Vertrag und Protest: John Millers Fotografien von Cassandra Barnett und Jon Bywater, mit einer Einführung von Marina Fokidis
John Millers Atelier habe ich 2015 auf Empfehlung von Freunden und Kollegen aus Neuseeland besucht. Kurz zuvor hatte ich in Auckland den Kunsttheoretiker Jon Bywater getroffen, der mich in meiner Absicht mit großem Enthusiasmus bestärkte. Miller ist gemischter englisch-schottischer Herkunft und stammt zudem von Māori ab, genauer von den Ngāpuhi iwi, die im Zentrum der Northland-Halbinsel beheimatet sind. Mit seiner Kamera hat er seit den späten 1960er Jahren die gesellschaftlichen und politischen Konflikte Neuseelands dokumentiert und dabei ein scharfes und empathisches Auge für den Prozess der Entkolonialisierung mitgebracht, den die indigene Bevölkerung des Inselstaates angestoßen hat.
Als ich Miller schließlich begegnete, war er mit seiner Jacke im Militärstil, ausgestattet mit verschiedenen Taschen zum Verstauen von Filmrollen und anderer Ausrüstung, sowie mit seinem grünen Hut leicht zu erkennen. Nur wenige Worte fielen auf dem Weg in sein Atelier, einem dunklen, einfachen, mit Büchern und Archivmaterial vollgestopften Raum, in dem er mich plötzlich auf Griechisch begrüßte, das er von einem Nachbarn gelernt hatte. Dann, übergangslos, fragte er freundlich: „Was möchten Sie von mir?“ Im Zuge des Bevölkerungsaustauschs, wie er in dem starren und grausamen Vertrag von Lausanne (1923) gefordert war, waren meine Vorfahren aus Kleinasien nach Griechenland emigriert. Deshalb wolle ich mehr über den Vertrag von Waitangi erfahren, der 1840 von etwa 540 Māori-Häuptlingen sowie Vertretern der Britischen Krone unterzeichnet worden war. Ich wollte wissen, wie sein Status als lebendiges Dokument gegenwärtig gesehen wurde. Als ich mein Interesse zu erläutern begann, rückte Miller die Dinge zurecht. „Alles, was ich tun kann“, sagte er, „ist, Ihnen ein paar Fotografien aus den letzten fünfzig Jahren zu zeigen.“
Und damit begann eine vierstündige Tour durch die Geschichte Neuseelands und den Kampf für soziale Gerechtigkeit und für Stammesland und Güter – alles vor Millers Computer und anhand von Bildern, die in den Straßen, Versammlungshäusern und Regierungsgebäuden aufgenommen worden waren. Seine ersten Fotos stammen von 1967 und lichten eine Demonstration gegen den Vietnamkrieg in Auckland ab. Zahlreiche Aufnahmen von Māori-Protesten in Waitangi sind im Laufe der Jahre entstanden sowie Bilder des friedlichen Landmarschs von 1975. Die jüngsten Fotografien zeigen Protestmärsche, die sich gegen den Foreshore and Seabed Act von 2004 richteten, ein Gesetz, das die Nutzungsrechte des Küstenvorlandes und des Meeresbodens regelte. Gemessen an anderen politischen Ereignissen betont Miller die Kämpfe der Māori nicht übermäßig; offenbar möchte er sein Land in seiner ganzen Vielschichtigkeit zeigen. Mit einem Lachen zeigt er in frühen Fotografien auf Babys, die als führende politische Demonstranten auf späteren Bildern erscheinen, und auch auf Mitglieder einer idealistischen Jugend, die später ins „Establishment“ eingingen. Es war, als würde man ein Familienalbum durchsehen, außer dass hier Straßenproteste, politische Märsche, Aufstände, politische Konferenzen und Privattreffen die Rolle der Familienzusammenkünfte einnahmen.
Je länger mir Miller seine Arbeit zeigte, desto mehr verstand ich, wie sehr seine Fotografien, seine Worte, ja selbst die ephemeren Materialien, die er an eine Pinnwand geheftet hatte, seine Integrität und sein Engagements für Gleichheit bezeugten. Ihm ist bewusst, dass es seine Rolle ist, mit der Kamera vor Ort zu sein, Geschichtsmomente in Aufnahmen festzuhalten, die späteren Generationen als entscheidende Aufzeichnungen dienen – und dies nicht nur in Neuseeland. Nach Athen zurückgekommen, wurde mir klar, wie wichtig es ist, einige von Millers dokumentarischen Fotografien in das Ensemble der documenta 14 aufzunehmen. Auf den Seiten von South as a State of Mind und neben den Texten von Bywater und der Schriftstellerin und Dozentin Cassandra Barnett können sich seine Fotografien als Partituren für alternative Möglichkeiten des Zusammenlebens lesen lassen.
– Marina Fokidis
Lebendige Dokumente
von Cassandra Barnett
Reo
Fang mit dem karanga an. Wir kennen ihren Namen nicht, aber wir hören den hohen klagenden Ruf. Ohne Schwierigkeiten schraubt er sich über Automotoren hoch bis an einen stimmlichen Schwellenbereich, in dem unser Übergang ins Spirituelle hörbar wird und die ganze Reihe entlang Gänsehaut verursacht. Die Stimme flicht Veranstalter und Besucher, Marschierer und Vorfahren zusammen und trägt uns über gefährliche Schwellen – unsichtbare, heilige sowie sichtbare, geopolitische.
