Anna Daučíková

Anna/Anča Daučíková, Výchova dotykom (Erziehung durch Berührung, 1996), einer von fünf Inkjet-Prints auf Aluminium, je 80 × 84 cm

Anna Daučíková, On Allomorphing, 2017, Dreikanal-Videoinstallation, Installationsansicht, Athener Konservatorium (Odeion), Athen, documenta 14, Foto: Mathias Völzke

Anna Daučíková, Thirty-three Situations, 2015, Digitalvideo, Installationsansicht, Stadtmuseum Kassel, Kassel, documenta 14, Foto: Michael Nest

Man könnte Anna/Anča Daučíková als erste tschechische/slowakische Künstlerin bezeichnen, die sich dem Feminismus verschrieben hat – wäre da nicht die Tatsache, dass Daučíkovás Werk alle Aspekte dieser vermeintlich simplen Formulierung infrage stellt. Wer kann für sich in Anspruch nehmen, die Erste zu sein? Wer darf im Namen einer Nation handeln? Was bedeutet es, Feministin zu sein? Kann sich ein Individuum, das bei seiner Geburt dem weiblichen Geschlecht zugeordnet wurde, dem Frauwerden entziehen? Wer darf sich Künstlerin nennen?

Daučíková wurde 1950 in der Tschechoslowakei geboren. In den 1980er Jahren, nach ihrem Studium an der Hochschule der bildenden Künste in Bratislava, zog es sie nach Moskau – zu einer Zeit, als alle anderen in den Westen wollten. Nicht der Politik, sondern der Liebe wegen: Daučíková folgte einer Frau in ein Land, in dem Homosexualität offiziell nicht existierte. In Moskau, wo sie als Glasbläserin und Undercover-Lesbe lebte, widmete sie sich der abstrakten automatischen Malerei, der Fotografie, dem Schreiben. Daneben entwarf sie in Anlehnung an staatliche Überwachungstechniken ein geheimes Drehbuch für einen Film, der nie gedreht werden sollte: Scene Book – eine wissenschaftliche und literarische, respektlose und vergnügliche Beschreibung der sexuellen Aktivitäten ihrer Nachbarn. Häufige Besuche in die Ukraine führten sie zu verfemten Maler_innen und regimekritischen Intellektuellen. Nicht der Politik, sondern der Liebe wegen.

Daučíková wurde dank ihrer Glasarbeiten und ihrer Malerei Mitglied im sowjetischen Künstlerverband, doch ihre konzeptuellen Arbeiten, ihre Fotografien und Videos waren in Moskau ähnlich unsichtbar wie Homosexualität. Andernfalls hätte sie die erste lesbische Künstlerin – oder gar die erste Transgender-Videokünstlerin – der Sowjetunion werden können. Im Zuge ihrer Verwandlung von Anna zu Anča (die heute den Namen Anna vorzieht) gab Daučíková Glasbläserei und Malerei auf und widmete sich der Videokunst; die Kamera, das Editieren der Filme wurden zu ihren Prothesen. 1991 kehrte die Künstlerin nach Bratislava zurück, wo sie das feministische Queer-Magazin Aspekt mitbegründete – zu einer Zeit, als alle anderen in den Osten wollten. Videos wie Queen’s Finger (1997), Kissing Hour (1997), Home Exercise (1998) und We Care about Your Eyes (2002) verstehen sich als Inszenierungen des Alltäglichen, aufgebrochen durch schroffen Filmschnitt. In Portrait of a Woman with Institution – Anča Daučíková with Roman Catholic Church (2011) verklagt eine Frau ihren Mann mangels sexueller Befriedigung auf Scheidung. Sämtliche Rollen – die Frau, der für die Überprüfung zuständige Priester, der männliche Zeuge – werden dabei von der Künstlerin selbst gespielt. Man könnte Daučíkovás Arbeit als politische Anatomie in Form verschobener Selbstporträts beschreiben: Elemente aus Dokumentation, Fiktion und Drag werden aufgegriffen, um von Geschlecht, Kirche und Staat vorgegebene Normen zu verspotten und ihrer zentralen Bedeutung zu berauben.

— Paul B. Preciado

Gepostet in Öffentliche Ausstellung
Auszug aus dem documenta 14: Daybook