Kassel kartieren

18.–22. April 2016

…In jenem Reich erlangte die Kunst der Kartographie eine solche Vollkommenheit, dass die Karte einer einzigen Provinz den Raum einer Stadt einnahm und die Karte des Reichs den einer Provinz. Mit der Zeit befriedigten diese maßlosen Karten nicht länger, und die Kollegs der Kartographen erstellten eine Karte des Reichs, die die Größe des Reichs besaß und sich mit ihm in jedem Punkt deckte. Die nachfolgenden Geschlechter, die dem Studium der Kartographie nicht mehr so ergeben waren, waren der Ansicht, diese ausgedehnte Kartei sei unnütz, und überließen sie, nicht ohne Verstoß gegen die Pietät, den Unbilden der Sonne und der Winter. In den Wüsten des Westens überdauern zerstückelte Ruinen der Karte, behaust von Tieren und von Bettlern; im ganzen Land gibt es keine Überreste der geographischen Lehrwissenschaften.

—Suárez Miranda, Viajes de varones prudentes, IV. Buch, Kapitel XLV, Lérida, 1658
(Jorge Luis Borges, „Von der Strenge der Wissenschaft“)

Im Verlauf einer „Orientierungs“-Woche Mitte April 2016 wandert „eine Erfahrung“ mit Kolleginnen und Kollegen, eingeladenen Künstlerinnen und Künstlern, Studierendengruppen und einigen ausgewählten Gästen durch die Stadt Kassel. Vom Untergrund zum Straßenniveau, von Architekturen bis zu Wolkenbildungen nähert sich die Gruppe den Schichten und Lagen der Stadt mit Augen, Ohren und Füßen. Das Programm beinhaltet Spaziergänge, Übungen, Lesungen und Diskussionen zur Un-/Möglichkeit, die genannten Kontexte im Maßstab 1:1 zu „kartieren“. In einem Werkstatttreffen mit Studierenden der Kunsthochschule und der Universität Kassel geht es um eine kritische Auseinandersetzung mit der Praxis der „Kartografie“ und um den historischen Ballast dieser Disziplin, außerdem um das Erkennen und Anerkennen des Wunsches nach anderen Formen von Lesbarkeit und Lesefähigkeit, die nicht nur das Auge, sondern den ganzen Körper einbeziehen. Die während dieser Woche gewonnenen Erkenntnisse, Gespräche und „Daten“ werden anschließend der weiteren Interpretation durch einen Gast-Kartografen übergeben. Dieser erstellt eine bewohnbare Karte, ein Portable Document Format.

René Rogge, Portable Document Format (2016), Notizbücher und Folien, Foto: René Rogge

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