Eine Bildunterschrift? Māori-Landmarsch, Ngauranga Gorge, 13. Oktober 1975. „Tausendäugiger Aal“, so nannte ein Dichter die lange Wanderung.1 Mehr Hintergrund? Dreißig Tage und 640 km nach ihrem Aufbruch von Te Hāpua im Norden treffen 5.000 Marschierer in Wellington ein, protestieren gegen die Enteignung von Māori-Land und die Nichtachtung des Vertrags von Waitangi durch die Krone – des (von den Pākehā) aufgesetzten Vertrags, mit dem die vollständige Kolonisation unseres Aotearoa whenua als Nationalstaat Neuseeland legitimiert werden sollte. Aotearoa, ein Māori-Name für ein Land, das mehrteilig, verinselt, tribal und von tiefen und alten Beziehungen kreuz und quer durchzogen war (und ist). „Wir waren mobil. […] Und unsere Geschichten zogen herum. Und wenn du nicht unterwegs bist, wirst du nicht wirklich […] verstehen können, wo diese Geschichten verankert sind und wie sie funktionieren.“2
Deshalb schrecke ich vor großen Bildern zurück, vor dem Informieren und der Information. Anstelle einer Ansicht aus der Vogelperspektive, die den Aal in seiner Ganzheit zeigt, musst du seine Nähe fühlen, zu dir und zu mir. Lies die Zeichen, die Blickwinkel. Die lange Linie wird länger. Unsere Tante achtet auf die Geschichte des Aals, wobei seine Nase vorne verschwindet. Hebt ihre Arme, grüne Zweige, die die Energie und Wärme der rōpū empfangen und zurücksenden – nicht nur ein Grüßen, sondern ein Halt. Tautoko. Die in Hörweite halten inne, hören zu, nehmen Trost ihres Rufes auf. Da, das ist Dr. Douglas Sinclair. Wer noch? Die Fotografie verlangt nach weiteren Namen, aber ich bin nicht sicher, ob ich das hinkriege. Lies John Miller’s Einführung. Dicht genug an unserer Ruferin und ihrer Begleiterin, um ihre Nähe zu teilen, verbunden und doch getrennt. Die Kurve, die die Straße macht, verbindet Aalauge und Kameraauge, bindet Miller in die Gruppe, nimmt auch uns mit hinein. Endlich ist die Kamera in Māori-Hand, bezeugt unsere Stärke, macht uns sichtbar. Wir marschieren unbewegt, rückwärts in die Zukunft, nebeneinander.
Und wieder, eine weibliche Stimme.3 Schwarz und Weiß zusammenflechtend. Nach dem langen Marsch, die Ankunft. Whina Cooper, Te Whaea o te Motu, Mutter der Nation. Dame, Nationalikone, Unterstützerin der National Party, auch das. Als Kind lief sie sechs Meilen zur Schule. Als Teenager schüttete sie die von einem ortsansässigen Bauern ausgehobenen Gräben schneller wieder zu, als er sie graben konnte, so bewahrte sie erfolgreich das Watt als mahinga kaimoana. Mit 79, eine taniwha in ihrer eigenen Staatsrobe. Korowai und Halskragen. Ein Mikrofon und ein Stuhl zum Abstützen. Ein Regenschirm über sie gehalten, denn an jenem Tag regnete es, weinendes Wasser, als sie das Memorial of Rights und die Petition der 60.000 Unterschriften ablieferte. Ihr Recht zu sprechen wahrnahm. Endlich, eine Stimme. Nicht ein Morgen Land mehr.
Auch dabei, Te Roopu o te Matakite: die mit Weitblick. Die weiße Fahne schwenkend, Symbol der Einheit, welche Spaltungen sich auch immer abzeichnen würden. Ein Echo auf die weiße Kriegsfahne Te Kootis und die Fahnen der Vereinigten Stämme Neuseelands.4 Ein bisschen weiß ich schon Bescheid, nicht mehr als du. Unter dem Wimpel, Ngā Tamatoa. Bärte, Anstecker, schwarze Baretts, Abzeichen der Bruderschaft. Endlich, Sichtbarkeit. Da die Fotografien umherreisen, werden Einzelheiten zu Emblemen. Schwarz und Weiß werden zu Symbolen.
„Dokumentarfotografie ist tot“, sagten die Künstler. Aber schau, sie hat uns elektrisiert! Fotografien sind Seelendiebe, sagten unsere Vorfahren. Doch selbst wir, die wir die Fotografie fürchten, müssen zugeben, dass sie bisweilen von Nutzen ist. Wie diese hier: Um mauri oder die Lebenskraft der Fotografierten festzuhalten.
[Das]mauri kann nicht aus dem Bild herausgelöst oder von ihm getrennt werden, nur weil der Fotograf es weit von seinem Ursprung entfernt.
Um uns an unsere Verantwortlichkeit zu erinnern. Um es heimzubringen:
Ein Fotograf, der zu einem marae zurückkehrt, um die anderen an den Ergebnissen der gemeinsamen Fotografie teilhaben zu lassen, hält sich an [das] Prinzip [der Wechselseitigkeit von Angesicht zu Angesicht].5
Auch hier, John Miller, unsichtbar. Macht seinen Standpunkt klar, bezieht alle, die unsichtbar sind, mit ein. Lädt uns ein zu fragen, die Zeiten hindurch: Wie sehen unsere Beziehungen aus? Darauf möchte ich antworten. Ich bin in jenem Jahr geboren worden. 1975 in London, meine Eltern Hippies, die sich der Politik Aotearoas fernhielten und im Hinterhof der Queen wohnten. Dieser tausendäugige Aal entrollte sich, als ich, ein Glasaal, schlüpfrig und nackt in meinem Zuber auf dem Fußboden schwamm. Ihr mögt jetzt sagen: Wir möchten sehen, wissen, verstehen. Wir möchten Bildunterschriften. Weil Fotografien Bildunterschriften brauchen. Oder weil wir vergessen haben, schleichend von Text und aufgeschriebener Erinnerung abhängig geworden sind. Und von jenen, an die sich Whina richtet? Keine Antwort. Sie schinden Zeit, die Regierung wechselt, Te Roopu spaltet sich auf, verliert an Stärke … Ein Anfang aber ist gemacht.
Whenua
In unserer Revolution eine Wende. Vom Marsch über das Land zur Besetzung des Landes. Einwärts. Heimwärts für die Ngāti Whātua o Ōrākei, den Stamm der Auckland-Region. Oh, so viele Morgen. Die Geschichte? 1850 „verkaufen“ die Ngāti Whātua unter Heranziehung einer heterogenen, auf Gabe, Partnerschaft und utu beruhenden Ökonomie 3.000 Morgen Stammesland an die Krone. Das ist nicht genug. 1900 beschneidet die Krone den Stamm auf ein Stück papakāinka in der Ōkahu Bay am Takakaparawhā Bastion Point. 1950 wird der Stamm auch von dort noch vertrieben. Häuser zerstört, wharenui bis auf den Boden niedergebrannt. 1977 macht die Krone genau dieses Stammesgebiet zu einem Wohnungsbauareal für Besserverdienende. Landlos und wütend gehen die Ngāti Whātua o Ōrākei dazwischen und besetzen 507 Tage lang friedlich das Gebiet, bis Mannschaften der Polizei, der Armee und der Marine sie erneut mit Gewalt aus dem Areal vertreiben – jedes einzelne Gebäude wird von Bulldozern plattgemacht.6 Eine Bildunterschrift? Margs Hütte, Takaparawhāu Bastion Point, 1977.
