Tom Seidmann-Freud
(1892–1930)

Tom Seidmann-Freud, ausgewählte Zeichnungen, Fotografien und Bücher, 1902–1930, Installationsansicht, Grimmwelt Kassel, Kassel, documenta 14, Foto: Liz Eve

Die Malerin, Illustratorin und Kinderbuchautorin Tom Seidmann-Freud wurde als Martha-Gertrud Freud in eine gutbürgerliche jüdische Familie im Wien des neunzehnten Jahrhunderts geboren. Die Mutter Mitzi (Marie) war die Schwester von Sigmund Freud, dem „Vater der Psychoanalyse“. Mit Ende fünfzehn, nachdem die Familie von Wien nach Berlin gezogen war, änderte sie ihren Namen in Tom und begann, auch gelegentlich Männerkleidung zu tragen.

1911 begleitete Freud ihren Vater nach London um Kunst zu studieren. Während ihrer Studienzeit schrieb und illustrierte sie zwei Bücher, Wölkchen und Der Garten des Leidens. Nach ihrer Rückkehr nach Berlin schrieb sich Freud in der Unterrichtsanstalt des Königlichen Kunstgewerbemuseums ein, wo sie mit Grafikdesign, Zeichnung, dekorativer Malerei, und den Drucktechniken Holzschnitt, Lithographie und Radierung experimentierte. Ihr erstes wichtiges Buch Baby Liederbuch wurde 1914 veröffentlicht, von ihr stammten darin sowohl Text wie Illustrationen. Während des Ersten Weltkriegs blieb Freud in Berlin und arbeitete an Entwürfen für zwei weitere Bücher: Das neue Bilderbuch (München 1918) und David der Träumer (Boston 1922).

Kurz nach dem Ersten Weltkrieg zog Freud nach München, wo ihre Schwester Lilly lebte. Sie arbeitete als Malerin und wurde schnell Teil eines Zirkels lokaler Künstler_innen und Intellektueller, darunter der Philosoph Gershom Scholem und der Autor Shmuel Yosef Agnon.

In einem Kapitel seiner Autobiografie erinnert sich Gershom Scholem an diese Zeit:

„Am Ende des Korridors der Wohnung in der Türkenstraße, in die nach dem Weggang von Heinz Pflaum nach Heidelberg Escha Burchhardt zog, hauste ihrem Zimmer gegenüber die Zeichnerin und Illustratorin Tom Freud, eine Nichte Siegmund(!) Freuds, auch sie eine der unvergesslichen Figuren jener Jahre. Sie war von fast schon pittoresker Hässlichkeit, im Gegensatz zu ihrer etwas älteren Schwester Lilly Marlé, der Frau des Schauspielers Arnold Marlé, die oft zu ihr kam. Die beiden Marlés gehörten zum Ensemble der Kammerspiele und traten auch oft, besonders bei jüdischen Veranstaltungen, als Rezitatoren auf. Lilly war eine Schönheit hohen Grades und sah aus, wie die zeitgenössischen Maler und Radierer sich gern die Titelheldin des biblischen Buche Ruth dachten. Tom war eine ans Geniale grenzende Illustratorin von Kinderbüchern, zum Teil auch deren Verfasserin.“
Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem: Jugenderinnerungen. Erweiterte Fassung (Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag, 1994), S. 158–59.

1921 heiratete Freud den Schriftsteller Yankel Seidmann. Sie gründeten zusammen einen Verlag für Kinderbücher, Peregrin (vom Lateinischen Peregrinos, was soviel wie „Fremder“ oder „aus einem anderen Land“ bedeutet – ein Titel, der im Römischen Reich Menschen bezeichnete, die keine Bürger Roms waren).

1922 ertrank Toms jüngerer Bruder Theodor, dem sie sehr nahe stand, im Mäckersee nördlich von Berlin. Der Tod war ein großer Schock für Tom und veränderte ihr Leben. Während dieser Zeit arbeitete sie an dem ersten Buch für den neu gegründeten Verlag mit dem Titel Die Fischreise. Es erzählt die Geschichte eines Jungen namens Peregrin, der einschläft und davon träumt, von einem Fisch auf eine Unterwasserreise zu einem utopischen Land genommen zu werden, wo alle Menschen friedlich zusammenleben und kein Kind arm oder hungrig ist. Das Buch war Theodor gewidmet.

Im selben Jahr, in dem Die Fischreise veröffentlicht wurde, lernten die Seidmann-Freuds Hayim Nahman Bialik (1873–1934) während einer seiner Reisen nach Berlin kennen.

