Maria Hassabi

Maria Hassabi, PLASTIC (2015/16), Installationsansicht, Museum of Modern Art, New York, 2016, courtesy Maria Hassabi, Koenig & Clinton, New York und The Breeder, Athen, Foto: Thomas Poravas

Maria Hassabi, STAGING: quartet, 2017, Live-Installation, Installationsansicht, Neue Neue Galerie (Neue Hauptpost), Kassel, documenta 14, Foto: Fred Dott

Das Oxford English Dictionary definiert das englische Wort „shape“ (Deutsch: Form, Figur, Gestalt) unter anderem wie folgt: „Kontur oder Umrisse des Rumpfes eines Körpers“. Ich zumindest kannte diese Bedeutung bislang nicht. Wäre ich mit dem Schneiderjargon vertraut, mit Wörtern wie dress form (Schneiderpuppe) und shaping board (Formkissen), wäre ich vielleicht nicht so überrascht gewesen. Im Englischen ist Form also genauso untrennbar mit dem Rumpf – von der Hüfte bis zur Schulter, der sich windende Leib, der fleischigste Teil, mit inneren Organen und unterschiedlichen Geschlechtsmerkmalen – verbunden wie mit Linien, Neigungswinkeln oder Kurven.

Diese Beziehung zwischen Form und Rumpf, Kontur und Leib, Linie und Schulter – Brustkasten – Taille – Hüfte – Haut – Knochen – Muskel kristallisiert sich heraus, wenn wir Maria Hassabis Tänzer_innen bei ihren Bewegungen zusehen. Hier geht es – von einigen intensiven Momenten abgesehen – nicht darum, wozu Glieder imstande sind, sondern darum, was geschieht, wenn Bewegung so verlangsamt wird, dass das Entstehen jeder Nuance aus dem Körperkern heraus beobachtbar wird. Gliedmaßen werden zu bloßen Auswüchsen. Wenn wir sehen, wie eine Schulter auftaucht, wie sich ihre Muskulatur zusammenfaltet und dehnt, wie eine Hüfte sich langsam entspannt: Dann sehen wir Formen, die stets mehr als Geometrie sind. Diese Tänzer_innen schaffen keine Formen – sie verweisen uns darauf, wie wir Formen fühlen.

Hassabi, 1973 in Zypern geboren und derzeit in New York lebend, beginnt jede ihrer Arbeiten am eigenen Körper. Ausgehend von ihren eigenen Bewegungen kreiert sie einen Tanz wie STAGED (2016, die Blackbox-Hälfte eines Diptychons, dessen zweite Hälfte aus der Live-Installation STAGING, 2017, besteht) anfänglich als ausgedehntes Solo. Dieses vermittelt sie dann ihren Kolleg_innen, sodass die vier Tänzer_innen von STAGED sie quasi vervielfachen und das Solo in multiple Elemente aufspalten. Elemente, die sich berühren, abstoßen oder verschränken können. Die Bewegungen verlangsamen sich bis zur Reglosigkeit, nur der Atem ist angedeutet. Doch wir sehen nicht nur die Körper. Aus den Rümpfen von Hassabis Epigon_innen strömen Formen aus, die einander wärmen und kühlen; die zeigen, wie weit ein Rhythmus gedehnt werden kann, bis er nicht mehr spürbar ist; wie viel Distanz möglich ist, ehe zwei Punkte den Kontakt verlieren. Diese winzigen Spannungen, diese ständigen Abgleichungen geben die Verbindung preis zwischen dem, was wir als allmähliche Bewegung wahrnehmen, und den Formen, die durch die Rümpfe der Tanzenden erzeugt werden. Jedes Zittern erfindet unsere Idee der Form neu. Diese ist kein statisches Bild mehr – ganzzahlig, symbolisch, schablonenhaft –, sondern eine mobile, beeindruckende Kraft.

— Rachel Haidu

Gepostet in Öffentliche Ausstellung
Auszug aus dem documenta 14: Daybook
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