Nilima Sheikh

Nilima Sheikh, A Pastoral (Reading Agha Shahid Ali 16) (2003), Tempera auf Wasli-Papier, 71 × 40,5 cm

Nilima Sheikh, Arbeiten aus der Serie „Each night put Kashmir in your dreams“, 2003–14, Installationsansicht, Benaki Museum—Annex Pireos-Strasse, Athen, documenta 14, Foto: Stathis Mamalakis

Nilima Sheikh, Terrain: Carrying Across, Leaving Behind, 2016–17, verschiedene Materialien, ​Neue Galerie, Kassel, documenta 14, Foto: Mathias Völzke

Nilima Sheikhs malerisches Œuvre umfasst vielfältige Universen und ist in einer einzigartigen, zwischen menschlichen Reisen, Landschaftsräumen und Formen der Zugehörigkeit driftenden Bildsprache verfasst. In den Geschichten der Künstlerin verschmelzen antike Mythologien mit moderner Geschichte, wobei Zeitphasen ein Element innerhalb einer symbolischen Dramaturgie bilden. Sheikh, 1945 in Delhi geboren, absolvierte ihre Ausbildung in Baroda und schloss sich einem künstlerischen Zirkel an, der sich mit narrativer Malerei auseinandersetzte. Über Jahrzehnte hielt sie an ihrer feministischen Praxis fest, die unzähligen Facetten des Frauseins darzustellen: im Bereich des Sakralen ebenso wie in Lebensgeschichten und als sich mühendes soziales Subjekt.

Die doppelseitigen Leinwände mit dem Titel Each Night Put Kashmir in Your Dreams (2003–2010) sind durch eine mehrteilige Struktur gekennzeichnet, sodass sich der Betrachter in einer metanarrativen Form bewegt. Als Ausgangspunkt für Sheikhs Werk dienen figurative Darstellungsformen wie Miniaturmalereien, Pichwai-Tuchmalereien, handschablonierte Landschaftsmotive, Volksmärchen, illustrierte Handbücher aus der Kolonialzeit, die Schriften kaschmirischer Dichter und Historiker sowie die Stimmen von Sufimystikern auf ihrer Reise durch ein aufgewühltes Land. Die Bilder zeigen eine Kartografie aus Schmerz, Leid und Gewalt, die das Kaschmirtal und seine Menschen beherrscht – gefangen im Kampf zwischen dem Ruf nach gemeinsamer Freiheit und hegemonialen Kräften des Nationalismus.

Die Künstlerin selbst beschreibt ihre Vorgehensweise als additiv, visuelle und Textelemente sind durch verschiedene Bedeutungsebenen miteinander verflochten. Sie verwendet handgeschöpftes Papier und Pinsel, die minutiös präpariert werden, und hat Herstellungsprozesse entwickelt, die Fäden der Zusammenarbeit aufrechterhalten – so etwa nahezu zwei Jahrzehnte lang zu einer Künstlerfamilie aus Mathura in Nordindien, die mit traditionellen Scherenschnitt-Schablonen (Sanjhi) arbeitet.

In ihrer aktuellen Arbeit Terrain: Carrying Across, Leaving Behind (2016) entwirft die Künstlerin ein aus sechzehn Tafeln bestehendes Temperabild, das einen oktogonalen Raum umschließt. Die räumliche Ausgestaltung ist an shamianas angelehnt, traditionelle südasiatische Zeltpavillons, die als Treffpunkt für Feiern, Theater- und Gedenkveranstaltungen sowie politische Versammlungen dienen. Die fragile Papierarchitektur erinnert an provisorische Unterkünfte, die Pilgern Rast bieten, während das visuelle Vokabular auf vielfältige Ausdrucksformen von Bewegung und Distanz zurückgreift: Migration, Exil, flüchtige Geografien und gemeinsame Historiografien, die Europa und Asien durchziehen. Sheikh nutzt Gesang und Lyrik als performative Art öffentlicher Ansprache sowie polyphone sprachliche Reminiszenzen, etwa wenn sie die aus dem 14. Jahrhundert stammende kaschmirische Mystikerin Lal Ded zu Wort kommen lässt:

An einem Faden ziehe ich mein Boot übers Meer.
Wird Er mich erhören und mir hinüberhelfen?
Oder versick’re ich Tropfen für Tropfen, wie Wasser aus einer porösen Schale?
Wandle, o arme Seele, der Tag deiner Heimkehr ist fern.

— Natasha Ginwala

Gepostet in Öffentliche Ausstellung
Auszug aus dem documenta 14: Daybook