen. Wenn es uns gelingt, freuen wir uns, und wir sind erleichtert, dass wir sie retten konnten. Manchmal gelingt das leider nicht. Und so habe ich hier schreckliche Dinge erlebt: tote Körper, Kinder. Dann muss ich tun, was ich am meisten verabscheue: Leichen untersuchen. Ich habe schon so viele abgefertigt. Zu viele vielleicht. Meine Medizinerkollegen sagen mir: „Du hast schon so viele gesehen. Du bist daran gewöhnt.“ Das ist nicht wahr. Wie soll man sich je an den Anblick toter Kinder gewöhnen? Schwangerer Frauen? Frauen, die auf sinkenden Schiffen geboren haben? Noch mit den Nabelschnüren dran. Man packt sie in die Säcke und Särge. Man muss Proben entnehmen, einen Finger oder eine Rippe abschneiden. Einem Kind muss man das Ohr abschneiden. Obwohl es schon tot ist. Noch eine Misshandlung mehr. Aber jemand muss es machen. Also mache ich es. All das hinterlässt in einem enorme Wut, ein Gefühl der Leere im Bauch. Ein Loch. Man denkt darüber nach. Träumt von ihnen. Ich habe oft Alpträume … immer wieder.
Manche räumlichen Entfernungen werden unendlich groß, ein Spalt oder Abgrund in unserem Bewusstsein, eine Einsicht, wie weit die Politik über unser eigenes Leben tatsächlich verfügt.
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Zurückkehren –
Das zionistische Projekt beanspruchte ein Recht auf Rückkehr –
Rückkehr ins Land, Rückkehr in die Geschichte, Rückkehr zu den Wurzeln, Rückkehr zur Einzigartigkeit, Rückkehr zur Souveränität. Ich stelle mir diese Rückkehr als eine Bewegung vor, die von allen möglichen Orten auf der Erde ausgeht und an einem einzigen Punkt zusammenläuft: Palästina. Ein Pfeil trifft einen Spiegel und zerbricht das Glas. Palästina wurde zersplittert, die Bürger Palästinas wurden vertrieben und verstreut auf Lager. Es war die Gegenbewegung zu jener der Zionisten: Nachdem die Zionisten zurückgekehrt waren, sich in ein und demselben Land niedergelassen hatten, vertrieben und deportierten und zerstreuten sie die anderen.
Nuseirat, Beach, Bureij, Deir El-Balah, Jabalia, Khan Younis, Maghazi camp, Rafah, Tulkarm, Shuafat, Nur Sham Jenin, Fawwar, Jalazone, Far'a, Ein as-Sultan, Dheishen, Deir 'Ammar, Camp no. 1, Beit Jibrin, Balata, Askar, Arroub, Amari, Aqbat Jabr, Homs, Ein el Tal, Hama, Jaramana, Khan Dunoun, Latakia, Khan Eshieh, Neirab, Qabr Essit, Sbeineh, Yaemouk, Dera, Ein El Hilweh, Wavel, Shatila, Nahr el-Bared, Rashidieh, Mieh Mieh, Mar Elias, El Buss, Dbayeh, Burj Shemali, Beddawi, Burj Barajneh, Zarqa, Talbieh, Marka, Souf, Jerash, Jabal el-Hussein, Ibrid, Baqa'a, Husn, Amman New Camp.
Flüchtlingslager.
Flüchtling
Lager
Sinnbilder des Durchgangs. In Wirklichkeit sind sie feste, unserem Blick verborgene Orte. Die meisten Palästinenser in den zahlreichen Flüchtlingslagern leben unter schwierigsten Bedingungen und sind dort grundlegender Bürger- und Menschenrechte beraubt. Zusammengesperrt.
Vergesse ich dein, Jerusalem,
so werde ich meiner Rechten vergessen.
Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben,
wo ich nicht dein gedenke
Mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels begann die Zerstörung des alten jüdischen Staates und das erste traumatische Exil der Juden in Babylon (6. bis 5. Jh. v. Chr.). Ein wesentlicher Teil der biblischen Texte entstand im babylonischen Exil. Sie formulieren eine ständige Klage, vermischt mit der Sehnsucht nach Rache und Buße und dem Verlangen, mit Gott versöhnt wieder in das Land Juda einziehen zu dürfen. Sie haben aus dem Land ein geliebtes Subjekt und ein Objekt der Begierde gemacht.
Diese biblischen Texte dokumentieren eine damalige Stimmungslage unter den Juden, die später den Zionismus und dessen Behauptung eines Rechts auf Rückkehr unterfüttert hat.2 Zur Rückkehr nach Zion gehörte die Überzeugung, das Land sei ein Gefäß für das Volk und der Nationalstaat eine Einheit mit hermetischen Grenzen rund um ein geschlossenes Gebiet. Dazu gehörte auch das „Recht“, sich jegliches Land „wiederzuholen“, das nach eigener Vorstellung dieser Einheit angehörte.3
Bewegliche Habe – Eigentum, das nicht unlösbar mit dem Land verbunden ist, heißt auf Hebräisch metaltelim, was sich vom Verb tiltel, „bewegen“ oder „schütteln“, ableitet. In dem Wort schwingt ein metallener Klang des Schauderns und Vibrierens mit.
