2006: Besuch der Villa Grimaldi mit Pedro Matta

Pedro Matta ist ein Überlebender. Er macht Führungen für Leute, die wissen möchten, was damals in Santiago de Chiles Villa Grimaldi geschehen ist. Da ich bereits über die Desaparecidos in Argentinien gearbeitet hatte, waren Kollegen der Meinung, ich würde ihn gerne treffen wollen. Nach der Begrüßung händigt er mir die englische Version einer Broschüre aus, die er selbst verfasst hat: A Walk Through a 20th Century Torture Center: Villa Grimaldi, A Visitors Guide [Rundgang durch eine Folterzentrum des 20. Jahrhunderts. Villa Grimaldi, ein Leitfaden für Besucher]. Ich sage ihm, dass ich aus Mexiko komme und Spanisch spreche. „Ah“, sagt er, die Augen zusammenziehend als er mich mustert: „Ich dachte, Taylor …“

Das Gelände ist weitläufig. Es macht den Eindruck einer Ruine oder eines Bauareals mit altem Bauschutt und ersten Anzeichen neuer Gebäude – ein Ort des Übergangs, halb Vergangenheit, halb Zukunft. Ich blicke auf das kleine Heft, das mir Matta gerade gegeben hat, und auf die selbst gemachte Karte, auf der er den Rundgang eingezeichnet hat.

Am Eingang eine einfache, handgefertigte Tafel. „Parque por la Paz Villa Grimaldi“, (Friedenspark Villa Grimaldi). Sie informiert den Besucher, dass hier zwischen 1973 und 1979 4.500 Menschen gefoltert und 226 „dem Verschwinden“ anheimgefallen sind oder ermordet wurden. Der Ort ist Folterlager, Gedenkstätte und Friedenspark zugleich. Wie bei vielen anderen Gedenkstätten auch werden wir daran erinnert, dass seine tragische Geschichte uns allen gehört, wir sind aufgefordert, uns respektvoll zu verhalten, damit er erhalten bleiben und uns weiterhin eine Lehre sein kann.

Lektion eins: Ganz klar, für diesen Ort tragen wir in vielerlei Hinsicht Verantwortung. Aber inwieweit gehört er uns? Und wer ist mit dem Uns gemeint, das auf dem Schild angesprochen und evoziert wird?

„Hier entlang, bitte.“ Matta führte mich zu dem kleinen Modell des Folterlagers, damit ich mir eine Vorstellung von der architektonischen Organisation eines inzwischen verschwundenen Orts machen kann: Cuartel Terranova. Das Wort terranova (neues Land) bezeichnete auf alten Karten einst noch unerforschtes Territorium, und tatsächlich ist dieser Ort unerkundet geblieben. Wer hätte gedacht, dass das chilenische Militär sich für Geschichtswissenschaften interessierte?

Die Nachbildung der Anlage liegt wie in einem Sarg unter Plastik, ein leicht opaker Sonnenschutz, der die Sicht verzerrt. Das Modell bietet, wie häufig in historisch bedeutsamen Stätten, einen Blick aus der Vogelperspektive auf das gesamte Gelände. Mit dem Unterschied, dass, was ich bei dem Modell sehe, real nicht mehr vorhanden ist. Obwohl ich anwesend bin, werde ich es nicht „leibhaftig“ erleben können. Man kann sich also fragen, welchen Zweck der Besuch haben soll. Was bringe ich in Erfahrung, wenn ich physisch in einem Folterzentrum bin, nachdem alles, was darauf hinweisen würde, verschwunden ist? Außer dem Schild am Eingang lässt nur weniges auf den Kontext schließen. Meine Fotografien könnten nur wiedergeben, was der Ort heute ist und nicht was er war. Warum also herkommen?

Für den Augenblick genügt es, dass ich mich hier persönlich mit Matta befinde, der sich bereit erklärt hat, mit mir den recorrido (die Tour) abzugehen. Matta redet Spanisch; das macht viel aus. Er scheint etwas entspannter geworden zu sein, obwohl seine Stimme sehr angestrengt klingt und er sich häufig räuspert. Vielleicht sind es die Wörter, die sich ihrer Verlautbarung widersetzen. Vielleicht straft die steife Körperhaltung den augenblicklichen Versuch Lügen, die „Vergangenheit“ hinter sich zu lassen. Für Matta geht es nicht nur darum, „was geschehen ist“ im historischen Sinn, sondern auch um die Art, wie seine Erlebnisse in der Villa Grimaldi die Gegenwart tangieren.

Das Anwesen, ursprünglich eine wunderschöne Villa aus dem 19. Jahrhundert, in der sich einst Künstler und Intellektuelle trafen, wurde von der Dirección de Inteligencia National (Leitung des nationalen Geheimdienstes, DINA) beschlagnahmt. Die Geheimpolizei verhörte von 1973 bis 1977 im Auftrag des Militärmachthabers und Diktators Augusto Pinochet Personen, die bei großangelegten Razzien vom Militär verhaftet wurden. Viele bedeutende Künstler, Denker und Aktivisten fielen dem Verschwinden anheim und wurden gefoltert. So notwendig, wie es offenbar war, ihnen das Leben zu nehmen, war es offenbar auch, sich ihrer Aufenthaltsorte zu bemächtigen. Da Tausende Menschen gefangen genommen wurden, waren unzählige zivile Örtlichkeiten, die mit progressiven Intellektuellen und linksgerichteten Bewegungen in Verbindung gebracht werden konnten, in provisorische Gefangenenlager umgewandelt worden. Villa Grimaldi war eines der berüchtigtsten. Wie ich später erfuhr, war der abgelegene Komplex für das Militär auch deshalb attraktiv, weil er in der Nähe eines von Pinochet kontrollierten Flugplatzes lag. So ließen sich unter Drogen gesetzte oder tote Gefangene bequem auf „Todesflüge“ verfrachten und ins Meer werfen. 1978, als die DINA aufgelöst und umbenannt wurde, verkaufte einer ihrer Generäle die Villa Grimaldi an eine Baufirma im Besitz der Pinochet-Familie. Sie wurde abgerissen, um an ihrer Stelle eine Wohnanlage zu errichten. Überlebenden und Menschenrechtsaktivist_innen gelang es zwar nicht, den Abriss zu stoppen, aber nach einer hitzig geführten Auseinandersetzung konnten sie erreichen, dass der Ort 1995 in eine Gedenkstätte und einen Friedenspark umgewidmet wurde. Zusammen mit anderen Überlebenden und Menschenrechtsaktivisten hat Matta viel Zeit, Geld und Energie aufgewendet, damit der Ort dauerhaft als Erinnerungsstätte für die Taten, die die Pinochet-Regierung ihrem Volk angetan hatten, erhalten bleibt. Drei unterschiedliche Geschichtsepochen überlappen sich an diesem Ort, der auch heute noch mehrere Funktionen erfüllt: Er dient als Beweis, ist ein Ort des Gedenkens und der Versöhnung und erfüllt pädagogische Zwecke.