Geschichte in Stichworten. Was ist mit Tātahi? Was mit Āpihai Te Kawau?7 Und wer ist Marg? Nicht mein Stamm, nicht mein taonga, keine Geschichten, die ich zu erzählen hätte, denn sie gehören denen, die sich an diese Namen erinnern. Aber mir wurde das Bild in die Hand gegeben, vielleicht enthält es mauri von Marg und ihrem Takaparawhāu whare – ein heißes Eisen. Ohne es zu wollen, gerate ich in den Tanz der Verantwortlichkeit. Warum sollte ich es noch länger behalten?
Kehren wir zum Sichtbaren zurück, zu dem, was dir gegeben wurde, zur Oberfläche des Bildes? Dem Fotografen vertrauen, dem dieser Moment anvertraut wurde? Zu dem Vergnügen der erhebenden Farben, der aufständischen Farben und den kollagierten Glasfenstern? Wann ist eine Vermessungsstation ein Zuhause? Wenn sie ein Fundament im Erdboden hat und vier Wände. Wenn sie dahockt und das Vermessen vergisst. Wenn sie von aroha bewohnt ist. Wenn sie nach Ranguini greift, nach Papatūānuku. Te Kootis Kreuz flattert wieder. Fülle, was entleert wurde und sieh zu, wie die Farbe wieder hineinströmt. Sag mir nicht, dass dies nicht die schönste Hütte ist, die du je gesehen hast. Bring sie nach Hause, wenn du kannst.
Gib auf die Namen acht. Von den weinenden Wassern Waitangis zu dem blutenden Himmel Rangitots, der Vulkaninsel direkt vor Takaparawhāu. Unsere Ortsnamen blickten nach vorn und nach hinten. Der vollständige Name dieses Bergs lautet Te Rangi-i-totongia-ai-te-ihu-o-Tamatekapua, Der-Tag-an-dem-Tamatekapuas-Nase-blutig-geschlagen-wurde. Tamatekapua, die vielfarbige Wolke, Kapitän des Te Arawa-Kanus, bekam seine blutige Nase von meinem eigenen tupuna, Hoturoa, Kapitän unseres Tainui-Kanus, bei einer heftigen Auseinandersetzung um Hoturoas Frau verpasst. Ist dies auf der Fotografie etwa ein Migrationskanu, vielleicht das Māhuhu-ki-te-Rangi des Ngāti Whātua-Stamms? Heraufbeschworen von zwei mokopuna die in ihr whakapapa eintreten, die sich an waka, maunga und moana festhalten, bereit abzulegen, wenn der Ruf erschallt? Nur für mich namenlos paddeln sie im Schatten ihres maunga voran.
Nicht meine Geschichten, aber die Schnappschüsse aus meiner Kindheit sehen genauso aus – wir sind gleichaltrig – und ich flechte mich hinein, bis die Verbindung wächst. Ich war zwei, als ich mit meinen Eltern auf einem anderen waka rererangei nach Aotearoa zurückkam. Fotos von der besetzten Londoner Wohnung und dem kleinen Nackedei, der in einem Zuber gebadet wurde, beunruhigten Oma und Opa. Sie griffen tief in die Tasche, kauften Tickets und beorderten uns vom Zentrum an die Peripherie des britischen Imperialismus zurück. Fotografien haben Macht. Wir ließen uns in Tāmaki Auckland nieder, einen Steinwurf von Takaparawhā, und die Gespräche zwischen meinen Eltern und ihren Freund_innen drehten sich nun um hiesige Angelegenheiten. Bastion point. Fast drei, und meine Ohren begannen sich einzustimmen, denn (anders als „Land March“) bringen solche Worte die Glocken der Erinnerung zum Erklingen. Ein Kind, das in Dinghis spielt, Rangitoto am Horizont sieht, auf seiner eigenen langwierigen Reise zu seinem whakapapa und tūrangawaewae. Inzwischen rückt Tag 507 näher.
Tāngata
Wenn eine Fotografie Text benötigt, hier ist welcher: Amandla. Gemeinsam gegen Rassismus. Amandla, ein Zulu- und Xhosa-Wort, das „Macht“ bedeutet und zum Schlachtruf des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) und seiner Verbündeten gegen die Apartheid in Südafrika wurde. Es klingt in mana mit, unserem eigenen Wort für Macht. Sollte der Hunger noch nicht gestillt sein, eine Bildunterschrift: Transparent der African Freedom Fighters, Demonstration anlässlich der Springbok-Tournee, Auckland 1981. Aber eine Leere bleibt bestehen, das Bild bleibt vage. Das anonyme Gesicht, das man sieht, unterbricht lediglich die Abschirmung der anderen. Hier verdoppeln sich die fotografischen Oberflächen zu Blockaden. Die Linien sind anders gezogen. Die Verbindung lässt sich nicht so ohne Weiteres herstellen. Was hat sich seither geändert?
Auf der Springbok-Rugby-Tournee 1981 in Neuseeland protestierten sowohl Māori und Pākehā aus Sympathie mit den schwarzen Südafrikaner_innen, die unter der Apartheid litten und aus Wut darüber, dass Māori-Spieler (als Nicht-Weiße) lange von Wettkämpfen in Südafrika ausgeschlossen waren. Die kulturelle Gemengelage wurde aufgerüttelt, der Staat zeigte Risse, schlug zurück. Helme und Schilde waren angesagt. Es ging nicht mehr länger bloß um lokale Themen, geschweige denn um Māori-Angelegenheiten. Internationale Beziehungen standen auf dem Spiel. Wie Miller feststellt, „tauchen in keinem meiner Māori-Fotos die Schlagstöcke der Bereitschaftspolizei oder der Abschuss von Tränengasgranaten – oder Schlimmeres – auf“.8 Māori-Selbstbestimmung, Māori-Souveränität wurde in den Medien und auch andernorts unter den Tisch , und so ist „jede Bedrohung für den Einheitsstaat erfolgreich abgeleugnet worden.“9 Millers Archiv der Springbok-Tournee (das sechs Veranstaltungsorte auf der Nordinsel abdeckt) dokumentiert mobilisierte Massen, Transparente und Plakate, umgerissene Zäune und umgeworfene Autos, Prügel, eine aggressive Polizei, die Polarisierung der Nation.
