Amar Kanwar

Amar Kanwar, Work in Progress für die documenta 14 (2017)

Amar Kanwar, Such a Morning, 2017, digitales Video, Installationsansicht, Hochschule der Bildenden Künste Athen (ASFA) – Pireos-Straße („Nikos-Kessanlis“-Ausstellungshalle), documenta 14, Foto: Freddie F.

Amar Kanwar, Such a Morning, 2017, Digitalvideo, Installationsansicht, Neue Galerie, Kassel, documenta 14, Foto: Mathias Völzke

Steh früh genug auf, und der Tag beginnt in Dunkelheit. In Amar Kanwars Filmen, Videos und Installationen dominiert die Dunkelheit, wird jedoch niemals absolut gesetzt. In A Season Outside (1997), einer Meditation über die Ursprünge von Gewalt, Zerwürfnis und Konflikt (neben ausgleichenden Strategien wie Narrativen, Metaphern, Distanzierung), finden wir sie im tintenblauen Licht eines frühen Morgens, in den rosa leuchtenden Laternen einer Landstraße. In einem Mann, der Abstand nimmt von der Welt. In der Farbe von Erinnerungen, in den Wunden der Spaltung, in Indien, das zu Pakistan, zu Bangladesch wird – wieder und wieder praktiziert in Ritualen, die ebenso prunkvoll und spektakulär wie gefährlich sind. Denn Licht ist nicht zwingend heilbringend oder göttlich. Licht liegt auch im Aufleuchten der Gewalt, im Feuersturm des Krieges, im Gesichtsausdruck eines Jungen, der in einem tibetischen Flüchtlingslager ein anderes Kind zu Boden stößt.

In A Night of Prophecy (2002) ist die Dunkelheit ein blinder Mann, der einnickt und träumt. In The Scene of Crime (2011) steckt sie im Kino, im Rascheln des Windes in den Bäumen vor Anbruch der Morgendämmerung, im Fischer, der sein Netz auswirft, in den Palmen in einer Brise bei Halbmond. Dunkelheit ist auch der Schleier, der über der aktuellen gewaltsamen Aneignung von Land und der Zerstörung von Lebensmöglichkeiten für Industrie, Ressourcengewinnung und Profit liegt. In The Lightning Testimonies (2007) finden wir sie in der verborgenen Geschichte sexueller Gewalt auf dem Subkontinent. In den Installationen von The Torn First Pages (2008) und The Sovereign Forest (2011) hingegen ist die Dunkelheit eine Stimmung, eine Kulisse für die behutsame Erkundung von Widerstand, in Geschichten über einen Buchverkäufer in Myanmar oder über Bauern und indigene Gemeinschaften in Odisha.

In den Arbeiten von Amar Kanwar, geboren 1964 in Neu-Delhi, steht ein Tag für ein ganzes Leben. Feuer ist Wunder, Elektrizität Verzauberung, Sonnenlicht unerbittlich. Der Höhepunkt des Tages erliegt der Magie. Dann schwindet das Licht für eine Zeit potenzieller Weisheit, macht Platz für Wahrnehmung, Einsicht, Ahnung, Glaube, Mitgefühl und, schließlich, Liebe. Nahezu das gesamte Œuvre des Künstlers beschäftigt sich mit Gewalt. Kanwars Werke selbst hingegen strahlen keine Gewalt aus, sie versuchen vielmehr, durch sie zu wirken, mit ihr umzugehen, sie zu überwinden, ohne ihr dabei auszuweichen. Sein Beitrag zur documenta 14 erzählt wiederum eine andere Geschichte – über einen Mann der Wissenschaft, der Mathematik, der auf dem Höhepunkt seiner Karriere alles hinter sich lässt, um ein Leben in Abgeschiedenheit zu führen. Dort, in schleichender Dunkelheit, beginnt er zu sehen.

— Kaelen Wilson-Goldie

Gepostet in Öffentliche Ausstellung
Auszug aus dem documenta 14: Daybook