Gegenstand – Auf Hebräisch chefets, leitet sich vom Verb chafatz für „begehren“ oder „verlangen“ ab.
Ding, Objekt – Auf Hebräisch etzem, ein Synonym für „Knochen“. Etzem als Knochen ist eine Substanz, der harte Stoff des Körpers, die tragende Struktur. Es assoziiert verschiedene Begriffe aus der Kabbala wie Materie, Form und Materie, abstrakte Form.
Wir begegnen hier der Vorstellung, dass Erleuchtungen, göttliche Funken, in der gegenständlichen Welt die Form von Sprache annehmen können.
Mir scheint, ein weiterer Aspekt dieser komplexen Vorstellung von der gegenständlichen Welt ist das biblische Gebot „Du sollst dir kein Bildnis machen“. Ich erinnere mich noch gut an die Enttäuschung, die ich als Kind in den jüdischen Abteilungen von Museen oder in jüdischen Museen überhaupt empfand: lauter Objekte, keine bunten Gemälde, keine Bildwerke. Später erst lernte ich die Abstraktion des Denkens und die auf das Verzieren der Dinge verwandte Sorgfalt und Genauigkeit schätzen. Eine ähnliche Enttäuschung erlebte ich in meiner Kindheit angesichts der trübseligen jüdischen Tradition, auf Gräbern Steine abzulegen. Und ich erinnere mich an das Gefühl einer plötzlichen Offenbarung, als mir meine Mutter erklärte, dass man Steine und nicht etwa Blumen auf Gräbern hinterlässt, weil Steine zur unbelebten Welt gehören (Olam Ha Athamim). Steine lassen die Toten in Frieden, wohingegen Blumen sie zurück ins Leben rufen.
Die verschiedenen Wörter für das Ding oder Objekt im Hebräischen lassen an mehr als nur ein Artefakt denken – an Bewegung, Begierde, Wesenheit, Erhellungen.
2015 gewann die Israelische Nationalbibliothek (nach 39 Jahren) einen langwierigen Prozess gegen die beiden Töchter von Esther Hoffe. Gestritten wurde um mehrere Kisten mit Originalmanuskripten und Entwürfen zu später erschienenen Werken von Franz Kafka. Kafka hatte Max Brod seine veröffentlichten und unveröffentlichten Texte mit dem ausdrücklichen Auftrag hinterlassen, sie nach seinem Tod zu vernichten.
Brod hielt sich bekanntlich nicht an diese Verfügung Kafkas und veröffentlichte in der Folge einige seiner Werke. 1939 floh er aus dem von der Wehrmacht besetzten Prag nach Palästina. Obwohl viele der Manuskripte in seiner Obhut an die Bodleian Library in Oxford gingen, besaß er selbst bis zu seinem Tod 1968 immer noch eine große Zahl davon. Er vererbte sie seiner Sekretärin Esther Hoffe, die anscheinend auch seine Geliebte war. Auch sie behielt und behütete die meisten Manuskripte Kafkas bis zu ihrem Tod, ausgenommen die Handschrift von Der Prozeß, die sie für zwei Millionen Dollar verkaufte. Spätestens da war klar, dass man mit Kafka richtig viel Geld verdienen konnte. Nach Esther Hoffes Tod boten ihre beiden Töchter Eva und Ruth als Erbinnen aller übrig gebliebenen Schriften Kafkas dessen Werke zum Verkauf an. Sie bestanden darauf, dass sich der Wert der Handschriften nach ihrem Gewicht richten sollte – buchstäblich nach dem, was das Papier wog. Einer der Anwälte, die Esther Hoffes Nachlass vertraten, erläuterte: „Wenn wir eine Einigung erzielen, dann wird das Material als Ganzes, als Paket den Besitzer wechseln. Es wird nach Gewicht verkauft. […] Hier haben wir also ein Kilogramm Papier, und der Meistbietende wird es dann ansehen und feststellen können, was es enthält.“
So wurde aus Kafka – oder seinen Schriften – ein Gegenstand von Verhandlungen und sein Werk zur bewegliche Habe. Im Gerichtsverfahren standen einander zwei Hauptkläger gegenüber, die das Werk zu erwerben beanspruchten – entweder, wie die Israelische Nationalbibliothek, indem sie ein Anrecht darauf geltend machten, oder, wie das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, durch Kauf. Die Israelische Nationalbibliothek behauptete, Kafkas Schriften seien keine Ware, sondern „öffentliches Eigentum“, und zwar Eigentum des jüdischen Volkes. Kafka sei in erster Linie ein jüdischer Schriftsteller, und seine Werke zählten zu den kulturellen Errungenschaften des jüdischen Volkes. Auffällig daran ist die Anmaßung, der jüdische Staat vertrete das gesamte jüdische Volk. Dieser Anspruch übergeht den Unterschied zwischen Juden, die auch Zionisten sind, und anderen, die das nicht waren oder sind, etwa die vielen in der Diaspora lebenden Juden. Er bekräftigt die zionistische Unterstellung, Galut sei ein Zustand des Exils, der Vertreibung und Verlorenheit, der nur durch die Rückkehr nach Israel wiedergutgemacht werden kann und sollte. Der Zionismus irrt in dem Glauben, das Exil insgesamt müsse in der Berufung auf ein Recht zur Rückkehr überwunden werden.
Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach argumentierte demgegenüber, Kafka gehöre der deutschen Literaturtradition und insbesondere der deutschen Sprache an. Anscheinend überwanden die Deutschen hier das Vorrecht der Staatsangehörigkeit zugunsten eines übergeordneten Primats der Nationalsprache. Sie verlagerten, mit anderen Worten, den Nationalismus auf die deutsche Sprache. Dieses Argument blendet die Bedeutung der Mehrsprachigkeit in Kafkas Schreiben aus. Manche Wissenschaftler waren auch der Ansicht, dass Marbach der richtige Ort für Kafkas Schriften sei, weil dieses Archiv bereits die weltgrößte Sammlung seiner Manuskripte besitzt. Demgegenüber beschrieb Philip Roth den deutschen Anspruch auf Kafkas Schriften als „nur eine weitere, mit grausiger Ironie an der westlichen Kultur des 20. Jahrhunderts begangene Schandtat“. Er erinnerte daran, dass Kafka nicht nur kein Deutscher war, sondern dass auch seine drei Schwestern in den Todeslagern der Nazis gestorben waren.
Angeregt von einem Text Judith Butlers über den Prozeß interessiert mich hier Kafkas Haltung zum Zionismus und seine allgemeine Vorstellung vom Erreichen oder Verfehlen eines Ziels durch das Schreiben. In ihrer Analyse von Kafkas Roman fragt Butler: „Was würde es bedeuten, den raumzeitlichen Umständen des ‚Hier‘ enthoben zu sein? […] Kafkas Reisen führen in eine Unendlichkeit, die auf eine andere Welt verweist.“ Und dieses Verweisen, diese Geste sei „der Begriff, den Benjamin und Adorno gebrauchen, wenn sie über die angehaltenen Momente sprechen, über diese in ihrem Verhindert- und Unvollendetsein nicht ganz zu Handlungen gewordenen Äußerungen. […] Eine Geste erschließt einen Horizont als Ziel, aber einen eigentlichen Aufbruch oder gar ein tatsächliches Ankommen gibt es nicht."
Kafkas Werk ist Ausdruck einer Poetik der Nicht-Ankunft. Butler kommt zu dem Schluss, dass in seinen Schreiben eine unermessliche Distanz zwischen dem einen Ort und dem anderen aufklafft – dass es insofern eine nicht-zionistische theologische Geste vollführt.
Für den Staat Israel war Max Brods zionistische Gesinnung gewichtiger als die Tatsache, dass Kafka selbst kein Zionist gewesen ist. Kafka reiste nie nach Palästina und hatte auch nie ernsthaft vor, dorthin zu fahren. Ohne Zweifel war ihm sein Judentum wichtig, aber ebenso sicher ist, dass mit diesem keine wie immer geartete zionistische Überzeugung einherging. Für mich bestätigt Kafkas Schreiben die Zerbrechlichkeit des Daseins an einem Ort, der von keinem Staatsgebiet umgeben ist. In den meisten Texten Kafkas erreichen Botschaften nicht ihre eigentlichen Empfänger, Gebote werden missverstanden, Ziele nie erreicht. Kafka agiert im Raum zwischen der unerfüllten Bestimmung und dem Drang zu dieser Erfüllung. Seine Schriften vermitteln die Stimmung des Exils, nicht zuletzt sprachlich. Das Motiv, eine Sprache von außerhalb zu erschließen, wird auch von Deleuze und Guattari in ihrem Buch Kafka. Für eine kleine Literatur hervorgehoben.
Wie dem auch sei: Am Ende eines 39-jährigen Prozesses hat die Israelische Nationalbibliothek gewonnen. Kafka gehört jetzt dem Staat Israel. Aus Kafka ist etwas Zugehöriges geworden.
Um Kafka geht es auch im voluminösen Briefwechsel zwischen Walter Benjamin und Gershom Scholem. Ihre Korrespondenz ist Ausdruck der Verbundenheit zwischen zwei bedeutenden jüdischen Denkern. Ich will versuchen, diese Beziehung zu politisieren, selbst auf die Gefahr grober Vereinfachung hin: Der eine – Gershom Scholem – war ein beseelter Zionist und schon 1923 in das britische Mandatsgebiet Palästina ausgewandert. Er wirkte als großer Kenner des jüdischen Schrifttums und der Kabbala an der Hebräischen Universität Jerusalem und an der Israelischen Nationalbibliothek. Der andere – Walter Benjamin – war im Innersten ein jüdischer Flüchtling, ein Exilant. Obwohl andauernd auf der Flucht vor dem Naziregime, verschob er seine geplante Reise nach Palästina immer wieder. Das Schöne an dieser Brieffreundschaft zweier Seelen ist, dass man in ihr die Auseinandersetzung zweier Denker mitverfolgen kann, die in ihren finsteren Zeiten eine tiefe Zuneigung zueinander entwickelten. Beider große Liebe zu Büchern – und Bücher als solche – schufen eine Brücke zwischen ihren sehr verschiedenen Charakteren und Lebensumständen. Sie überwanden geografische und ideologische Distanzen, die sich in Abhängigkeit von Benjamins Fluchtroute laufend änderten. Aus Büchern und Gedanken wurden hier gelebte Zuneigung und Mitgefühl – eine Brücke entstand.