Das ausgestellte Miniaturgefangenenlager versetzt uns in die Rolle von Zuschauer_innen. Wir beugen uns über das Modell und blicken auf seine Organisationsstruktur. Durch den Haupteingang des Komplexes oben links kamen die Fahrzeuge, die die vermummten Gefangenen zum Hauptgebäude fuhren. Durch Mattas Rede und meine Fantasie bevölkert sich das leere Gelände. Matta deutet auf die kleine Kopie des großen Hauptgebäudes, von dem aus die Operationen des DINA geleitet wurden. Hier plante das Militär, wer ins Visier genommen werden sollte, und bewertete die Ergebnisse der Foltersitzungen. Hier hatten auch der Einsatzleiter der Villa Grimaldi und seine Assistenten ihre Büros. Und es gab ein Kantine für die Offiziere. Das Gebäude beherbergte auch die Archive und eine Kurzwellenfunkstation, über die das Militärpersonal mit Amtskollegen in ganz Südamerika Kontakt hielt. Über die Operation Condor, das internationale Netzwerk in Lateinamerika regierender repressiver Militärregimes in Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Außenpolitiker Henry Kissinger und der CIA, wurden nachrichtendienstliche Erkenntnisse ausgetauscht und Amtshilfe bei der Verfolgung linksgerichteter Anführer und Militanter auf der Flucht geleistet. In den kleinen Gebäuden entlang der linken Umfassungsmauer wurden die Gefangenen in Gruppen aufgeteilt, separiert und mit Augenbinden versehen – Männer hier, Frauen dort. Winzige, von den Überlebenden angefertigte Zeichnungen hängen nun rings an der Wand: Mit Kapuzen vermummte Gefangene, die von Wachen mit Gewehren zu den Latrinen gestoßen werden, wo sie dreißig Sekunden Zeit hatten; ein von einem bewaffneten Mann bewachter Flur mit kleinen verschlossenen Zellen; eine Detailzeichnung einer Zelle von innen, in der ein halbes Dutzend Männer mit Handschellen und Kapuzen auf engstem Raum zusammengepfercht sitzen; eine leere Folterkammer mit einem blanken Metallstockbett, an dem Lederriemen befestigt sind, einem Stuhl mit Riemen für Arme und Füße, einem Tisch mit Instrumenten; ein Bild von den Folterern.

Folter ist buchstäblich zu nehmen. Die Körper zu brechen wird zu einem Mittel, den Widerstand der Gewerkschaften und der Studentenbewegungen zu brechen. Die Brüche in der Gesellschaft werden zu Frakturen des Körpers. Die Bilder zeigen – auch dies buchstäblich –, wie von den Gegenständen auf das Verhalten zu schließen ist. Ich will wissen, was genau dort/hier vor sich gegangen ist. Matta deutet auf das Modell. Es wird deutlich, dass der Abstand, den das Modell erlaubt, ihm eine gewisse Kontrolle verleiht – er muss nicht mehr das ganze Bild vor seinem inneren Auge aufleben lassen, um es zu beschreiben. Er kann es externalisieren und darauf verweisen. Die Gewalt kann bis zu einem gewissen Grad dem Archiv übergeben werden, kann sich in der kleinen, faktenbasierten Nachbildung materialisieren. Matta äußert sich explizit über die kriminellen Machenschaften der Politik und verurteilt klar und deutlich die Rolle der CIA beim Putsch in Chile. Der Blick seiner blauen Augen ist durchdringend, doch dann wird ihm bewusst, dass ich nicht das Publikum bin – schon ein Publikum, aber nicht das Publikum.

Als ich auf das Modell blicke, um unseren „eigentlichen“ Standort zu erfahren, sehe ich, dass wir am Ort des Hauptgebäudes stehen, die Stelle des Militärs einnehmen. Der Blick bietet mir die befremdliche Fantasie, das „Ganze“ sehen oder begreifen zu können, die Fiktion, ich könnte die kriminelle systemische Gewalt verstehen, besonders insofern als ich mich gleichzeitig in und über dem Geschehen positioniere. Ich kann mich damit identifizieren, ohne mich zu identifizieren. Ich bin nicht einbezogen, außer in dem Maße, in dem ich die Information verstehe, die mir durch die Nachbildung und meinen Führer Matta übermittelt wird. Das ist damals dort geschehen, mit ihnen, wegen ihnen … Die Nacherzählung bewirkt einen räumlichen und zeitlichen Abstand. Im Augenblick geht es um die Darlegung und Erklärung der Fakten. Ich mache ein paar Aufnahmen und frage mich, inwiefern die fragile „Beweiskraft“ eines Fotos der brüchigen Tatsachenbehauptung des Modelllagers etwas hinzufügen könnte. Natürlich weiß ich, was in der Villa Grimaldi passiert ist, frage mich aber, ob mir mein Hiersein ein anderes Wissen ermöglicht. Kann ich, indem ich hier bin, mit meiner Kamera etwas tun, das die kriminelle Gewalt noch sichtbarer macht?

Die „andere“ Gewalt, die Wirtschaftspolitik, die das Zerbrechen von Körpern rechtfertigte und ermöglichte, die Zerschlagung der Arbeitnehmerrechte und der politischen Freiheitsbestrebungen, für die Chile in den frühen 1970er Jahren stand, ist auch heute noch voll funktionsfähig, befindet sich aber außerhalb der Gefahrenzone.