Bialik, einer der prominenten hebräischen Dichter und Übersetzer jener Zeit, war im Rahmen der Gründung einer modernen hebräischen Gesellschaft in Palästina auf der Mission, hebräisch sprechende Kinder an die Weltliteratur heranzuführen. Von der Arbeit der Seidmann-Freuds beeindruckt, war Bialik sehr daran interessiert, mit dem Paar zusammenzuarbeiten, und sie mit ihm. Es wurde ein neues Verlagshaus namens Ophir (nach dem biblischen Land aus dem das Gold zum Bau des Tempels Salomons kam) zur Übersetzung von Kinderbüchern ins Hebräische gegründet.

Zu dieser Zeit hatte sich der künstlerische Stil der Seidmann-Freuds bereits verändert. Der ornamental-dekorative Jungendstil wich zugunsten einer gerade entstehenden Neuen Objektivität, die sich durch leichte, gerade Linien und delikate, beinahe transparente jedoch leuchtende Farben auszeichnete.

Der neue Stil entsprach Bialiks Vision. So wurde zum Beispiel Kleine Märchen (1921), eine Sammlung von Märchen der Brüder Grimm und Hans Christian Andersens, ins Hebräische übersetzt und 1923 unter dem Titel Esser Sihot Liy’ladim (Zehn Kindergeschichten) veröffentlicht, wobei Toms Zeichnungen die Landschaften an die des Mittelmeerraums anpassten. Diese Übersetzung bedingte nicht nur einen Stilwechsel sondern auch eine inhaltliche Veränderung; die Texte bekamen eine jüdisch-sozialistische Note. Zudem wurde die Figuration in der deutschen Ausgabe abstrakt und weniger expressiv, der Unterschied zwischen Mädchen und Jungen wurde beinahe komplett aufgehoben.

Die Seidmann-Freuds setzten ihre Arbeit an verschiedenen Projekten fort, sie veröffentlichten das Buch der Hasengeschichten (1924), innovative “interaktive” Bücher wie Das Wunderhaus (1927) und Das Wunderboot (1929), sowie eine Reihe pädagogischer Kinderbücher, die moderne methodologische Ansätze des Lesens, Schreibens und Zählens einführten, etwa in „Hurra, wir lesen! Hurra, wir schreiben!“ (Spielfibel, Nr. 1, 1930). Ein Bewunderer der Spielfibel war der Philosoph, Kulturkritiker und Autor Walter Benjamin (1829–1940), der etliche lobende Artikel über den pädagogischen Ansatz der Seidmann-Freuds veröffentlichte.

“[D]er Gedanke, die Fibel spielhaft aufzulockern, ist alt und der neueste und radikalste Versuch, die nachgelassene Fibel der Seidmann-Freud, steht nicht außerhalb pädagogischer Überlieferung. Wenn dennoch etwas dies Elementarbuch aus der Reihe aller bisherigen hebt, so ist es die seltene Vereinigung gründlichsten Geistes mit der leichtesten Hand. Sie hat die geradezu dialektische Auswertung kindlicher Neigungen im Dienste der Schrift ermöglicht. Grundlage war der ausgezeichnete Einfall, Fibel und Schreibheft zusammenzulegen. Selbstvertrauen und Sicherheit werden in dem Kinde erwachen, das seine Schrift- und Zeichenproben zwischen diesen beiden Buchdeckeln anstellt. Der Einwand: aber hier ist ja kein Platz, liegt freilich nahe. Und in der Tat ist es gar nicht möglich, Schreiben auf dem hier ausgesparten Raum – so reichlich er auch bemessen ist – zu erlernen. Aber wie klug ist das!”
Walter Benjamin, “Chichleuchlauchra. Zu einer Fibel,” Frankfurter Zeitung, 13. Dezember 1930.

Doch die Zusammenarbeit mit Bialik funktionierte nicht, und Ophir musste geschlossen werden. Angesichts großer finanzieller Schwierigkeiten im Laufe der Wirtschaftskrise von 1929 nahm sich Yankel Seidmann im Oktober 1929 in einem Moment großer Verzweiflung das Leben. Zutiefst mitgenommen vom Freitod ihres Mannes verfiel auch Tom schnell und nahm sich nur vier Monate später das Leben. Sie wurde nur siebenunddreißig Jahre alt.

Eine Kiste mit ihrem Gesamtwerk – Skizzen, Zeichnungen, Farbtests und Notizen – wurde von ihrer Schwester Lilly aufbewahrt und blieb für fast fünfzig Jahre verschlossen und vergessen. Nach Lillys Tod 1978 wurde die Kiste an Tom und Yankels Tochter geschickt, die in Israel lebte und ihren Namen von Angela in das hebräischere Aviva geändert hatte. Die Entdeckung ihres Inhalts gab der Tochter nochmals die Chance, den stillen, intimen Zeichnungen ihrer Mutter nachzuspüren.

Die Präsentation des Materials ist dem Andenken an Aviva Harari (Seidmann), 1922–2011, gewidmet.

Courtesy der Enkel_innen von Tom Seidmann-Freud, Amnon Harari, Ayala Drori und Osi Gerim, Israel.

Gepostet in Öffentliche Ausstellung