Denkerleidenschaft und -sehnsucht der beiden „begegneten“ einander im Austausch über Kafkas Schriften. Das hat mich daran am meisten berührt. Benjamin bemerkte über Kafka: „Kein Dichter hat das ‚Du sollst Dir kein Bildnis machen‘ so genau befolgt.“ Benjamin fühlte sich von Kafkas Texten bestärkt, und zwar in einem unmittelbar persönlichen und historischen Sinn. Benjamin fand in Kafka sein Asyl.
Kafka wurde zu einer Heimat, einem Land ohne Staatsgebiet, einem Land als Horizont.
Eine andere Schriftstellerin, die Gershom Scholem in seinen Briefen an Benjamin im Zusammenhang mit dem Jerusalemer Alltag nebenbei erwähnte, war Else Lasker-Schüler. Ab und zu kam er am Ende seiner Briefe ohne großes Mitgefühl auf sie zu sprechen:
Hier herrscht unverändert lebhafte Bewegung. Zur Zeit befindet sich hier, soweit ich verstehe, hart an der Grenze des Irrsinns, Else Lasker-Schüler, die in jedes andere Land der Welt wohl besser passt als in den wirklichen Orient. Immerhin bleibt sie eine wirklich verblüffende Erscheinung. Sie hat eine halbstündige Unterredung mit König David gehabt […]. Und ich bin leider nicht einmal überzeugt, daß sie ihn wirklich gesehen hat.
Als letzter Gast ist zur Zeit in Palästina, wie ich dir vielleicht schon schrieb, Else Lasker-Schüler. Eine Ruine, in der der Wahnsinn weniger haust als gespenstert.4
Else Lasker-Schüler floh 1934 aus Berlin nach Palästina und ließ sich am Ende wie die meisten deutsch-jüdischen, intellektuellen Flüchtlinge zu dieser Zeit in Jerusalem nieder. Wie so vielen anderen gelang es ihr nicht, sich in der Levante einzuleben. Vor dem Zweiten Weltkrieg war sie eine berühmte Dichterin gewesen. Nun lebte sie in Jerusalem von den Almosen einiger Freunde, die sie noch aus ihrer begüterten Berliner Zeit kannten.5 1927 hatte sie ihren Sohn Paul verloren. Ihn betrauerte sie in ihren Gedichten. Über ihr Exil schrieb sie:
Ich hab mir das Sein in Jerusalem anders vorgestellt. Ich bin so tief enttäuscht. Das Land blieb ja dasselbe: Urland, die Schöpfung; aber ich versinke in mir und ich werde hier vor Traurigkeit sterben. Und mein Kind wird immer vereinsamt auf dem Friedhof in Berlin ruhen. Man weiß ja nicht wie alles ist, ich weiß nur, das Leben geht Hand in Hand mit dem Tod. Und logisch denken wollen ist gerade so unlogisch. Ich bin so tief enttäuscht.
Wir lesen von ihrem exzentrischen Benehmen, ihrer Verrücktheit und Vereinsamung. Wir lesen von einer vertriebenen Person – einem verlorenen Buch, einem Exil in Zion. Einem vom Schmerz und Wahnsinn der Vergangenheit und Gegenwart aufgesogenen Körper.
An mein Kind
Immer wieder wirst du mir
Im scheidenden Jahre sterben, mein Kind,
Wenn das Laub zerfließt
Und die Zweige schmal werden.
Mit den roten Rosen
Hast du den Tod bitter gekostet,
Nicht ein einziges welkendes Pochen
Blieb dir erspart.
Darum weine ich sehr, ewiglich . . . . .
In der Nacht meines Herzens.
Noch seufzen aus mir die Schlummerlieder,
Die dich in den Todesschlaf schluchzten,
Und meine Augen wenden sich nicht mehr
Der Welt zu;
Das Grün des Laubes tut ihnen weh.
– Aber der Ewige wohnt in mir.
Die Liebe zu dir ist das Bildnis,
Das man sich von Gott machen darf.
Ich sah auch die Engel im Weinen,
Im Wind und im Schneeregen.
Sie schwebten . . . . . . . .
In einer himmlischen Luft.
Wenn der Mond in Blüte steht
Gleicht er deinem Leben, mein Kind.
Und ich mag nicht hinsehen
Wie der lichtspendende Falter sorglos dahinschwebt.