Wir blicken auf und sehen uns an dem „Ort“ selbst um. Viel von dem einstigen Lager ist nicht mehr zu erkennen. Nur noch wenige Spuren der ursprünglichen Strukturen markieren zusammen mit den Nachbauten von Isolationszellen und einem Turm das Gelände, entleert doch nicht leer – leer von etwas, das durch seine Abwesenheit spürbar ist. Keine Geschichte. Keine Verantwortlichen. Aktivist_innen haben, wie ich später erfahren habe, die Reihen mit Birken (abdules) gepflanzt, die die gefährdete und einsame Lage sowie den Widerstand der Exhäftlinge symbolisieren sollen. Das zerstörte Lager vor Augen, versucht Matta zu informieren und zu schildern, doch er scheint keine emotionale oder persönliche Verbindung zu dem Beschriebenen zu haben. Zur Untermauerung der Erzählung sind einige Objekte rekonstruiert und aufgestellt worden – „dies ist dort passiert“. So zum Beispiel das Modell einer Isolationszelle, ein auf zwei Meter groß, in der vier oder fünf Gefangene gezwungen waren, über lange Zeit aufrecht zu stehen. Von den Armeeangehörigen wurden sie – klein und vollgestopft wie sie waren – als Casas Chile bezeichnet, ein ironische Schmähung jener Initiative Salvador Allendes, mit der Wohnraum für die Armen geschaffen werden sollte. Matta erzählte später, dass er in einer solchen Zelle gelernt hatte, im Stehen zu schlafen.

Matta geht in Richtung der Originalzufahrt – das massive Eisentor ist für immer verschlossen und versiegelt, als solle es jede Möglichkeit zu neuerlicher Gewalt ausschließen. Von diesem Punkt aus ist klar zu sehen, dass dem Ort eine weitere Schicht hinzugefügt worden ist. Ein Belag aus dekorativen Kacheln, Bruchstücke der ursprünglichen vor Ort gefundenen Keramikfliesen, zeichnet eine riesige Pfeilform auf den Boden, die vom Tor aus in Richtung des neuen „Friedensbrunnens“ (laut Mattas Broschüre ein „Symbol des Lebens und der Hoffnung“) und zu einem großen Pavillon für Aufführungen zeigt. Die Architektur hat Teil an der Rehabilitierung des Platzes. Durch die kreuzförmige Anlage dieser Zufügungen verschiebt sich die Geschichte von der kriminellen Vergangenheit hin zu einer erlösenden Zukunft. Matta lässt dies für den Moment außer Acht – er befindet sich nicht in einem Friedenspark. Das ist nicht die Zeit für Versöhnung.

Unpersönlich, in der dritten Person, spricht Matta von der Rolle, die die Folter für Chile spielte: Eine halbe Million Menschen wurden gefoltert und 5.000 umgebracht bei einer Bevölkerungszahl von acht Millionen. Ich rechne … einer von sechzehn. In Chile gab es mehr Folter, aber weniger Morde als im benachbarten Argentinien, wo das Militär 30.000 Angehörige der eigenen Bevölkerung für immer verschwinden ließ. Pinochet zog es vor, seine „Feinde“ zu brechen, anstatt sie zu töten. Der Anteil der von der Folter zerstörten Geister oder Individuen, die wieder in die Gesellschaft zurückgeworfen wurden, sollte den anderen eine Warnung sein. Matta spricht davon, wie sich die Folter als staatliches Gewaltmittel von ihrer frühen experimentellen Phase zu der überaus präzisen und erprobten Praxis, zu der sie schließlich wurde, entwickelte. Sein Tonfall ist kontrolliert und reserviert. Seine Informationen sind dokumentarisch, er wird nicht persönlich, wenn er die täglichen Routinen des Lagers beschreibt, die Veränderung, die mit der Sprache geschehen, wenn Worte geächtet werden. Crimenes, desaparecidos und dictatura (Verbrechen, Verschwundene und Diktatur) wurden durch excesos, presuntos und gobierno militar (Exzesse, Mutmaßliche und Militärregierung) ersetzt. Er beschreibt, während wir herumgehen, was wo geschah, und ich bemerke, dass er seine Augen auf dem Boden gerichtet hält, eine Gewohnheit, die er sich zu eigen machte, als er unter der aufgenötigten Augenbinde hervorblinzeln musste.

Nach und nach verändert sich die Art, in der Matta spricht – so subtil, wie er nacherzählt, beginnt er nun auch die Dinge nachzustellen. Er geht tiefer in das Todeslager hinein und deutet auf eine leere Stelle: „Dort wurde das Opfer, das in der Regel bewusstlos war, von der parilla (dem „Grill“, einem metallenen Bettrahmen) genommen, und, wenn es ein Mann war, hierher geschleift.“ Auf den Boden blickend, sehe ich die farbigen Scherben von Keramikfliesen und Steinen, die jetzt den Platz markieren, an dem einst die Gebäude standen, und die Wege, auf denen die Opfer zu den Folterkammern gestoßen wurden. Ich gehe ihnen nach, kenne, den Blick auf den Boden gerichtet, den Weg: Sala de tortura (Folterkammer), Celdas para mujeres detenidas (Zellen für festgenommene Frauen). Ich folge Mattas Bewegungen, aber es ist auch seine Stimme, die mich tiefer hineinzieht. Nach und nach verändern sich seine Pronomen: „Sie folterten sie“ wird zu „sie folterten uns“. Er bringt mich der Sache näher. Sein Auftreten beseelt den Ort, hält ihn lebendig. Sein Körper verbindet mich mit den Körpern derer, die Pinochet verschwinden ließ, nicht bloß mit dem Ort, sondern auch mit dem Trauma. Mattas Präsenz macht die Behauptung erlebbar, verkörpert sie, le da cuerpo. Er hat überlebt, um zu erzählen. Mit ihm vor Ort zu sein vermittelt ein völlig anderes Gefühl für die Verbrechen, als das bloße Betrachten des Modells. An Mattas Seite durch die Villa Grimaldi zu gehen rückt die Vergangenheit nahe, Vergangenheit, die eigentlich keine Vergangenheit ist. Jetzt. Hier. Und eben, in diesem Augenblick, an vielen Orten der Welt. Auch ich bin nun Teil des Szenarios; ich habe ihn hierher begleitet. Meine Augen blicken direkt durch seine nach unten gerichteten Augen auf den Boden. Ein eher mimetischer denn reflektierender Vorgang. Ich sehe nicht wirklich; ich stelle es mir vor. Ich presenciar. Ich bin dabei. Verkörperte Kognition oder Embodiment nennen die Neurologen, was uns aus dem Theater immer als Mimesis oder Empathie bekannt war. Wir lernen und nehmen auf, indem wir andere Menschen spiegeln. Ich nehme nicht an den Ereignissen teil, sondern an der Übermittlung der diesen Ereignissen entspringenden emotionalen Erregung. Mein Dabeisein bietet mir keine Kontrolle, kein durch eine Fiktion vermitteltes Verstehen.

