Lorenza Böttner
(1959–1994)

Lorenza Böttner, Zeichnungen, Pastelle, Malereien, Video, Archivmaterialien, 1975–94, Privatsammlung, Installationsansicht, Neue Galerie, Kassel, documenta 14, Foto: Mathias Völzke

Lorenza Böttner, Zeichnungen, Pastelle, Malereien, Video, Archivmaterialien, 1975–94, Privatsammlung, Installationsansicht, Neue Galerie, Kassel, documenta 14, Foto: Mathias Völzke

Lorenza Böttner, Zeichnungen, Pastelle, Malereien, Video, Archivmaterialien, 1975–94, Privatsammlung, Installationsansicht, Neue Galerie, Kassel, documenta 14, Foto: Mathias Völzke

Lorenza wurde 1959 als Ernst Lorenz Böttner in eine Familie deutscher Herkunft in Punta Arenas, Chile hineingeboren. Im Alter von acht Jahren erhielt si_er einen elektrischen Schlag, als si_er einen Strommasten hinaufkletterte, woraufhin beide Arme unter der Schulter amputiert werden mussten. Si_er kehrte mit der Mutter nach Deutschland zurück, um sich einer Reihe von plastisch-chirurgischen Operationen zu unterziehen und zog 1973 nach Lichtenau, eine Stadt in der Nähe von Kassel. Böttner wuchs als „Behinderter” auf und erlitt die gleiche Internierung und Ausgrenzung wie die sogenannten „Contergan-Kinder”, die mit morphologischen Unterschieden aufgrund von Auswirkungen des Arzneistoffs Thalidomid auf die Gebärmutter geboren wurden.

Lorenza lehnte ab, Armprothesen zu nutzen, entwickelte aber ein starkes Interesse für klassisches Ballett, Jazz und Stepptanz und lernte mit Füßen und Mund zu malen. Si_er studierte Malerei an der Kunsthochschule Kassel und schloss mit einer Arbeit mit dem Titel „Behindert?” ab, in der si_er die Kategorie „Behinderung“ auf der einen Seite infrage stellte und ablehnte, als „Freak“ angesehen zu werden, und auf der anderen Seite die Genealogie von Mund- und Fußmaler_innen erforschte. In diesem Moment begann ein zweifacher Prozess der subjektiven und künstlerischen Selbstkonstruktion. Zunächst entschied Lorenz, den Namen Lorenza als Bestätigung einer offen weiblichen Transgender-Position zu nutzen. Lorenzas Zeichnungen und Selbstportraits als Frau, mit Füßen und Mund gemalt, in für armlose Körper entworfenen Frauenkleidern, sowie fotografische Sequenzen, die den Transformationsprozess dokumentieren, funktionierten als performative Technologien für die Erschaffung einer armlosen Transgender-Subjektivität. An zweiter Stelle, während der medizinische Diskurs und Darstellungsmodi beabsichtigen, den behinderten Körper zu entsexualisieren und geschlechtlos zu machen, erotisiert Lorenzas Performance-Arbeit den armlosen Transkörper, indem si_er ihn mit sexueller und politischer Potenz ausstattet.

Lorenza transformierte die Praxis der Malerei zur Performance-Kunst, indem si_er die Straßen zur Bühne für die Politisierung des körperlichen Unterschieds macht. Auf diese Weise trat Lorenza in gewissem Maße in die Tradition der Mund- und Fußmaler, die ihren Lebensunterhalt mit Malerei in der Öffentlichkeit verdienen. Lorenzas Arbeit unterläuft diese Tradition der öffentlichen Malerei jedoch durch die dargestellten Themen (Selbstportraits als Frau, die ein Baby stillt, Szenen von Polizeibrutalität) und durch die Kombination der Mund- und Fußmalerei mit einer eher konzeptuellen Sprache, orientiert an zeitgenössischer Performance-Kunst. So zum Beispiel in der Performance Venus de Milo (zuerst in Kassel und später in New York und San Francisco), in der Lorenzas dissidenter Transgender-Körper zu einer lebenden politischen Skulptur, einem skulpturalen Manifest wurde.

Böttner stand mit dem Disabled Artists Network in Verbindung und trat in Kontakt mit Künstler_innen wie Sandra Aronson. Si_er verteidigte die Bedeutung von Mund- und Fußkunst und verlangte, dass diese von der Kunstgeschichte als Genre anerkannt werde. Si_er kämpfte aktiv gegen die Prozesse von Entsubjektivierung, Betreuung, Entmündigung, Internierung, Entsexualisierung und Kastration, die moderne Normalisierungsgesellschaften „körperlich Andersartigen“ zuschreiben. 1988 zog Lorenza nach Barcelona und wurde 1992 die lebende Verkörperung von Petra, dem von Mariscal entworfenen kontroversen paralympischen Maskottchen. Si_er starb 1994 an HIV-bedingten Komplikationen.

Gepostet in Öffentliche Ausstellung
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