Nie ahnte ich den Tod
– Spüren um dich, mein Kind –
Und ich liebe des Zimmers Wände,
Die ich bemale mit deinem Knabenantlitz.
Die Sterne, die in diesem Monat
So viele sprühend ins Leben fallen,
Tropfen schwer auf mein Herz.
Else Lasker-Schüler wurde in Jerusalem begraben. Ihr Grab auf dem jüdischen Ölberg-Friedhof sticht hervor als hässliche, betonierte Wunde, die eine traurige Geschichte des Landes und seiner Menschen erzählt.6 Ihr Grab ist eingezwängt zwischen zwei andere Steine. Einer davon trägt diese deutsche Inschrift:
Die Gräber wurden im Mai 1948 von der Arabischen Legion geschändet die Gebeine zerstreut und die Grabsteine fuer Strassen und Ställe benutzt bis im Juni 1967 der Ölberg befreit und die zerstreten Gebeine in einem Grab gesammelt wurden.
Ich denke dabei:
Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, meinst du auch, daß diese Gebeine wieder lebendig werden? Und ich sprach: Herr, HERR, das weißt du wohl. Und er sprach zu mir: Weissage von diesen Gebeinen und sprich zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine, höret des HERRN Wort! So spricht der Herr, HERR von diesen Gebeinen: Siehe, ich will einen Odem in euch bringen, daß ihr sollt lebendig werden. Ich will euch Adern geben und Fleisch lassen über euch wachsen und euch mit Haut überziehen und will euch Odem geben, daß ihr wieder lebendig werdet, und ihr sollt erfahren, daß ich der HERR bin.7
▪
In einem anderen Briefwechsel zwischen Scholem und Benjamin geht es um Benjamins Bibliothek und seine Versuche, sie zu retten. Was den Vielleser und leidenschaftlichen Sammler Benjamin im Zuge seiner Flucht mit am meisten quälte, war die Notwendigkeit, seine geliebten Bücher zurückzulassen. Hingebungsvoll und pedantisch hatte er eine riesige Privatbibliothek aufgebaut, an der er hing wie an kaum etwas sonst. Seine Mühsal, einen Aufbewahrungsort für seine Bibliothek zu finden, war ebenso groß wie seine Suche nach immer neuen Verstecken vor den Nazis. Es gelang ihm, einen kleinen Teil nach Schweden zu schicken, wo er selbst auch einige Zeit verbrachte, aber der größere Teil wurde von den Nazis verbrannt. Es heißt, Benjamin sei gestorben, als seine Bibliothek starb.
Porträt eines Mannes als Bibliothek.
Die Bibliothek als Asyl eines Mannes.
Der Salon als Asyl einer Frau.
Ein Raum als Schauspiel. Ein Salon. Eine Lesung als Handlung. Lesen als Lieben. Innenwärts. Ein Salon als Mutterschoß. Er verwirft jedes Gesetz. Ein Raum als Zuflucht.
Ho Rahel, Rahel.
Im Berlin des 18. Jahrhunderts wurden die meisten Salons von Jüdinnen betrieben. Ihre Salons waren Inbegriff einer doppelten Emanzipation – von ihrem Geschlecht und ihrer Volkszugehörigkeit. Juden, meist ohne Bürgerrechte, konnten durch wirtschaftlichen Wohlstand oder intellektuelle Leistungen Eingang in die Gesellschaft finden (oder sich einkaufen).
Da Juden und besonders Jüdinnen kaum Zugang zum Gesellschaftsleben hatten, inszenierte der Salon den umgekehrten Vorgang: Die Gesellschaft fand sich ein im Raum der Jüdin, in ihrem Kosmos. Rahel Varnhagan betrieb in ihrer kleinen Mansarde einen der bedeutendsten Salons ihrer Zeit. Ihre Einsicht in die eigene Randexistenz war bemerkenswert, zumal es ihr gelang, daraus eine Art Selbstständigkeit zu gewinnen: „Man ist nicht frey; wenn man in der bürgerlichen Gesellschaft etwas darstellen soll: Eine Gattin, eine Beamtenfrau; etc.“