Als Matta an einen der Originalbäume gelangt, die mit einer gewissen Erfindungsgabe zu verschiedenen Folterungen der Gefangenen genutzt wurden, stellt er einige der Positionen nach, die er und andere aushalten mussten. Er erzählt, dass er eine dauerhafte Läsion der Schulter davongetragen habe und auch sein Herz in Mitleidenschaft gezogen worden sei. Vor der Stelle, an der die Folterräume lagen, schildert er, wie ein mit Stromstößen traktierter Körper aus allen Poren Wasser auszuschwitzen beginnt, obwohl er bereits völlig dehydriert ist. (Die betreffende Person kann kein Wasser trinken, da sich die noch im Körper vorhandene Elektrizität wie ein Stromschlag auswirken könnte. Es braucht ein paar Stunden, bis sich die Elektrizität im Körper abbaut.) Und der Strom, schickt er nach, führt dazu, dass sich der Körper verkrampft. Deshalb binden die Folterer ihre Opfer mit Lederriemen fest. Gefangene hätten bleibende Schäden an ihrer Wirbelsäule davongetragen und oft auch am Schließmuskel. Als Matta die (zwanzig Jahre nach den gewalttätigen Ereignissen erbaute) Gedenkmauer erreicht, auf der die Namen der Toten verzeichnet sind, bricht er zusammen und weint. Er weint um die, die gestorben sind, aber auch um jene, die überlebt haben. „Die Folter“, sagt er, „zerstört den Menschen. Und ich bin keine Ausnahme. Die Folter hat mich zerstört.“ Hier kulminiert der Rundgang. In dieser Einlassung kommen Vergangenheit und Gegenwart zusammen. Die Folter wirkt in die Zukunft, versperrt aber zugleich jede Möglichkeit für sie. Der Ort der Folter ist vorübergehend, aber die Folter verändert auf Dauer – sie verwandelt Gesellschaften zu schreckenerregenden Orten und Menschen zu Zombies. Heute, nach dem Ende der Diktatur 1990 ist nichts mehr wie zuvor.

Mattas Ton verändert sich von Neuem, als er sich von der Gedenkmauer abwendet. Er ist aus der Todeszone heraus und wird persönlicher und ungezwungener. Wir unterhalten uns, wie andere Überlebende mit dem Trauma umgingen, über Ähnlichkeiten und Unterschiede mit anderen Folterzentren und Gefangenenlagern in Chile und anderswo auf der Welt. Er sagt, er müsse immer wieder hierher zurückkommen; der Rundgang verbinde ihn wieder mit seinen verschollenen Freunden. Jedes Mal, wenn er eine Gruppe Besucher herumführe, tue er, was er sich von seinen Freunden gewünscht hätte, wäre er einer der Verschwundenen. Danach gehe er physisch und emotional ausgelaugt nach Hause, trinke einen Liter Obstsaft und lege sich schlafen – ohne Unterbrechung bis zum nächsten Morgen. Sein Körper schmerze noch von der Folter und er habe kräftezehrende Folgeerscheinungen entwickelt.

Wir gehen immer weiter durch das Gelände, vorbei an dem Nachbau des Wasserturms, in dem die besonders wichtigen Gefangenen isoliert waren, an der sala memoria (dem Gedenkraum) – einem der wenigen gebliebenen Originalgebäude, das als Foto- und Siebdruckwerkstatt diente –, bis wir an das ebenso original erhaltene Schwimmbecken kommen. Dort erzählt er einen der schaurigsten Schilderungen, die ihm von einem Insider zugetragen worden seien … An dieser Stelle sind von den politischen Parteien und Organisationen, die am schlimmsten von den Militärs getroffen wurden, verschiedene Kunstwerke und Mahnmale zum Gedenken an die Toten aufgestellt worden. Neben anderen sind die Kommunistische Partei Chiles und die MIR, die Bewegung der revolutionären Linken, am Rande aufgereiht wie kleine Grabstellen.

In der Nähe des Ausgangs erinnert eine große Tafel mit den Namen der Toten, dass das Vergessen voller Erinnerung ist: El olvido esta lleno de la memoria. Natürlich begleitet von einem hoffnungsvollen Nunca más! (Nie wieder!). Von dem Brunnen nimmt Matta kaum Notiz. Dies alles mit dem christlichen Erlösungsgedanken zu überlagern war selbstredend eine Idee der Regierung.