Richte die Aufmerksamkeit lieber darauf: Am 12. September 1981, auf den Tag genau vier Jahre, nachdem Steve Biko, der in Prätoria in Polizeigewahrsam war, brutal aus dem Leben befördert wurde, lief der dritte und entscheidende Springbok All Black-Wettkampf in Auckland ab. Biko war jedoch präsent.
Die Schwester meiner Mutter, die in Südafrika gelebt hatte, war unter den Teilnehmer_innen des Waikato-Protestmarsches, einer von hundert abgehaltenen, mit dem die Absage des Spiels erzwungen wurde, ein Erlebnis, das sie tief berührte. 1985 dann kam ein Biko-Transparent in unsere Heimatstadt, das ländliche Matamata, wo Mama und Tante aufgewachsen waren und Oma noch lebte – eine weitere Südafrika-Rugby-Tournee, ein weiterer Protest, der dieses Mal gewaltsam niedergeschlagen wurde. Matamata war und ist eine Rugby-Stadt.
Ich wurde jedenfalls als Māori aufgezogen, mit einem tūrangawaewae, zu dem ich meinen Sohn bringen kann – der auch Afrikaner ist. Die Glücklichen. Wie sollte dies nicht miteinander zusammenhängen? Wie sollten diese Bilder nicht Teil eines kollektiven Erinnerns sein, das den Vertrag lebendig gehalten, Werte wie reo, whenua, tāngata hochgehalten hat – auch wenn sie von Pākehā-Denkweisen und -Ansichten überlagert sind? Ein Text aus Fragen? Wie kann ich an dieses „vor meiner Zeit“ anknüpfen? Jenseits des Geschriebenen und in Bildern Aufgezeichneten. Jenseits der hegemonialen Narrative des Dualismus, der Regime und Revolutionen, Polizeistaaten und Aufstände? Jenseits westlicher Dokumentations- und Kunstkonventionen. Es genügt nicht, Dokumente mit Bildunterschriften zu versehen. Genügt nicht, die Komposition ästhetisch zu lesen auf ihre punctum/s hin. Kann ich mit meinen spät erlernten, noch kolonialisierten Māoritanga dabei helfen, diese taonga oder whakapapa, meine oder andere, zu verknüpfen, dabei helfen, das mauri zu bewahren? Mehr als ein Zuschauer oder Schriftsteller werden, ein Zeuge auch, eine Beziehung, ein liebevoller Halt, lebendig für die taonga-Dokumente, und dabei helfen, diese Menschen, deren Bilder so nützlich gewesen sind, nach Hause zu bringen, dorthin, wo ihre Geschichten und Namen gekannt werden?
Miller hat mir kürzlich geschrieben, auf eine bescheidene aber begeisterte Art, dass es Möglichkeiten gäbe, einige seiner Waitangi-Fotografien nach Waitangi und seine Parewahawaha-Versammlungshaus-Fotografien nach Bulls zurückzubringen. In den Worten des Māori-Filmemachers und Schriftstellers Barry Barclay:
Werden die Dinge, die wir wertschätzen, […] von uns nicht taonga genannt? […] Schätze, manche, mit einem mauri? […] Einst hatten wir taonga. Einst hatten wir Hüter. Einst hatten wir Bewahrer.10
Miller ist ein Bewahrer.
Glossar
A
āhua · Aussehen, Ähnlichkeit
Aotearoa · Māori-Name für Neuseeland
aroha · Liebe, Zuneigung, Mitgefühl
H
hapū · Unterstamm
hīkoi · Marsch, Fußweg, Wanderung, Reise
K
Kaikaranga · Rufer (des karanga)
karanga · zeremonieller Willkommensruf
kāwanatanga · Statthalterschaft, Obrigkeit, Herrschaft, Regierung
kōhanga reo te · Vorschule, in der Māori gesprochen wird, wörtlich: Sprachnest
kōrero · Rede, Erzählung, Geschichte, Unterhaltung
korowai · Mantel aus der muka-(Flachs-)Faser
kōwhaiwhai · gemalte Spiralornamente
M
mahinga kaimoana · Platz, an dem Meeresfrüchte gesammelt werden.
Māhuhu-ki-te-rangi · Ahnenkanu der Ngāti Whātua
mana · Herrschaft, spirituelle Macht (die den Menschen von den atua, den Göttern verliehen wird)
manaakitanga · Gastfreundschaft, Großzügigkeit, Unterstützung und Fürsorge
Māoritanga · Māori-Kultur, -Überzeugungen, -Gepflogenheiten, -Lebensweisen
marae · Hof oder offenes Feld vor einem wharenhui, wo formale Begrüßungen und Diskussionen stattfinden; Gebäudeensemble rings um dieses Feld
marae ātea · wie vorstehend, aber insbesondere der Hof selbst (nicht das Gebäudeensemble)
maunga · Berg
mauri · Lebenskraft, Lebensessenz, materielles Symbol eines Lebensprinzips, Gegenstand, in dem die Essenz vorkommt
moana · Meer
mokopuna · Enkel, Abkömmling
N
Ngā Puhi · Stammesgruppe der Northland- Halbinsel
Ngā Tamatoa · „The Warriors“ – eine Māori- Aktivistengruppe, die für Māori- Rechte eintrat, Rassendiskriminierung bekämpfte und Verletzungen des Vertrags von Waitangi anprangerte. Hauptsächlich in den 1970er Jahren aktiv
Ngāti Whātua · Stammesverband aus dem Gebiet zwischen Kaipara und Tāmaki Makaurau (dem heutigen Auckland)
Ngāti Whātua o Ōrakei · ein hapū der Ngāti Whātua, sein rohe (sein Gebiet) liegt hauptsächlich in Tāmaki Makaurau (dem heutigen Auckland)
P
Pākehā · Neuseeländer europäischer Abstammung
papakāinga · Zuhause, Dorf, Gemeindeland
Papatūānuku · Erde, Mutter Erde, Frau von Ranginui
pouwhenua · Ober-tohunga, -Priester, Führer; Grenzpfosten
R
rangatira · Häuptling, Anführer, adlige, geachtete, hochstehende Person
Ranginui · Himmel, Himmelsgott, Papatūānukus Gemahl
Rangitoto · Inselvulkan im Hafen von Waitemata, vollständiger Name: Te Rangi-i- totongia-ai-te-ihu-o-Tamatekapua – Der-Tag-an-dem-Tamatekapuas-Nase-blutig-geschlagen-wurde.