Varnhagen schuf einen Salon nach ihrer Art – man könnte ihn vielleicht einen „psychosozialen“ nennen. In diesem Salon ging es darum, das Zuhören zu lernen und sich in der Sprache der Gäste zu unterhalten. Es ging um eine Art Transparenz, eine „reine“ Form der Aufnahme und Vermittlung anderer Stimmen. Als Schriftstellerin erfand Varnhagen außerdem eine neue Art des Schreibens. Sie verfasste keine Bücher im eigentlichen Sinn, sondern hauptsächlich Briefe, und sie knüpfte ein Netz von Korrespondenten, die an diesem Unternehmen mitwirkten. Ihre Briefe versah sie mit Daten und Adressen. So stand ihr Schreiben und Leben stets in einem Zusammenhang mit Zeit und Ort, obwohl sie als Jüdin einem Leben im Schatten der Gesellschaft unterworfen war. Als erste deutsche Jüdin beschrieb sie, wie es sich anfühlte „zwischen Paria und Parvenü“ gefangen zu sein8 – einen Zustand, den Heinrich Heine „Judenschmerz“ nannte. Bei Varnhagen hieß er: „das errungene Gut des durchschmerzten Herzens“ Wie es scheint, trug ein Gefühl des Mangels, der fehlenden Macht oder Geltungskraft, wesentlich zu ihrer Einzigartigkeit bei. „Mit der Meinung, daß ich eine Königin (keine regierende) oder eine Mutter sein müßte: erlebe ich, daß ich grade nichts bin. Keine Tochter, keine Schwester, keine Geliebte, keine Frau, keine Bürgerin Einmal.“
Wie im Nachhall zu dieser Gefühlsäußerung schrieb Else Lasker-Schüler an den ebenfalls in Jerusalem lebenden Martin Buber: „Ich bin keine Zionistin, keine Jüdin, keine Christin; ich glaube aber ein Mensch, ein sehr tief trauriger Mensch.9
Ganz anders Gershom Scholem: Er war ein echter Zionist und Angehöriger des Intellektuellenzirkels „Brit Shalom“, der an ein friedliches Zusammenleben von Arabern und Juden glaubte. Er war Bibliothekar an der Israelischen Nationalbibliothek und widmete sich mit anderen Wissenschaftlern der Sammlung von Büchern für diese. Da er die Vernichtung des jüdischen Kultur- und Geisteserbes durch das Naziregime fürchtete, verwandte er viel Mühe auf diese Sammeltätigkeit. Beim Lesen seiner Korrespondenz wird deutlich, wie entschieden Scholem darauf drang, Exemplare sämtlicher Texte von Walter Benjamin in Palästina zu erhalten.
Bücher und Texte überwinden Entfernungen, werden von jemandem weggenommen, übergeben, mitgenommen, behütet, gepflegt, geschrieben, geplündert, verbrannt.
Zwischen Mai 1948 und Februar 1949 wurden 30.000 Bücher, Manuskripte und Zeitungen aus palästinensischen Häusern beschlagnahmt, nachdem Israel deren Bewohner mit Gewalt vertrieben hatte. 40.000 Bände wurden in Städten wie Jaffa, Haifa und Nazareth weggenommen. Viele dieser Bücher wurden später mit dem Kürzel „AP“ für „abandoned property“ oder „zurückgelassenes Eigentum“ versehen und den Beständen der Israelischen Nationalbibliothek einverleibt. Dort befinden sie sich noch heute.
Die Geschichte dieses komplizierten Vorgangs erfahren wir vom Historiker Gish Amit: „Die Nationalbibliothek […] bewahrte die Bücher vor Krieg, Plünderung und Zerstörung. Sie verhinderte, dass Handschriften illegal in den Handel kamen. Sie rettete die Bücher auch vor dem langen Arm der Armee und der Regierungsbehörden.“ Noch in den 1950er Jahren wurden die Bestände nach den Familiennamen ihrer Besitzer katalogisiert, denn man ging davon aus, sie diesen nach dem Ende des Krieges zurückzugeben. Doch in den 1960ern wurden die Namen durch das Kürzel „AP“ ersetzt. In dieser Zeit änderte sich die Haltung zu dieser Frage, und die Nationalbibliothek wurde gemäß der herrschenden politischen Stimmung verstaatlicht.
Die Schriftstellerin Hala Sakakini erzählt von einem Besuch der Israelischen Nationalbibliothek. Der Bibliothekar ließ sie nur ein einziges Buch zur Ansicht aussuchen:
Wir entschieden uns für Das Buch der Geizkragen von al-Dschahiz, eine Geschichtensammlung aus dem 9. Jahrhundert. Tatsächlich kam der Bibliothekar nach einer Weile mit dem Band in seinen Händen wieder. Er ließ uns an Ort und Stelle im Buch blättern, aber nur unter seiner Aufsicht. Als wären wir gefährliche Kulturdiebe, stand er da und wartete darauf, dass wir ihm das Buch zurückgaben.