Trauma als permanente Performance

Nach meinem Besuch in der Villa Grimaldi erzählt mir ein Freund, dass Pedro Matta die Führung jedes Mal auf die gleiche Art veranstaltet, an der gleichen Stelle steht, die gleichen Ereignisse erzählt und an der Gedenkmauer weint. Andere halten das für befremdlich, als ließe die Routine die Emotionen suspekt erscheinen. Sind die Tränen echt? Handelt es sich um eine Performance? Ist Matta etwa Berufsüberlebender eines Traumas? Ich glaube, das neuerliche Durchleben ist sowohl für das Trauma als auch für die Performance entscheidend. Wie die Aufführung ist auch das Trauma durch die Natur seiner Wiederholungen gekennzeichnet, für die gilt: „Kein erstes Mal“.1 Wir sprechen von einem Trauma, wenn das Ereignis nicht verarbeitet werden kann, jedoch charakteristische Folgestörungen hervorruft. Wie eine Aufführung wird das Trauma stets in der Gegenwart erlebt. Hier. Jetzt. Für einen Überlebenden der Folter bedeutet die Rückkehr in ein Folterlager ein bewusstes Betreten eines Pfads schmerzhafter Erinnerungen. Erinnerungen sind, wie wir wissen, an Orte geknüpft. Schon allein dies ist ein Grund, weshalb es diesen Ort geben muss, und weshalb er, damit wir uns der Gewalt vergewissern, die hier stattgefunden hat, hervorgehoben werden muss. Durch den recorrido, den Akt des Gehens, erinnert sich der Körper. Diese „Touren“ bieten ihm eine Möglichkeit, seine Vergangenheit lebendig und doch unter Kontrolle zu halten.

Für Matta ist das Trauma (auch sein Aktivismus) eine fortwährende Performance. Seine Traumaerfahrung dauert nicht nur zwei Stunden – sie dauert schon seit Jahren an, seit seiner Gefangennahme durch das Militär. Der stets wiederholte Akt, mit dem er seine Mitmenschen in die Vergangenheit führt, ist kennzeichnend für das Trauma und die traumainduzierten Handlungen, die es kanalisieren und lindern sollen. Was Matta durch seine Anwesenheit dort tut, kann ich besser verstehen, als das, was ich mit meinem Besuch dort tat. Ich überlege, ob es mit Aura zu tun hat, und mache mir Gedanken, ob es dabei um Voyeurismus oder einen (dunklen) Tourismus geht. Was möchte Mattas Performance von mir als Zuschauerin oder als Zeugin? Was bedeutet es, etwas mitzuerleben, und worin liegt die besondere Qualität, vor Ort zu sein? Er ist auf andere angewiesen, um anerkennen zu können, was dort geschehen ist und nach Gerechtigkeit zu verlangen. Witness (miterleben, Zeuge sein) ist ein transitives Verb und definiert sowohl die Handlung als auch die Person, den Zeugen oder die Zeugin, der oder die sie ausführt. Das Verb geht dem Nomen voraus – erst durch den Akt des Miterlebens werden wir zu einem Zeugen. Identität stützt sich auf das Handeln. Wir sind sowohl Subjekt als auch Produkt unseres Handelns. Matta ist der Zeuge für jene, die, da sie nicht mehr am Leben sind, nicht mehr erzählen können. Er ist der Zeuge seiner selbst, weil er sein eigenes Martyrium erzählt. Er ist ein Zeuge im juristischen Sinn – er erhob Anklage gegen die Pinochet-Diktatur. Er ist zudem das Objekt meiner Zeugenschaft. Er ist auf mich angewiesen, damit ich bestätige, was er und andere in der Villa Grimaldi durchgemacht haben. Die Transitivität des Bezeugens, des Miterlebens, bindet uns aneinander – das ist ein Grund, warum er so erpicht darauf ist, sein Publikum einzuschätzen. Traumainduzierter Aktivismus kann (wie das Trauma selbst) nicht einfach nur erzählt oder gewusst werden; er muss durch eine leibhaftige Praxis durchlebt, wiederholt und externalisiert werden.

In unserem Alltagsleben haben wir keine Möglichkeit, mit Gewalttaten umzugehen, die unseren Verstand an seine Grenzen bringen. Wir alle sind von krimineller Gewalt umgeben. Obwohl sie manchen von uns viel persönlicher begegnet ist als anderen, ist sie niemals nur persönlich. Darin liegt die Stärke und zugleich die Schwäche dieser Erinnerungsarbeit. Sie ist auf eine Weise personalisiert und fokussiert, dass sie oft nur auf bestimmte Opfer und bestimmte Orte ausgerichtet scheint. Wenn wir uns jedoch nur auf das persönliche Trauma konzentrieren, laufen wir Gefahr, die fürchterliche Politik dahinter auszulagern. In dem Augenblick, als wir dort zusammen standen und Gebäude und Routinen wieder zum Leben erweckten, bezeugten wir nicht nur einen persönlichen Verlust, sondern auch ein System von Machtbeziehungen, Hierarchien und Werten, das die Zerstörung anderer Menschen zuließ und verlangte.


2012: Umstrittene Orte – Rückkehr in die Villa Grimaldi

Sechs Jahre später erfahre ich, dass die Regierung mit Michelle Bachelet als Präsidentin – sie selbst ein Opfer, das in der Villa Grimaldi gefangengehalten und gefoltert wurde –, die Renovierung der Anlage zum Abschluss gebracht hatte. Bachelets Vater, ein General, ist von den Militärs unter Pinochet ermordet worden. Die Gedenkstätte ist renoviert und mit einem Bildungs- und Informationszentrum ausgestattet worden. Eine Audiotour wird auf Spanisch und Englisch angeboten. Es war also an der Zeit, dorthin zurückzukehren – dieses Mal ohne einen Überlebenden. Ich wollte verstehen, wie Anwesenheit und Stimme mein Verständnis des Geländes beeinflussen würden.

Von außen sah es schon ganz anders aus, institutioneller, wenn auch auf dezente Art. Hinter dem Tor ist das handgemachte Schild, das beim ersten Besuch dazu ermahnte, sich zu benehmen, verschwunden. Dafür ist auf einer Art Stahlsockel die Chronik der Ereignisse wiedergegeben. Nirgends wird auf ein „Wir“, eine gemeinsame Verantwortung verwiesen. An welches Publikum, welchen Besucher soll sich diese renovierte Anlage richten? Villa Grimaldi ist nun Teil der internationalen Gedenkstätten-Industrie, das ist deutlich zu spüren. Dem Ort ist also noch eine weitere Schicht hinzugefügt worden.

