Ein Ideal, oder wir werden alle sterben
von Abounaddara

Am 13. November wurde in Paris im Namen Gottes ein abscheuliches Verbrechen begangen. Die mutmaßlichen Mörder sind französische oder belgische Staatsangehörige, die sich weder mit den Menschen ihrer jeweiligen Nation, noch mit der Menschlichkeit identifizieren. Die richtige Reaktion auf diese Ereignisse ist Empörung, sind Fragen und Taten. Anstelle dessen jedoch verspricht man uns den Ausnahmezustand, Krieg und sogar noch mehr Grenzen.

Man hat demnach verfügt, dass das Böse von anderswo kommt; aus einem Land der bärtigen Männer mit Messern zwischen den Zähnen. Denn dort hätten sich die Mörder von Paris tatsächlich auf die Schlacht vorbereitet. Und in diesem Land schneiden ihre Komplizen die Kehlen von „Ungläubigen“ durch und prahlen damit auf YouTube. Wenn ihr es nicht glaubt, ehrliche Bürger, dann liegt das daran, dass euer Fernseher euch die brutale Wahrheit nicht zeigt: so ein angesehener französischer Philosoph, ausgezeichnet mit den Prix Bristol des Lumières, der forderte, man solle das von Daesh aufgezeichnete Kehlen–Durchschneiden zur besten Sendezeit ausstrahlen, damit „wir uns über die Wirklichkeit klar würden“.

Dieses Land der bärtigen Männer, das zufällig das unsere ist, ist ebenso wenig das „Land des Bösen“ wie Frankreich das „Land der Aufklärung“ ist. Wir, die wir es seit fünf Jahren tagtäglich filmen, wissen das nur zu gut. Schaut euch diesen Soldaten an, der seinem Feind die Kehle durchschnitt (https://vimeo.com/55082448), diesen bärtigen Mann, der mit ansehen musste, wie seinem Kameraden die Kehle durchgeschnitten wurde (https://vimeo.com/140283505), oder diesen anderen bärtigen Mann hier, der nicht mehr an menschliche Gerechtigkeit glaubt (https://vimeo.com/113070561). Alle sagen, dass das Böse hier genauso wenig unausweichlich sei wie anderswo auch. Es hängt nicht so sehr von einer Kultur oder Religion ab, sondern viel eher von einer Versuchung, der wir alle ganz unwillentlich nachgeben können.

Was nützen dann also Ausnahmezustand, Krieg und Grenzen? Das Böse findet man nicht in irgendeinem speziellen Gebiet, wo es auf uns wartet und wir es dann „mit der Wurzel ausreißen“ können. Darin sind sich die Führer der demokratischen Welt, sowie Wladimir Putin und Baschar al-Assad, als auch die Mörder selbst einig: jene versprechen, die „Perversion“ in Paris „auszulöschen“. Das Böse wohnt nicht zuletzt in einem solchen Diskurs der Beseitigung, der unsere gemeinsame Welt angreift; er greift die „Universelle“ Erklärung der Menschenrechte an, indem er zwei unversöhnliche Welten ausruft, die zwischen IHNEN einerseits und UNS andererseits unterscheiden. Diesem Diskurs kann man nun zur besten Sendezeit – zum Entzücken der Werbekunden für elektrische Haushaltsgeräte – in allen Medien der Welt lauschen (https://vimeo.com/116944509).

Angesichts dieses Feuers, das unsere gemeinsame Welt, in Syrien oder in Paris, bedroht, müssen wir mit einem neu erfundenen Ideal zurückfeuern. Ein Ideal, das unsere Brüder und unsere Kinder davon abhält, sich „vom Diesseits [loszusagen]“, wie es ihnen in dem Schreiben, in dem sich Daesh zu den Anschlägen von Paris bekannten, nahegelegt wurde. Der gemeinsamen Menschlichkeit ein neues Ideal, oder wir werden alle sterben.

—The Abounaddara Collective

PS: Ausgehend von einer solchen gemeinsamen Menschlichkeit wäre es zuvorderst angebracht zu verlangen, dass die Medien weltweit darauf verzichten, die Körper syrischer Opfer zu präsentieren; genau so, wie sie es auch bei ihren Reportagen über die Pariser Opfer gehalten haben, wo sie sich um der Würde willen in bemerkenswerter Zurückhaltung übten.

Aus dem Englischen von Andreas L. Hofbauer

Gepostet in Notizen am 20.11.2015
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