Dieses Buch gehörte Halas Familie. Es war einmal Teil der umfangreichen Privatbibliothek ihres Vaters Khalil Sakanini. Der angesehene christlich-arabische Lehrer, Autor und Intellektuelle gehörte zu denjenigen, aus deren Wohnungen Bücher entwendet wurden. Am 30. April 1948 floh er aus seinem Haus im Jerusalemer Katamon-Viertel.10 Später beschrieb er die Trennung von seinen Büchern in seinem Tagebuch: „Lebt wohl, meine auserwählten, unschätzbaren, teuren Bücher. Ich weiß nicht, was aus euch geworden ist, nachdem wir aufbrachen. Wurdet ihr geplündert? Wurdet ihr verbrannt? Wurdet ihr achtsam in eine öffentliche oder private Bibliothek überführt?“
Susan Buch-Morss schreibt, das „Archiv“ einer „lebendigen Methodologie“ bestehe aus „materiellen Überresten gespeicherten – geretteten – Lebens in Bibliotheken, Museen, Antiquariaten, auf Flohmärkten. […] Dass nur manche materiellen Gegenstände überleben, und sei es als fotografische Spuren, gehört zu ihrer ‚Wahrheit‘ – und ist aus einer historisch-kritischen Sicht vielleicht deren wichtigster Teil.“
Die zionistische Bewegung bewirkte Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre eine große Welle jüdischer Einwanderung aus dem Jemen. Die jemenitischen Juden stammten aus abgelegenen Teilen des Landes und waren bis dahin weder mit dem Westen, noch mit der Moderne in Berührung gekommen. Man betrachtete sie als den „vergessenen Stamm“, als die „wirklichen, echten Juden“. Zugleich wurden sie als ein Teil jener Levante beargwöhnt, den man erziehen, zivilisieren, „entarabisieren“ müsse. Die Jemeniten galten als die Araber unter den Juden. Und da das zionistische Projekt wesentlich ein westliches war, wollten die Zionisten verhindern, dass der Staat Israel von der arabischen Wesensart der Jemeniten (und anderer Juden aus der Levante, etwa Irakern oder Marokkanern) angesteckt – „kontaminiert“ – würde.
So sammelte man die Jemeniten in Lagern, bevor sie nach Israel einreisten, und nahm ihnen ihre Bücher mit dem Versprechen ab, sie nach der Ankunft zurückzugeben. Darunter waren äußerst wertvolle Thorarollen und andere, bis zu 500 Jahre alte heilige Schriften. Als die Jemeniten, in Israel angekommen, nach ihren Büchern fragten, speiste man sie mit Ausweichmanövern und Ausreden ab: Es habe einen Brand im Hafen gegeben, die Bücher seien gestohlen worden, usw. Tatsächlich landeten Tausende dieser Schriften in der Israelischen Nationalbibliothek oder in wissenschaftliche Einrichtungen und Museen. Viele wurden auch von Privatsammlern gekauft, die anscheinend ein Vorrecht besaßen, mit dem alten und wertvollen Kulturerbe zu handeln, es zu bewahren und zu verstehen.11 Über Jahrhunderte waren die wertvollen Rollen und Bücher in den Synagogen des Jemen täglich in Gebrauch gewesen – das war vorbei.12
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Auf ihrem Sterbebett bat meine Mutter uns drei Töchter, ein paar Sachen aus ihrer Schublade zu nehmen, auf die wir bis dahin nie geachtet hatten. Sie erzählte uns von ihrer Herkunft und, mit Rührung in der Stimme, besonders von einer Silberbrosche mit einem kleinen Stück eingefassten Elfenbeins. Es zeigte ein winziges, mit freiem Auge kaum erkennbares Bild eines Menschen auf einem Pferdewagen. Der Großvater meiner Mutter hatte dieses Schmuckstück angefertigt. Die Jemeniten waren kunstvolle Silberschmiede, und Opa Zecharia war Silberschmied des osmanischen Gouverneurs von Palästina, Dschemal Pascha.
Später fand ich heraus, dass er beim Exodus aus Jaffa auf dem Fußmarsch nach Galiläa umgekommen war.13 Das Bild eines Menschen auf einem Pferdewagen. Eine dieser Entfernungen, aus deren Überwindung die Geschichte immer wieder eine körperliche und seelische Folter macht. Wege, die militaristische Gehirne sorgfältig zu Netzen verknüpfen, um darin die unterworfenen menschlichen Objekte zu fangen und schleichend zu dezimieren.
Als uns meine Mutter die Brosche übergab, spürte ich zum ersten Mal den unerträglichen Schmerz des Eingeständnisses, dass sie uns bald verlassen würde. Zum ersten Mal sah ich ihr auch an, dass sie selbst es sich eingestand. Uns diese Dinge zu übergeben, hieß von uns zu gehen. Die Dinge zu übergeben, hieß ein Erbe zu schaffen. Und dieses Erbe bedeutete, eine Erzählung zu bewahren, sie weiterzutragen.
Einen Schnitt.
Eine unüberbrückte Kluft.
Eine Geste im Raum.
Eine Familie.
Ein Schauspiel.
Ein Ding.
Aus dem Englischen übersetzt von Herwig Engelmann
1 Der Dokumentarfilm wurde auf der sizilianischen Insel Lampedusa gedreht, an der die meisten Boote mit Flüchtlingen und Migranten aus Afrika, Asien und dem Nahen Osten landen. Der Film beschreibt die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer vor dem Hintergrund des Alltags sizilianischer Inselbewohner.
2 Das „Recht auf Rückkehr“ wurde 1950 vom israelischen Parlament beschlossen. Es verkündet den Anspruch aller Juden, nach Israel einzuwandern: „Jeder Jude hat das Recht, als ein Oleh in dieses Land zu kommen.“ Wer nach den Bestimmungen des Rechts auf Rückkehr einwandert, hat sofort Anspruch auf die israelische Staatsbürgerschaft.