An der Infotheke nehme ich aus der Hand einer jungen Frau Kopfhörer und Sender entgegen und wähle den Rundgang auf Spanisch. Wie beim ersten Mal sind keine weiteren Besucher zugegen. Weshalb? Auch dies will mir wie eine historische Frage vorkommen. Ich frage die junge Frau, ob ich einen Blick in die neuen Gebäude werfen kann? Sie meint, es sei niemand da, der sie mir zeigen könnte. Da sie aber meine Enttäuschung spürt, händigt sie mir den Schlüssel aus, bittet mich, wenn ich fertig bin, wieder abzuschließen und den Schlüssel zurückzubringen. Die Schlüssel an dem herzförmigen Schlüsselring führen dazu, dass ich mich, auch ohne die ermahnende Tafel, sehr verantwortlich fühle.

Ich setze die Kopfhörer auf und beginne meinen Rundgang. Die ruhige, rhythmische Stimme einer anonymen weiblichen „Führerin“ gehört, wie ich später erfahre, einer aus chilenischen Telenovas bekannten Schauspielerin. Auch ohne diese Information unterstelle ich, dass die junge, frische Stimme von der Gewalt, die sie beschreibt, nicht berührt worden ist. Von Anfang an erfolgen die Anweisungen klar und deutlich. Ich werde aufgefordert, zu den verschiedenen auf einer fotokopierten Karte verzeichneten Stationen der Audiotour gehen.

Der recorrido folgte der Route, die auch Matta genommen hatte. Das handgefertigte Lagermodell war verschwunden und durch eine neue, glänzende, maschinell gefertigte Replik ersetzt worden. Alles daran war spröde und weiß, als sei es tiefgekühlt worden. In Weiß war alles, was verschwunden war; noch bestehende Strukturen waren dunkel gehalten. Ich erkannte die Gebäude wieder, nicht aber das Gefühl. Das Modell war der Farben beraubt worden, der handgemachten Qualität, seiner Menschengeschichte. Ich spürte eine andere Art der Entleerung als damals als ich das erste Mal hier war – die Brutalität des Abrisses war ersetzt worden durch die Negierung des Lebens selbst.

Ich gehe in Richtung des verschlossenen Eisentors, halte aber auf eigene Veranlassung an, um durch die einst von den Militärwachen benutzte Öffnung zu spähen.

Lange halte ich mich dort nicht auf. Die vorgesehenen Stationen sind jetzt mit Plaketten, deren Nummern mit der Audiotour korrelieren, sowie mit neuen Keramikplatten gekennzeichnet, an denen ersichtlich wird, dass das Zentrums seinem Auftrag nachkommt, sowohl ersetzende „Reparaturen“ als auch Aktualisierungen vorzunehmen. Ich stoße auf neue Gebäude. Sie sind verschlossen. Ich ermittle den richtigen Schlüssel und schließe mir auf. Ausstellungsvitrinen zeigen Metallteile, die das Militär an den Leichen befestigt hatte, um sicherzustellen, dass diese, nachdem sie ins Meer geworfen wurden, nicht aufschwimmen würden. Für den Fall, dass man sich, wenn es denn sein muss, von der Art der Befestigung und was danach offensichtlich mit den Körpern geschehen ist, überzeugen möchte, liegt ein Vergrößerungsglas bereit.

Die Gedenkstätte wirkt viel aufgeräumter, die Wege sind ordentlich markiert und beleuchtet – manches von der einstigen Schönheit der aus dem 19. Jahrhundert stammenden Villa ist wiederhergestellt worden, mit Wasserbecken und mehreren Springbrunnen. Zudem ist der Ort sowohl optisch als auch politisch in die Nachbarschaft integriert worden. Die umliegenden Häuser sind nun deutlich sichtbar. Sie wiederum dürften einen schönen Blick auf den „Park“ haben. Die Folterstätte ist domestiziert worden – die quälende Beklemmung, die ich mit Matta gespürt habe, ist einem Gefühl der Ruhe gewichen. Darin zeigt sich deutlich, wie sehr sich die Politik verändert hat. Mit der Anfang 2010, also im selben Jahr, erfolgten Eröffnung des neuen Museums der Erinnerung und der Menschenrechte in Santiago de Chile scheint die Zeit der Auseinandersetzung einer Phase der Akzeptanz und der Erinnerungsarbeit Platz gemacht zu haben. Als ich später einen Blick hinter die Gebäude werfe, sehe ich die einstigen noch handgemachten Materialien in einem Verschlag unter einer Plane verborgen auf einem Haufen liegen. Die Namen der Toten auf dem Schild, die uns daran erinnern, dass „Vergessen voller Erinnerung ist“ sind verwaschen. Erinnerung, so viel ist klar, ist auch voller Vergessen.

Auf meiner Runde fühle ich mich nun sehr allein, und wie zuvor frage ich mich, was ich hier zu suchen habe. So sehr Matta mich brauchte, um dabei zu sein (presenciar) und ihn zu begleiten (acompañar), sehe ich nun ein, wie sehr ich ihn brauchte, um erleben zu können, was die Villa Grimaldi bedeutete. Ich fingere auf den Knöpfen des digitalen Abspielgeräts herum und fühle mich, obwohl kein Mensch zu sehen ist, lächerlich mit den Kopfhörern auf dem Kopf. Es macht mich ungehalten, als die Stimme in einem sachlichen Ton von den politischen Vorgängen erzählt, die zur Schaffung dieses Folterzentrums geführt haben. Die Details, Namen von Generälen und Organisationen und so weiter, erdrücken mich. Ich sehe mich der „großen Geschichte“ gegenüber, vermisse aber einen menschlichen Maßstab.

Nahe daran, meine Kopfhörer abzunehmen, widerstehe ich doch und gehe weiter. Jedes Mal, wenn ein Audioabschnitt zu Ende ist, halte ich an, suche auf der Karte nach dem nächsten „Stopp“ und mache mich auf den Weg dorthin. Mit unverändertem Ton wird auf der Aufnahme von unvorstellbaren Grausamkeiten gesprochen und von einer Gefangenen wird mit einer Stimme berichtet, die sich wie die Edith Piafs ausnimmt, als sie sang, um die Folterschreie zu übertönen. Selbst wenn einschlägige Zeugenaussagen zitiert werden, ändert sich der Tonfall nicht. Auf meinem Weg macht die Stimme auf einen Rosengarten aufmerksam, der die Stelle bezeichnet, an dem die Folterer die Frauen vergewaltigten, ein Ort, der heute die weiblichen Opfer würdigt. Jede einzelne Pflanze des Gartens trägt einen Namen – auch das eine Art, den Terror zu individualisieren.

