Das Parlament der Körper: Biafras Kinder: Eine Versammlung von Überlebenden

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Organisiert von Olu Oguibe zusammen mit Faith Adiele, Phillip U. Effiong, Okey Ndibe, Vivian Ogbonna, Obiageli Okigbo, E. C. Osondu und Emeka Okereke


Vor fünfzig Jahren, im Jahr 1967, brach ein erbittert geführter Bürgerkrieg im westafrikanischen Staat Nigeria aus, der gerade erst seine Unabhängigkeit erlangt hatte. Dieser Krieg löste eine der größten humanitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts aus. Der Biafra-Krieg dauerte dreißig Monate und forderte schätzungsweise drei Millionen Menschenleben, vor allem Kinder, die an Unterernährung und Hunger starben, nachdem Nigeria ein totales Embargo gegenüber der Bevölkerung Biafras verhängt hatte, die einen eigenen, sicheren Staat forderte. Im Jahr zuvor waren zehntausende Menschen, die aus Biafra stammten, bei Pogromen mit dem Ziel der ethnischen Säuberung in mehreren nigerianischen Provinzen ermordet worden. Das zwang schätzungsweise zwei Millionen Überlebende dieser Gewaltexzesse, das Land ihrer Vorfahren im damaligen Osten Nigerias zu verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Die daraus resultierende humanitäre Krise und fortgesetzte Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung Biafras führte schließlich dazu, dass Biafra seine Unabhängigkeit von Nigeria proklamierte, woraufhin Nigeria dem abtrünnigen Staat den Krieg erklärte.

Das Sterben und die Gräueltaten in Biafra erregten weltweite Empörung. Das Gleiche galt für das stillschweigende Einverständnis der Weltmächte, insbesondere Großbritanniens und der Sowjetunion, die Bevölkerung von Biafra zu unterdrücken und deren Überlebenskampf zu erschweren. Im Jahr 1968 starben täglich schätzungsweise 6000 Menschen in Biafra, vor allem hungernde Kinder. Fotografien von unterernährten Kindern in Biafra mit ihren aufgedunsenen Bäuchen prangten auf den Titelblättern der Nachrichtenmagazine und waren in den Abendnachrichten in aller Welt zu sehen. John Lennon gab aus Protest seinen Orden „Member of the British Empire” an die Königin zurück, und Jean-Paul Sartre beschrieb Biafra als das Gewissen des 20. Jahrhunderts. Selbst Winston S. Churchill, der Enkel des großen Premierministers, schrieb eine Reihe von Zeitungsbeiträgen, in denen er die Lage in Biafra verurteilte. Auf der ganzen Welt organisierten Studenten Protestveranstaltungen, Sit-ins vor Botschaften und sogar einen Hungerstreik in Norwegen. Am 29. Mai 1969 verbrannte sich Bruce Mayrock, ein zwanzig Jahre alter Student der Columbia University in New York, vor dem Gebäude der Vereinten Nationen, um dagegen zu protestieren, dass der UN-Generalsekretär U Thant keine Maßnahmen ergriff, den Krieg und den Genozid in Biafra zu stoppen. Mayrock erlag einen Tag später seinen Verbrennungen. Musiker wie Jimi Hendrix und Joan Baez gaben Konzerte, um Biafra ins Bewusstsein zu rücken und Spenden zu sammeln. Eine Gruppe junger französischer Ärzte, die freiwillig nach Biafra gegangen war, gründete später die gemeinnützige Organisation Ärzte ohne Grenzen (Médecins sans Frontières) als Reaktion auf das menschliche Leid, dessen Zeugen sie dort geworden waren.

In diesem Sommer versammeln sich erstmals überlebende Kinder des Biafra-Kriegs zwei Tage lang, vom 30. Juni bis 1. Juli 2017, in Athen. Im Rahmen der documenta 14 teilen die Überlebenden ihre Geschichten und erinnern sich, wie sie diese gewaltige Tragödie und die Traumata des Kriegs, der Vertreibung, der Trennung von Familien, Tod und Hungersnot durchlebten. Sie erzählen ihre Geschichten des Überlebens, die der Resilienz des menschlichen Geists geschuldet sind, und berichten von der humanitären Intervention von Menschen aus aller Welt, die Hilfsgüter nach Biafra geschickt oder Flüchtlingskindern aus Biafra ihre Türen geöffnet haben.