reo · Stimme, Sprache, Zunge
rōpū (var. Roopu): Gruppe, Gesellschaft, Gefolge
T
Tainui · Ahnenkanu mehrerer Stämme, darunter jener aus Waikato und dem King Country
Takaparawhāu · Bastion Point: den Waitemata Harbour überblickender Küstenbereich in Orakei, Auckland
tāngata · Menschen
taniwha · Wassergeist, Ungeheuer, mächtiger Anführer; taniwha kann vielfältige Formen annehmen, darunter auch die des Aals
taonga · Waren, Schatz, alles von Wert
tautoko · Unterstützung, Rückhalt, Vereinbarung
te ao Māori · Māori-Welt
te Arawa · Ahnenkanu von Stämmen aus dem Rotorua-Maketū Gebiet
te Hāpua · die nördlichste Ansiedlung auf der Nordinsel Aotearoas
te Whaea o te Motu · Mutter der Nation
Tiriti o Waitangi · Vertrag von Waitangi; der Vertrag wurde am 6. Februar 1840 von Vertretern der Britischen Krone und verschiedenen von der Nordinsel Neuseelands kommenden Māori-Häuptlingen unterzeichnet und mündete letztendlich im Mai 1840 in die Erklärung der Britischen Herrschaft über Neuseeland.
tupuna · Vorfahre
tūrangawaewae · Ort, an dem man durch Familie und whakapapa ein Wohnrecht und Zugehörigkeitsrecht besitzt.
U
utu · Kosten, Wechselseitigkeit
W
waka · Kanu
waka rererangi · Flugzeug (wörtlich: Kanu, das im Himmel fliegt)
whaikōrero · Redekunst, eine Rede halten
whakapapa · Genealogie, Abstammung; das Aufsagen von Genealogien (wörtlich: in Schichten stapeln)
whanaungatanga · Verwandtschaft, Familienbande, Familie
whare · Haus
wharenui · Versammlungshaus, Haus der Vorfahren
whare tangata · Haus der Menschen, Schoß
whare tupuna · Haus der Vorfahren, Versammlungshaus
whenua · Land
Māori-Kontrolle über Māori-Dinge
von Jon Bywater
Den Seefahrern, die als erste das große, Ozeanien umfassende Inselmeer besiedelten, war der europäische Kompass unbekannt. Die Bedeutung jedoch, die die Positionen der aufgehenden und untergehenden Sonne – und die mittig davon liegenden Punkte, ausgerichtet zudem (wie für die Seefahrer des Mittelmeers auch) an den Winden sowie an Gezeiten und dem Lauf der Sterne – für sie einnahm, bringt es mit sich, dass in zahlreichen polynesischen Sprachen das Wort tonga mehr oder weniger genau dem Wort Süden entspricht.11
Lapita-Reisende brachen einst aus dem heute als Südostasien bekannten Gebiet zu Erkundungen in ihren Südosten auf, und zwar gegen die vorherrschenden Winde, um sich die Rückfahrt leichter zu machen – von welchen Orten, die man zu finden hoffte, auch immer. Die allgemeine Stoßrichtung dieser Entdeckungen, die von ihnen und ihren polynesischen Nachfahren unter Entbehrungen ausgekundschaftet wurden, spiegelt sich in noch heute gebräuchlichen Namen wieder: Tonga, die südlichste Inselgruppe der zentralpolynesischen Inseln, sowie Rarotonga, die wichtigste Insel der Cook-Inselgruppe – sie verdankt ihren Namen der Hauptrichtung, aus der sie zunächst angesegelt wurde („raro“ bedeutet „unter“ oder, in der Seemannssprache, „leewärts“).
Auch der indigene Māori-Name der südlichsten Inseln in jenem Ozean, den der portugiesische Entdecker Ferdinand Magellan Pazifik nannte, kündet von einer Seefahrer-Perspektive: Aotearoa, „das Land der langen, weißen Wolke“. John Miller fotografierte 1981 in Auckland, Neuseeland, ein frisch gemaltes, langes orangefarbenes Graffito, das auf diese geläufige Übersetzung anspielt. Es zeigt mit dem Finger auf die generelle „Unrichtigkeit“ der später angekommenen weißen Siedlerbevölkerung, die heute die Mehrheit stellt, und gezielter noch auf die unausgesprochene Unterstützung des Apartheidregimes Südafrikas durch einen Staat, der in jenem Jahr das südafrikanische Rugby-Team zu einer Tournee auf seinen Boden einlud.
Das Bild dokumentiert, typisch für Miller, öffentlichen Raum, der von einer nicht-institutionellen Stimme beansprucht wird. In seinem Archiv finden sich jedoch überwiegend Menschen abgebildet, die sich in Gruppen treffen, diskutieren und protestieren. Seine Reportage über die Eröffnung des whare tupuna Parewahawaha 1967 in Bulls, nördlich von Wellington, gewährt einen Einblick in eine besondere, sein Werk prägende Form der Gemeinschaftlichkeit. Bei der Gemeinschaftseinrichtung, die wir hier sehen, handelt es sich um ein modernes marae „ein Symbol der Stammesidentität und -solidarität“.12 So aufgefasst, ist die Gemeinschaft, wie sie sich in ihren handgestrickten Sachen, Hüten und kurzgeschorenen Nacken und Schläfen um das marae ātea drängt und an diesem Ort Zusammenhalt findet, auf Begriffen und Gepflogenheiten im Kontext von Eigentum und Verantwortung gegründet, die durch whakapapa und whanaungatana strukturiert werden.