3 Zionistische Texte folgen dieser Logik: „Ebenso wie sich das jüdische Volk nach Rückkehr in sein Land sehnte, sehnte sich auch das Land nach der Rückkehr seiner Kinder.“ Ein „Land ohne ein Volk“ lag angeblich verlassen, aber voller Reichtümer da und wartete darauf, erlöst zu werden – womit zugleich die Existenz der einheimischen Palästinenser ausgelöscht wurde. Das Land „wartet auf ein Volk, das kommt und seine alte Heimat erneuert und instandsetzt, seine Wunden heilt; […] das kommt mit der Leidenschaft der Vorkämpfer, dem Geist der Aufopferung und Begeisterung, mit Mut und Genie; das ein neues Land Israel erschafft und aufbaut und festigt.“ (Ben Gurion und Ben Zvi)
4 Gershom Scholem an Walter Benjamin, 14. und 19. April 1934.
5 Heinz Gerling und der Dichter Manfred Schturmann unterstützten Lasker-Schüler. Gerling eröffnete ein Konto für sie und sorgte für regelmäßige Eingänge, um ihre Ausgaben zu decken. Schturmann gab ihr Werk heraus und half bei den Verhandlungen mit Verlagen.
6 Der jüdische Friedhof auf dem Ölberg im Westjordanland steht im Zentrum der Auseinandersetzung um die israelische Vorherrschaft. Die ersten Bestattungen am Ölberg fanden zur Zeit von Salomos Tempel, vor der Zerstörung des Jerusalemer oder Ersten Tempels im Jahr 587 v. Chr. statt.
7 Hesekiel 37: 3–6.
8 So heißt ein Kapitel in Hannah Arendts Buch Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München: Piper 1959.
9 Sigrid Bauschinger, Else Lasker-Schüler: Biographie, Göttingen: Wallstein 2004, S. 369.
10 Von 1947 bis 1949 flohen im Palästinakrieg mehr als 700.000 Palästinenser oder wurden gewaltsam aus ihren Häusern vertrieben. Der palästinensische Exodus heißt „Nakba“ oder „die Katastrophe“. 600 bis 700 palästinensische Dörfer wurden zerstört, Palästina damit fast vollständig ausgelöscht. Am Ende des Krieges behielt Israel das von den Vereinten Nationen vorgeschlagene Gebiet und fast 60% des für den künftigen arabischen Staat vorgesehenen Landes. Fast ein Drittel der registrierten palästinensischen Flüchtlinge (mehr als 1,5 Millionen Menschen) leben noch heute in den 58 offiziellen palästinensischen Flüchtlingslagern in Jordanien, im Libanon, in Syrien, im Gazastreifen und im Westjordanland einschließlich Ostjerusalems.
11 Die Einwanderung der Jemeniten nach Israel insgesamt hatte eine vergleichbare Schattenseite. Ein Beispiel dafür sind die „gestohlenen Kinder“. Bis zu 5000 Mizrahim-Säuglinge, die meisten jemenitische Juden, wurden zwischen 1948 und 1954 in Israel vermisst gemeldet. Sie landeten in Familien, die behaupteten, sie seien weggegeben worden, doch tatsächlich wurden Säuglinge den Müttern sofort nach der Geburt weggenommen. Man erzählte den Müttern, sie seien gestorben, während sie tatsächlich bei Aschkenasi-Familien in Pflege gegeben wurden, damit sie in einem „gebildeteren“ Milieu aufwüchsen.
12 Die zionistische Entschlossenheit, alle Spuren arabischer Kultur restlos aus den Juden des Nahen Ostens zu tilgen, entsprach ihrer rücksichtslosen Vertreibung der Palästinenser aus dem späteren Staat Israel. Die Zionisten wollten die einheimische Bevölkerung nicht unterwerfen, sondern ersetzen. Ihren jüdischen Staat wollten sie auf den Trümmern der arabischen Gesellschaft in Palästina errichten. Ben Gurion sah seine Aufgabe darin, diese Gesellschaft zu zerstören und dafür zu sorgen, dass das „Arabertum“ nicht auf dem Umweg über die Jemeniten wieder in seinen neuen jüdischen Staat einsickern konnte.
13 Nach bisheriger Kenntnis fürchtete das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg, dass die jüdische Gemeinde an der Mittelmeerküste mit den demnächst landenden feindlichen britischen Streitkräften kollaborieren würde. (In letzter Zeit ist allerdings ein Briefwechsel zwischen Ahmed Dschemal Pascha und Istanbul aufgetaucht, der eine andere Version der Geschichte erzählt: Demnach sorgte sich Pascha um die Sicherheit seiner Bürger an der Mittelmeerküste im Krieg.) Die jüdische Gemeinde aus Jaffa und dem heutigen Tel Aviv (etwa 10.000 Menschen) musste innerhalb von 24 Stunden in andere Teile Palästinas deportiert werden. 3.000 Menschen marschierten nach Galiläa im Norden Palästinas. Unter diesen waren auch meine Vorfahren. Mein Urgroßvater Shlomo Chafshosh starb aufgrund der entsetzlichen Bedingungen auf diesem Marsch an Typhus. Meine Großmutter Esther wuchs in einem Waisenheim in Tiberias auf.