Biafra ist heute nach wie vor relevant, nicht nur weil es für den nahezu aussichtslosen Kampf eines verfolgten Volkes in seinem Ringen um Selbstbestimmung und einen eigenen Staat steht, sondern auch weil die humanitäre Katastrophe sich in der Not der Geflüchteten spiegelt, die heute ähnliche Krisengebiete in Syrien und dem gesamten Mittleren Osten verlassen, um in Europa und anderen Teilen der Welt einen sicheren Hafen zu finden. Die Zeugenaussagen der überlebenden Kinder aus Biafra führen uns abermals die humanitären Kosten des Krieges vor Augen. Allein die Präsenz und das Überleben dieser Frauen und Männer, von denen einige heute selbst Kinder haben, machen deutlich, wie humanitäre Interventionen Generationen retten und Nationen bewahren können.

Die Veranstaltung wurde von Olu Oguibe organisiert, einem der überlebenden Kinder, dessen archivarische Meditation zu diesem Krieg unter dem Titel Biafra Time Capsule bis zum 16. Juli 2017 im EMST—National Museum of Contemporary Art zu sehen ist.


Faith Adiele ist Autorin von The Nigerian-Nordic Girl’s Guide to Lady Problems sowie der Memoiren Meeting Faith, für die sie mit dem PEN Award ausgezeichnet wurde. Ebenso ist sie das Thema der öffentlich-rechtlichen Fernseh-Dokumentation My Journey Home und Mitherausgeberin von Coming of Age Around the World: A Multicultural Anthology. Sie hat eine Professur am California College of the Arts inne und ist Gründerin des African Book Club.

Philip U. Effiong ist Associate Professor für Englisch an der Michigan State University. Er promovierte in Theaterwissenschaften an der University of Wisconsin in Madison. Er hat Literatur, kreatives Schreiben und Geschichte an verschiedenen Universitäten in Nigeria, Ghana und den USA unterrichtet. Er veröffentlichte eine Monografie zum afrikanisch-amerikanischen Theater und publiziert Essays und Aufsätze in vielen Zeitschriften und Enzyklopädien. Effiongs Vater, General Philip Effiong, war Biafras letztes Staatsoberhaupt.

Okey Ndibe ist Autor der Romane Foreign Gods, Inc. und Arrows of Rain sowie der Memoiren Never Look an American in the Eye: Flying Turtles, Colonial Ghosts, and the Making of a Nigerian-American und ist außerdem Mitherausgeber der Anthologie Writers Writing on Conflicts and Wars in Africa. Er hat an mehreren US-amerikanischen Universitäten unterrichtet, u. a. an der Brown University.

Vivian Ogbonna ist Innenausstatterin und Autorin. Seit Januar 2017 führt sie Interviews mit Überlebenden des Nigeria-Biafra-Kriegs: mit Männern, Frauen und Kindern, die unmittelbar Opfer des Konflikts waren und die in der Mehrzahl über keine Plattform verfügen, auf der sie ihre Geschichte erzählen können. Ogbonna dokumentiert diese Berichte auf dem Blog mybiafranstoryweb.wordpress.com, von dem sie hofft, dass er sich zu einer Datenbank für Erinnerungen, Zeugenaussagen und Erfahrungsberichten aus dem Krieg entwickelt.

Olu Oguibe nimmt als Künstler an der documenta 14 teil. Er hat über seine Kindheitserinnerungen in Biafra geschrieben. Seine Archiv-Installation Biafra Time Capsule ist derzeit im National Museum of Contemporary Art (EMST) in Athen zu sehen.

Emeka Okereke ist ein bildender Künstler und Autor, der in Lagos und Berlin lebt. In seinen jüngsten Werken untersucht er das Thema „Grenzen“ mithilfe von Fotografie, zeitbasierten Medien, Lyrik und performativen Interventionen. Außerdem ist er künstlerischer Leiter des Invisible Borders Trans-African Project.

Obiageli Okigbo ist eine in Brüssel lebende Künstlerin. Im Jahr 1967 starb ihr Vater, Christopher Okigbo, der weithin als der größte afrikanische Dichter des 20. Jahrhunderts gilt, an der Front in Biafra. Im Jahr 2005 gründete sie zu seinem Gedenken die Christopher Okigbo Stiftung. Obiageli Okigbo hatte Ausstellungen u. a. in Brüssel, London, Dubai und Lagos.

E. C. Osondu ist Autor des Kurzgeschichten-Bandes Voice of America sowie des Romans This House is Not For Sale. Er wurde mit dem Caine Prize und dem Pushcart Prize ausgezeichnet. Seine Bücher wurden in mehr als ein halbes Dutzend Sprachen übersetzt. Osondu ist Associate Professor für Englisch am Providence College in Rhode Island, USA.

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