Anfang des Jahres, in dem Miller Parewahawaha fotografiert hatte, machte er das erste Mal Aufnahmen von einer politischen Demonstration, deren Anlass der Besuch des Premierministers Südvietnams, Nguyễn Cao Kỳ war.13 Er ging noch zur Schule und hatte sich den Fotoapparat, den er dafür benutzte, von seinem Onkel ausgeliehen. Die kulturelle Landschaft Neuseelands, die zu dokumentieren er sich angeschickt hatte, häufig an dem Knotenpunkt zwischen te Ao Māori und politischer Aktion,14 hatte zum damaligen Jahreswechsel mit dem Māori Affairs Amendment Act (Nachbesserung zum Gesetz für Māori-Angelegenheiten) einen Wendepunkt erreicht. Es war im Grunde genommen ein letzter Strohhalm. Dazu angelegt, die Machtbefugnisse des Staates beim Erwerb von Māori-Land auszuweiten, wurde es von den Māori als „der letzte Landraub“ bezeichnet, als weiterer Schritt in der langen Geschichte der Enteignungen seit Beginn der kolonialen Herrschaft 1840. Der Gesetzesentwurf, obwohl einhellig von lokalen, regionalen und nationalen Māori-Organisationen abgelehnt, wurde als Gesetz verabschiedet. Angesichts des Talents der Regierung, bewährte Beratungskanäle mit den Māori zu ignorieren, wurde eine aufstrebende Generation politischer Führer durch die Kenntnis internationaler, gegen Diskriminierung, Ausbeutung und Staatsgewalt gerichteter Massenorganisationen – darunter auch die gegen den Vietnamkrieg sowie die Bürgerrechtsbewegungen der Vereinigten Staaten – dazu inspiriert, Protestaktionen und Strategien zu starten und die Verunsicherung der Menschen in Kauf zu nehmen, um verstanden zu werden.15
Die Gruppe Ngā Tamatoa wurde das öffentliche Gesicht einer neuen Welle des Māori-Aktivismus.16 Das Transparent, das sie bei dieser frühen Demonstrationen an die Säulen des Parlamentsgebäudes festgebunden hatte, packt einen bereits lange bestehenden Anspruch auf Selbstbestimmung in eine modernere Sprache. Ziel der Aktion war es, eine Petition abzugeben, die die Aufnahme der Māori-Sprache in das nationale Schulcurriculum forderte. In die Kamera schaute Tame Ite aus dem Stamm der Ngāi Tūhoe, einer der wenigen aus seiner Generation, die noch mit Māori als Muttersprache aufgewachsen waren.17
Ngā Tamatoa rief auch einen eigenen Tag der Māori-Sprache aus, te Ra Nui o Te Reo Māori, der bei der Demonstration in der St. Kevins Arcade, Auckland, bekannt gemacht wurde. Dort wurde auf Māori dafür eingetreten, „Māori zu lernen“. Die Idee eines Nationaltages wurde von offizieller Seite aufgegriffen und als te Wiki o Te Reo Māori zu einer Woche der Māori-Sprache umgewidmet; sie wird seit 1975 jedes Jahr abgehalten. Energien wie diese führten 1982 wiederum zu der Gründung der ersten kōhanga reo und schließlich zu dem Māori Language Act (Gesetz zur Māori Sprache), das 1987 Māori nachträglich als eine der Amtssprachen Neuseelands festschrieb.18
Auch Landrechte wurden schließlich anerkannt. Ngā Tamatoa machte den Jahrestag der Unterzeichnung des te Tiriti o Waitangi zu einem Politikum. 1971 verbrannte die Gruppe eine Fahne auf dem Gelände der Vertragsunterzeichnung in Waitangi, ein Ereignis, bei dem Miller zugegen war und fotografierte. Später inszenierte sie verschiedene einfallsreiche Aktionen bei offiziellen Feierlichkeiten und propagierte den Slogan „Der Vertrag ist ein Betrug“ als Statement über die anhaltende Missachtung der Vertragsvereinbarungen durch die Regierung. 1973 zum Beispiel trugen Gruppenmitglieder schwarze Armbinden als Ausdruck der Trauer über den Verlust von Māori-Land. Durch ihre Präsenz in den Medien und den direkten Kontakt zu Politikern halfen sie, das öffentliche Bewusstsein wachzurütteln, was 1975 in dem wegweisenden Māori-Landmarsch unter der Parole „nicht ein Morgen mehr Māori-Land“ seinen Höhepunkt fand.
Miller fotografierte den hīkoi am letzten der dreißig Tage, die der Marsch dauerte, als er, nachdem er die Nordinsel der Länge nach durchwandert hatte, in Wellington eintraf. Der Marsch wurde durch die manākitanga von zwei Dutzend marae entlang der Route möglich gemacht, die Unterkunft für die fünfzig die ganze Reise absolvierenden Hauptmarschierer und ihre Unterstützer boten. Diese Aktion brachte die Māori ungeachtet ihrer vielfältigen politischen Differenzen zusammen und gewann auch eine breites Fundament an Unterstützung durch die Pāhekā. Zusammen mit Protesten gegen genauer bestimmtes historisches Unrecht, darunter die Besetzung umstrittenen Lands am Takaparawhā Bastion Point (1977–1978) und die des Whāingaroa Raglan Golfplatzes (1978), führte der Landmarsch 1985 zu der Bevollmächtigung des Waitangi Tribunals – zehn Jahre nach dem es eingesetzt worden war –, nachträgliche, aus Vertragsbrüchen des Tiriti Waitangi erwachsene Ansprüche zu prüfen. Diese Ansprüche werden seit 1992 geregelt und führten zur Rückgabe von Land und zu finanziellen Kompensationen für die iwi.19
Wenn so vieles in dieser Kürze zusammenfasst wird, läuft man rasch Gefahr, die angesprochenen Themen als gelöst zu darzustellen und das Leiden dahinter herunterzuspielen. Die Protest-Fotografie als Genre birgt eine paralleles Risiko. Haltungen einzufangen, die heute auf der richtigen Seite der Geschichte zu sein scheinen, denen möglicherweise der Glamour von Mode und Frisuren innewohnt, wie sie heute nicht mehr üblich sind, können den Betrachter dazu verführen, die Kämpfe, deren Zeugen die Bilder sind, zu romantisieren. Zwar müssen auch Abbildungen expliziter Gewalt kritisch betrachtet werden, ein Bild aber wie das, auf dem Demonstranten während der Springbok Tournee 1981 von der Polizei verprügelt werden, erinnert daran, welchem Risiko sich ziviler Ungehorsam aussetzt. Da Sport, und insbesondere Rugby, eine zentrale Stelle in der Nationalkultur einnimmt, generierte er starke emotionale Aufwallungen. Die roten Spritzer in dieser Aufnahme sind kein Blut, sondern Farbe, aber 2000 Menschen wurden festgenommen, manche davon schlimm verletzt, und einige landeten im Gefängnis.20