Ich nehme die Fakten auf, finde es aber schwierig, sie den Ereignissen und den Örtlichkeiten zuzuordnen. Die Stimme spricht nicht zu mir, und die Entkoppelung von Stimme und Erzähltem finde ich verstörend. Als könnten wir die verschiedenen Momente, Routinen und Örtlichkeiten auseinanderpflücken. Auch die Pausen zwischen den Abschnitten scheinen völlig andersgeartet zu sein als bei Mattas Schilderung. Sein Schweigen war voller Erinnerung. Gesicht, Körper und Stimmung übertrugen seine Denkprozesse und emotionalen Umschwünge. Mit den Pausen der Audioführung kann ich nichts anfangen – sie sind schlicht ein Nichts, noch nicht einmal Tonbandrauschen. Wenn das Vergessen und das Schweigen voller Erinnerung, voller Leben sind, schafft es die Audioaufnahme nicht, dieses Leben einzufangen. Der Stimme durch Villa Grimaldi folgend, fühlte ich mich zwar in der Pflicht, aber nicht wirklich eingebunden. Es war eine pädagogische Erfahrung; eine körperliche Übung im Nie-Wieder.

Was möchte diese Tour von mir? Die Stimme dankt für meinen Besuch. Sie erklärt, Villa Grimaldi sei eine materielle und symbolische Spur des staatlichen Terrorismus unter Pinochet. Die Erklärung stellt deutliche Bezüge zwischen der kriminellen Praxis und neoliberaler Wirtschaftspolitik her. Sie sagt, die Besichtigung sei ein Blick in die Vergangenheit. Gleichwohl „hoffen wir“ (sagt die damals noch anonyme Stimme), dass sie zum Nachdenken über die Gegenwart anregt und Ansporn ist, Menschenrechtsmissbrauch überall auf der Welt zu stoppen. Sollte ich mehr erfahren wollen, „besuchen Sie bitte die Website“ usw. Sogar eine Telefonnummer wird genannt.

Ich bringe die Kopfhörer zurück und frage die Frau am Tresen, ob sie etwas zu der Audioaufnahme sagen kann. Sie meinte, man habe eine junge Schauspielerin gewählt, die keine unmittelbare Verbindung mehr mit der gewalttätigen Vergangenheit habe und mit der sich die jüngere Generation besser identifizieren könne. Villa Grimaldi ist also kein Ort mehr, an dem es um Matta und Trauma und aufgeschobene Gerechtigkeit geht. Es geht darum, der nächsten Generation die Geschichte näherzubringen. Demnach also genau die Zukunft, die Matta in seiner Broschüre im Sinne hatte, als Überlebender aber ist er kein Teil mehr dieses neuen Moments. Die Erinnerung ist aktualisiert worden, und die Frontlinien verlaufen an anderer Stelle. Nachdem im März 2010 der rechtsgerichtete Sebastián Piñera zum Präsidenten Chiles gewählt worden war, haben die Villa Grimaldi und das Museum der Erinnerung fast die Hälfte ihres laufenden Budgets eingebüßt. Der Kampf hat sich von Neuem verschoben. Diese Orte sind noch immer umstrittene Orte, Orte umstrittener Gegenwart und umstrittener Vergangenheit.


2013: Das ist nicht derselbe Ort

Ich habe die Villa Grimaldi noch ein weiteres Mal besucht, dieses Mal mit Teresa Anativia, einer engen Freundin, die hier gefangen gehalten und gefoltert worden war. Sie kann weit offener über die Dinge reden, die Frauen an diesem Ort erleben mussten, und erzählte davon, wie sie und andere Überlebende zum ersten Mal wieder an den Ort zurückkehrten, nachdem er als Gedenkstätte wiedergewonnen war. Etwa 150 von ihnen trafen sich ihrer Erinnerung nach außen vor dem eisernen Tor, das zum letzten Mal geöffnet wurde. Die Überlebenden fielen sich in die Arme und weinten still. Sie entsann sich, dass bei der Umarmung alle die Augen geschlossen hielten. Sie hatten sich noch nie zuvor gesehen, nie zuvor ihre Stimmen gehört: „Die Stille eines Wiedersehens von Blinden, die einmal zusammen waren, sich aber nie gesehen hatten.“ Danach sahen sie sich auf dem Gelände um, das seinerzeit mit Brombeergestrüpp und Stacheldraht bedeckt war, und waren außerstande, etwas zu erkennen. „Wir sahen uns nach bestimmten Plätzen um und konnten sie nicht finden. Mir ist klar, dass ich sie nie mehr finden werde,“ resümierte Teresa. Das Tor wird für immer verschlossen bleiben.

Als wir zusammen die Villa Grimaldi besichtigten, fragte ich sie, ob es sie beunruhige, an diesen Ort zurückzukehren.

„Nein“, sagte sie, „der Ort ist nicht mehr derselbe.“

Dann, etwas später: „Aber meine Knochen tun weh.“

Das umgestaltete Gelände, die landschaftlich angelegten Gärten, Rosen, schöne Bäume, die Wasserbecken und der Pavillon hatten nichts mehr mit dem Ort zu tun, an dem sie gefoltert, vergewaltigt und ihrer Menschlichkeit beraubt wurde.

Jener „Ort“ bleibt in ihr; sie trägt ihn immer und überall mit sich.