Auch fünfzehn Jahre später sind die 1981 von der Polizei gegen die Aufstände eingesetzten Gerätschaften wieder in Millers Aufnahme von Demonstranten zu sehen, die am Waitangi-Tag versuchen, über eine Straßenbrücke auf das Gelände der Vertragsunterzeichnung zu gelangen.21 Die von den Demonstranten geschwungene, 1990 entworfene Fahne steht für te tino rangatiranga; eine Schlüsselaussage für das Verständnis der Māori-Forderungen zur Selbstbestimmung. Dabei handelt es sich um ein Zitat aus dem zweiten der drei Artikel des Tiriti. Während der erste Artikel in der englischen Version festhielt, dass die Māori „Souveränität“ abtreten, wurde dies in der Māori-Fassung als „kāwanatanga“ wiedergegeben, eine Ableitung der Māori-Transliteration von governor, kāwana, die eher auf Regierung oder Verwaltung hindeutet. Der zweite Artikel versprach „Besitz“ ihres Lands, in Māori jedoch „te tino rangatiratanga“ – absolute Oberhoheit, was offenbar näher bei Souveränität liegt – über ihr Land und alles, was für sie von Wert ist („o ratou wenua o ratou kainga me o ratou taonga katoa“).22 Die Bedeutung der Unterschiede zwischen den beiden Texten war lange umstritten. 2014 allerdings kam ein Bericht des Waitangi Tribunals zu dem Schluss, dass die rangatira, die im Februar 1840 den te Tiriti unterzeichnet hatten, nicht ihre Souveränität abgetreten hätten.23
Nach einem Jahrzehnt der Vertragsschlichtungen urteilte das neuseeländische Appelationsgericht, dass die Māori-Gebiete im Küstenvorland und auf dem Meeresboden im Sinne traditioneller Landrechte beanspruchen können. Als Reaktion schlug die Regierung eine Gesetzgebung vor, die dieses Recht ausgeräumt hätte. Hier sehen wir Marschierer auf einem im darauffolgenden Jahr organisierten hīkoi, der symbolisch der Aktion von 1975 nachgebildet war und den Widerstand gegen das Gesetzesvorhaben zum Ausdruck bringt. Cyril Chapman, der auf dem letzten Abschnitt des Marsches den pouwhenua trug, welcher an der Spitze des hīkoi von 1975 mitgeführt wurde, hält einen laminierten Druck von sich selbst, den ihm Miller geschenkt hatte, in der Hand. Trotz der Empörung wurde das Gesetz das Küstenvorland und den Meeresboden betreffend verabschiedet.
Was den Geist des Ereignisses angeht, stellen Millers Fotografien von 2004 ein bewusstes Echo auf seine Reportage von 1975 dar, wobei sein Werk als Ganzes von der Kontinuität und der Wucht des Wissens, der Erfahrung und der Fertigkeiten zeugt, die zusammengenommen eine starke Widerlegung für die Verlautbarungen der Politiker liefern, dass es jenen Leuten, die immer wieder ihre Stimme erheben, an ehrlichen Absichten oder wohlbegründeten Anliegen fehle.24
So eingesetzt, stellt es sich durch seine würdigende und gedenkende Funktion in den Dienst der an den Rand Gedrängten. Überdies kann Millers Vorgehen durch das Konzept des whakapaka verstanden werden, insofern es Abstammungslinien, Abfolgen nachzeichnet und dem Faktum, wer wo, wann und mit wem war, Gewicht beimisst.
Trifft man Miller persönlich, so ist er ein unermüdlicher Geschichtenerzähler. Seinen Informationen wird er mit einem detaillierten Erinnerungsvermögen gerecht. Als ich mit ihm unterwegs war, um das diesjährige Waitangi-Wochenende mit einem Campingaufenthalt am Te Tii Marae zu verbringen, deutete er auf eine Stelle, an der er und seine Mutter auf einer Tramptour in den Norden angehalten hatten, um patriotisch, rot, weiß und blau gefärbte Eissorten, die speziell für den Besuch der Queen 1963 hergestellt worden waren, auszuprobieren. Diese Fahrt haben wir mit dem Künstlerkollektiv Local Time25 unternommen, um an den drei Tagen, an denen das Tii Marae für die Öffentlichkeit zugänglich war, eine Auswahl von Millers Protestfotografien vorzustellen, und die Unterhaltungen, die er dort mit den Besuchern führte, darunter auch etliche, die auf den Fotografien abgebildet waren, führten mir vor Augen, wie er, um zu dokumentieren, was er für wichtig hielt, auf Reisen ging, neben den Teilnehmern schlief und mit ihnen aß. Die Menschen, die auf seinen Fotografien erscheinen, sind das erste Publikum für seine Arbeit. Als Bilder haben sie, jedes einzelne, zugleich die Kraft, verschiedene Gemeinschaften heraufzubeschwören, da sie uns zusammenhalten, uns Zugang zu Orten und Zeiten anbieten, die wir andernfalls außerstande wären, so deutlich zu erblicken.
Aus dem Englischen übersetzt von Dirk Höfer
1 Graham Lindsay, Thousand-eyed Eel: A Sequence of Poems from the Māori Land March 1975, Taylors Mistake, Christchurch: Hawk Press 1976, o. S.
2 Pita Turei, Te Araroa: Tales from the Trail, Staffel 2, Episode 3, Scottie Productions, 2015.
3 Frauen, die whare tangata, haben die Macht, vom Heiligen ins Profane und wieder zurück zu gehen, die Macht des Übergangs. Das ist wesentlich für unsere Rolle als kaikaranga. Hier jedoch vollzieht Whina Cooper ein kōrero, kein karanga. Viele glaubten, Whaikōrero sei eine Männerdomäne – eine Gepflogenheit, die Whina infrage stellte.
4 Te Kooti Arikirangi Te Turuki (ca. 1832–1893) war ein Māori-Führer und Visionär, Gründer der Ringatū-Religion und Guerillakämpfer. Er verwendete eine Reihe unterschiedlicher Fahnen als Machtsymbole, darunter die Te Wepu und die Kriegsfahne Te Pōrere, auf beiden war eine Mondsichel und ein Kreuz abgebildet.
5 Natalie Robertson, „Can I Take a Photo of the Marae? Dynamics of Photography in Te Ao Māori“, in: UNFIXED: Photography and Postcolonial Perspectives in Contemporary Art, hrsg. v. Sara Blokland und Asmara Pelupessy (Hg.), Heijningen, Netherlands: Jap Sam Books 2012, S. 96–105, hier S. 103.
6 Wenn der Landmarsch seinen Teil zur Entstehung des Waitangi-Tribunals beigetragen hat, so wurde die Untersuchungskommission durch die Situation am Takaparawhāu Bastion Point die Macht gegeben, Anhörungen zu historischen Landforderungen vorzunehmen. Die Forderung des Ngāti Whātua Stammes wurde als erste gehört. 1988 folgte die Regierung der Empfehlung des Waitangi Tribunals, Takaparawhāu an die Ngāti Whātua zurückzugeben. Marg Jones, eine Pākehā-Unterstützerin aus Australien, machte sich die Vermessungsstation des Lands and Survey Departments als Besetzungsunterkunft zu eigen. George McMillan, seinerzeit Bevollmächtigter der Kronlande, missverstand diese Verwendung und prangerte, als er von einer Inspektionsreise in sein Büro zurückkehrte, wutentbrannt an, dass sie als Toilette verwendet wurde. Aus einem Gespräch mit dem Künstler im Mai 2017.
7 Beides wichtige Vorfahren des Ngāti Whātua-Stamms mit Verbindungen zur Geschichte des Takaparawhā.
8 John Miller, „John Miller: Media Peace Award Recipient 2003“, in: Photoforum 69, Dezember 2003. Online: www.photoforum-nz.org/index.php?pageID=27.
9 Ebd.
10 Barry Barclay, Mana Tuturu: Māori Treasures and Intellectual Property Rights, Auckland: Auckland University Press 2005, S. 65.
11 Malcolm Ross, Andrew Pawley und Meredith Osmond, The Lexicon of Proto Oceanic: The Culture and Environment of Ancestral Oceanic Society, Bd. 2: The Physical Environment, Canberra: ANU 2007, S. 136–137.
12 Cleve Barlow, Tikanga Whakaro: Key Concepts in Māori Culture, Oxford: Oxford University Press 1991, S. 73.
13 John Miller, „John Miller: Media Peace Award Recipient 2003“, Photoforum, 69, Dezember 2003. Online: www.photoforum-nz.org/index.php?pageID=27.
14 Millers Arbeiten als unabhängiger Fotojournalist stellen neben dem Werk seines Kollegen Gil Hanly eine außergewöhnlich umfassende Berichterstattung der politischen Aktivitäten der letzten fünfzig Jahre in Aotearoa dar. Siehe Nina Seja, PhotoForum at 40: Counterculture, Clusters, and Debate in New Zealand, Auckland: Rim Books 2014, S. 91–105.
15 Ranginui Walker, Ka Whawhai Tonu Matou: Struggle Without End (1990), Neuauflage, Auckland: Penguin 2004, S. 203–209.
16 Die Black Panther Party stand für die unmissverständliche Haltung von Ngā Tamatoa, den jungen Kriegern, Pate, und ausgesprochener noch für ihre Bundesgenossen, die Polynesian Panthers. Siehe Melani Anae, Lautofa Iuli und Leilani Tamu (Hrsg.), Polynesian Panthers: Pacific Protest and Affirmative Action in Aotearoa New Zealand 1971–1981, Wellington: Huia 2015; Walker, Ka Whawhai Tonu Matou, S. 209–212.
17 Mit dem Native Schools Act von 1867 (Gesetz für Eingeborenenschulen) und dem Native Schools Code von 1880 (Vorschrift für Eingeborenenschulen) wurde Māori in den Schulen nach und nach aus dem kolonialen Schulsystem englischer Prägung, wie es im Jahrhundert zuvor üblich war, entfernt. In der Folge wurden Māori-Kinder bestraft, wenn sie in der Schule ihre Muttersprache gebrauchten, und die Verstädterung der Māori-Bevölkerung löste sie noch weiter aus Umfeldern, in denen Māori gesprochen wurde.
18 Aroha Harris, Hīkoi: Forty Years of Māori Protest, Wellington: Huia 2004, S. 44–57.
19 Ebd., S. 58–87.
20 Ein vollständigerer Blick auf die Ereignisse wurde unmittelbar 1981 veröffentlicht (siehe Thomas Newnham, By Batons and Barbed Wire: A Response to the 1981 Springbok Tour of New Zealand, Auckland: Real Pictures 1981) und später, 1984, brachte Geoff Chapple, ein unabhängiger Journalist, mit 1981: The Tour, Wellington: Reed 1984, einen ausführlichen Bericht heraus. Die Proteste sind ein wichtiges Beispiel für den zweigleisigen Charakter der Kommunikation zwischen dem Aktivismus in Aotearoa und der übrigen Welt. Sie zeitigten auch auf internationaler Ebene Wirkung, insbesondere als die Südafrikaner die Absage des Waikato-Spiels live am Fernseher miterlebten. Nelson Mandela erklärte 1995 bei seinem Besuch in Neuseeland gegenüber Dame Catherine Tizard, dass es den Gefangenen auf Südafrikas Robben Island, als sie hörten, die Proteste hätten die Absage des Spiel herbeigezwungen, vorkam, „als sei die Sonne aufgegangen“. Siehe Trevor Richards, Dancing on Our Bones: New Zealand, South Africa, Rugby and Racism, Wellington: Bridget Williams Books 1999, S. 249–253.
21 Auf die anhaltenden gegen die Regierung gerichteten Proteste in Waitangi reagierte dieses und letztes Jahr der Premierminister mit einer umstrittenen Weigerung, an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Siehe Leonie Hayden, „Waitangi 2017 Media in Review: A Change Is Gonna Come“, in: Mana, Februar 2017. Online: www.mana.co.nz/news/waitangi-media-in-review-a-change-is-gonna-come.html.
22 Claudia Orange, The Treaty of Waitangi, durchgesehene Ausgabe, Wellington: Bridget Williams Books 2011, S. 31.
23 Waitangi Tribunal Report WAI 1040, He Whakaputanga me te Tiriti / The Declaration and the Treaty: The Report on Stage 1 of the Te Paparahi o Te Raki Inquiry (2014), S. xxii.
24 Wie die Regierung, die die Proteste gegen das Küstenvorland und Meeresboden-Gesetz ignorierte, schenkte auch ihre Nachfolge-Mannschaft Demonstrationen keine Beachtung und bezog sich dabei auf die Behauptung, dass sich ein Gutteil der Protestierenden aus „professionellen Demonstranten“ oder „Mietlingen“ rekrutiere.
25 Für die Weiterentwicklung der von Elke aus dem Moore und Misal Adnan Yıldız konzipierten Ausstellung Politics of Sharing: On Collective Wisdom in Auckland arbeitete das Kollektiv Local Time (www.local-time.net) mit John Miller an Local Time: Waitangi 2-Feb-2017-6-Feb-2017 1000+1300, siehe online: www.artspace.org.nz/exhibitions/2017/politicsofsharingoncollectivewisdom.asp.