Wie Matta hatte sie dort enorm viel verloren – eine gefolterte Frau verlor die Zwillinge, mit denen sie schwanger war. Teresa und Pedro räumten beide ein, nicht nur ihre Freunde, sondern auch einen Teil ihrer Menschlichkeit verloren zu haben, die Fähigkeit, anderen zu vertrauen. Ihre Körper haben sich verändert und tragen nun an den von der Folter verursachten Schmerzen und Brüchen bis ins Alter. Der Verlust und das Leiden an Verschleppung und Folter gehört einem Reich an, in dem die Trauer außer Kraft gesetzt ist. Niemand ist vor Gericht gestellt worden. Wie soll man unter solchen Umständen trauern? Die Menschen, die in der Villa Grimaldi ermordet wurden, sind auf der Website der Gedenkstätte aufgelistet und ihre Namen zudem in die Gedenkwand eingemeißelt, den Überlebenden hingegen wurde kein Platz eingeräumt. Der im Gefolge der Wahrheits- und Versöhnungskommission herausgegebene Rettig-Bericht listete nur die während des Pinochet-Regimes Verschwundenen und Ermordeten auf. Der Valech-Bericht, der 2004 von der Nationalen Kommission für politische Haft und Folter vorgelegt wurde, nannte schließlich auch diejenigen, die gefoltert und inhaftiert worden waren, sowie die Kinder der Verschwundenen. Der chilenische Staat verwendete diese Liste zur Entschädigung der Überlebenden, doch die Namen und Beschreibung der Umstände sind für fünfzig Jahre weggeschlossen und werden es so lange bleiben, bis die Täter_innen gestorben sind – Folter und Verschleppung wirkt sich, wie wir wissen, über Generationen auf die Opfer und ihre Familien aus.

Orte wie der Parque por la Paz Villa Grimaldi erinnern uns daran, was hinter diesen Mauern geschah. In ihrem Bestreben nach Frieden und Versöhnung transzendieren sie jedoch auch die Gewalt und das Leid. Der Park zeigt sich in einer restaurativen, weltbejahenden Geste. Ein Ort des Terrors, der Weltvernichtung für so viele Menschen, die durch Terranova hindurchgehen oder dort sterben mussten, kann er niemals mehr sein. Jenen Ort vermag ich mit meiner Kamera nicht festzuhalten. Pedro Matta kann ihn nicht für andere sichtbar machen. Teresa Anativia erkennt ihn nicht wieder. Doch wenn ich mit ihnen im Park unterwegs bin, spüre ich die Kraft dieses Ortes, ich fühle den Schmerz, den sie mit ihm verbinden, und ich begleite sie eine kurze Zeit lang bei ihrer langen, langen Reise auf der Suche nach Gerechtigkeit, Anerkennung und Erneuerung.


2016: Traumaübermittlung

Unsere Mobilizing Memory Arbeitsgruppe für die im Rahmen eines Performance Festivals vom Hemispheric Institute in Chile ausgerichtete Encuentro-Konferenz hatte letztes Jahr beschlossen, Villa Grimaldi zu besuchen. Ich bat Pedro Matta, für uns eine Führung zu machen. Nach anfänglichem Hin und Her über den Betrag, den wir ihm entrichten sollten, begrüßte er unsere fünfunddreißigköpfige Gruppe am Tor. Auch Teresa Anativia hatte sich uns angeschlossen. Wieder kam die Frage auf, in welcher Sprache er sprechen sollte. Die Gruppe entschied sich für Spanisch und ich erklärte mich bereit zu übersetzen.

Einmal mehr starteten wir mit dem Modell und ließen uns erklären, wie das Cuartel Terranovo funktioniert hatte, bevor wir mit unserem Rundgang begannen. Zunächst fiel mir die Übersetzung leicht – Matta teilte Fakten mit, und ich tat es ihm gleich. Hier ist das passiert – damals, mit jenen. Alles distanziert, alles in der dritten Person. Wir gingen zu dem verschlossenen Eisentor und dann zu den ersten Folterkammern. Wie bereits beim ersten Mal, begannen sich Mattas Pronomen langsam zu verschieben. „Sie folterten sie“ wurde zu „sie folterten uns“. Die Wörter nagten an mir. „Sie folterten uns“, sah ich mich genötigt zu sagen, „hier schnallten sie mich fest, befestigten Elektroden an meinen Genitalien, an meinen Schläfen, an allen Körperöffnungen. Unter dem Schock bäumte sich mein Körper auf. Ich schwitzte so sehr, dass ich Gefahr lief, mir selbst einen tödlichen Stromschlag zu verpassen.“

Beim Aussprechen dieser Worte begann mein Körper unbewusst die Gesten und Bewegungen Mattas nachzuahmen. Seine Pausen wurden auch meine Pausen. Mein Körper wurde zum Medium. Dies geschah schrittweise, unmerklich, je weiter wir in die Vergangenheit gerieten, die keine Vergangenheit war, der Folter nahekamen, die niemals aufgehört hatte oder verschwunden war. Ich verlor meine Distanz. Ich folgte ihm dorthin, an diesen Ort. Ich begleitete ihn, mein Stimme ein Echo der seinen. Gegen meinen Willen begann ich den Schmerz leibhaftig werden zu lassen. Ich fühlte, wie die Worte meinen Körper verletzten, wobei meine Verbitterung mit dem Aussprechen der Wörter wuchs. Warum ich? Warum lernen diese Leute kein Spanisch? Matta hielt seine Erzählung in einer unaufdringlichen, wenig dramatischen Tonlage. Ich bemerkte, die Wörter auf meinen Lippen, dass er keine Adjektive verwendete. Ich konzentrierte mich ganz auf das, was er erzählte, meine Sinne waren blockiert. Übersetzen wurde erst ein Interpretieren, dann ein Dabeisein, Identifikation mit dem, was er schilderte. Ich war nicht länger handlungsfähig – konnte nicht mehr interpretieren oder erläutern oder unterbrechen. Ich übersetzte weiter. Ich wollte dort nicht sein. Vielleicht aber kanalisierte ich auch sein Gefühl, eben dort nicht sein zu wollen.

Zorn wurde zu meinem Mittel der Distanzierung. Am Ende des Wegs händigte ich Matta das Geld aus und schwor mir, niemals wieder hierher zurückzukehren. Nie wieder! Er mag durchaus ein professioneller Überlebender sein, ich aber bin keine professionelle Beobachterin.

Und bin es, natürlich, doch!

 

Aus dem Englischen übersetzt von Dirk Höfer